Adolphe Clément baute zunächst Fahrräder, dann Autos. Ein solches stellte er 1905 am ersten Genfer Autosalon vor. In den folgenden fast 120 Jahren feierten in der Rhônestadt Hunderte anderer Modelle Weltpremiere. Viele wurden zu Legenden. Doch der Genfer Autosalon war weit mehr als eine Autoshow. Jetzt ist Schluss.
«Mon dieu, jetzt kommen sie wieder, die Deutschschweizer», sagten die Romands. Sonderzüge aus St. Gallen, Basel, Zürich und Bern brachten Tausende Besucherinnen und Besucher nach Genf. Andere verstopften die Autobahn. Die Genfer Hotels und Restaurants, die noch schnell ihre Preise erhöhten, quollen über. Nicht nur das Schweizer Fernsehen brachte Sondersendungen.
Der Genfer Autosalon erlebte goldene Zeiten, Hunderttausende strömten jeweils ans westliche Ende des Lac Léman. 2005 wurde ein Besucherrekord erzielt. Damals, während der 75. Ausgabe des Salons, verzeichneten die Organisatoren 748’000 Eintritte. Die 250 Aussteller kamen aus 30 Ländern und präsentierten fast tausend Modelle.
Wer Rang und Namen hatte, musste sich am Genfer Auto-Festival blicken lassen: Ein Bundesrat oder eine Bundesrätin waren immer dabei – Parlamentarier, Staats- und Regierungsräte, CEOs, Wirtschaftskönige, Designer, Künstler, viele Missen, Sportlerinnen und Sportler, Formel-1-Rennfahrer, Sternchen und Schlagersänger.
Ein deutscher Soziologe kam jedes Jahr nach Genf. Er schrieb eine Arbeit über die «Faszination des Autos» und machte Dutzende Interviews mit Salonbesuchern. Ob seine Arbeit je veröffentlicht wurde, ist nicht bekannt. Er kam jeweils mit dem Zug nach Genf, da er Autos hasste.
Akkreditiert waren jeweils auch Hunderte Journalisten und Journalistinnen aus aller Welt. 2006 waren es 5000 aus 80 Ländern. Die Zeitungen publizierten oft seitenlange farbige Beilagen, in denen die Weltneuheiten vorgestellt wurden.
Prostituierte aus Frankreich
Hunderte Prostituierte aus dem nahen Frankreich, vor allem aus Annemasse, reisten an – und verdienten gut. Genfer stellten ihnen Zimmer und Wohnungen für 16 Tage zur Verfügung. So lange dauerte jeweils der Autosalon. Die Prostituierten verdienten, und die Genfer verdienten an den Prostituierten. Viele der Frauen hingen in den Hotelbars herum, wo sie rasch fündig wurden.
Die Auto-Schau war auch eine «Fleisch-Schau», wie Feministinnen argwöhnten. Vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren wurden die neuen Autos von leicht bekleideten Hostessen präsentiert. Sie, meist blond mit High Heels, räkelten sich, minibejupt, auf den blank polierten Kühlerhauben. Das rief dann im Laufe der Jahre Proteste von Feministinnen hervor.
Neandertaler, die Fleisch brauchen
2011 forderte die damalige Genfer SP-Bürgermeisterin Sandra Salerno die Abschaffung der Hostessen. Salerno ist keine Auto-Freundin. «Autos verschmutzen, sind teuer, machen Lärm, sind gefährlich und verstopfen die Strassen», erklärte sie der Lausanner Zeitung «Le Matin». Und: «Ich verstehe diesen Mythos rund um die Hostessen, die Kunden anlocken sollen, nicht. Entweder denkt man hier in sexistischen Kategorien, oder man beleidigt den Autointeressierten.» Und weiter: «Das muss ein Neandertaler sein, der Körperfleisch braucht, um sich für ein Auto zu interessieren?» Die Kampagne hatte Erfolg, zumindest teilweise. Viele Hostessen, meist Studentinnen, traten in den letzten Jahren in Hosen und Sneakers auf.
Die einzelnen Automarken konnten Ausstellungsflächen mieten. Die grossen Marken mieteten viel, die kleinen weniger. In den Siebziger- und Achtzigerjahren hatte man noch Geld. Die einzelnen Marken übertrafen sich – vor allem am VIP-Tag – mit pompösen Einladungen für exquisite Gäste. Da wurde Champagner, Kaviar und Lachs serviert. Auch Journalisten wurden ab und zu eingeladen, die sich dann den Bauch vollschlugen.
Natürlich kamen auch viele ausländische Besucher, immer mehr auch aus den Golfstaaten. In den Hotels, im Intercontinental im Uno-Quartier oder im Hilton am See mieteten sich Scheichs mit ihren Harems ein – oft mit je 10 bis 20 Frauen. Immer wieder kreuzten dann ganze Scheichfamilien an der Automesse auf. Zugeschleierte Frauen streichelten dann die Limousinen der Ferraris, Rolls Royces und Jaguars. Doch mit den Jahren liessen die Scheichs ihre Frauen in den Hotels. Vielleicht, so mutmasste ein Genfer Journalist, wegen der damals leicht bekleideten Hostessen, die man den Frauen der Scheichs nicht zumuten mochte.
Rückblick
Bis 1982 wurde der Autosalon in einem ältlichen Gebäude in der Genfer Innenstadt organisiert.
Anfang der Achtzigerjahre wurden die Ausstellungshallen im Zentrum der Stadt beim Plainpalais zu eng. 1982 zog man ins neu gebaute Palexpo beim Flughafen um – in ein riesiges Messezentrum mit einer Ausstellungsfläche von 102’000 Quadratmetern und mit Anbindung an die Autobahn A1, die SBB und den Flughafen Cointrin. Tausende Parkplätze stehen zur Verfügung.
Dieses Messezentrum steht nun weitgehend leer. Als Austragungsort für den nächstjährigen Eurovision Song Contest (ESC) bietet sich das Palexpo mit vielen Vorteilen an.
«Eine Milliarde wert»
Die Genfer Automesse war einer der bedeutendsten Wirtschaftsfaktoren für die Schweiz. Alain Borner, der damalige Genfer Staatsrat und Wirtschaftsminister, sagte Anfang der Achtzigerjahre in einem Tagesschau-Interview: «Der Salon festigt den Wirtschaftsstandort Schweiz, strahlt weit ins Ausland aus, und ist insgesamt über eine Milliarde Franken wert.»
Nicht alle Genfer und Genferinnen fanden die Invasion der Deutschschweizer toll. Während der «schrecklichen 16 Tage», wie sie sagten, blieben viele zuhause, keine Restaurants, keine Bars. Denn diese wurden jetzt von oft angetrunkenen und pöbelnden Deutschschweizern besetzt.
Hat der Genfer Autosalon etwas zur «Völker»-Verständigung zwischen den Deutschschweizern und den Romands beigetragen? Nicht immer.
Deutschschweizer Barbaren
Vor allem dann nicht, wenn Deutschschweizer Salonbesucher grölend durch die Innenstadt zogen und junge Genfer Frauen anmachten. Oft trafen sich die Deutschschweizer während des Salons in der «Clémence», einer Bar am Bourg-de-Four in der historischen Genfer Altstadt. Sie betranken sich und zogen dann grölend durch die Gassen und rissen die Genfer Hautevolee, die hier wohnt, aus dem Schlaf.
Einmal, so berichtete damals die (nicht mehr existierende) Zeitung «La Suisse», riss eine Frau das Fenster auf und rief in die Gasse: «Seid ihr eigentlich Barbaren, ihr Deutschschweizer, verpisst euch! Allez vous faire foutre.» Da die meisten dieser Barbaren kein Französisch sprachen, grölten sie weiter.
Doch das waren Ausnahmen. Die meisten Besucher und Besucherinnen kamen ohnehin nur für einen Tag: Am Morgen mit dem Zug oder Auto – und abends weg.
Einige kamen, weil sie wirklich ein Auto kaufen wollten, weil sie es anfassen und fühlen wollten. Andere kamen, um zu träumen, um einmal in einem Bentley oder einem Lamborghini zu sitzen. Der Genfer Salon war auch eine Traumfabrik. Es war die Zeit als der «Fetisch Auto» noch gefeiert wurde.
Und die Knaben. Viele träumten von den neuen Autos und wurden von ihren Vätern nach Genf geführt. Sie standen dann mit glänzenden Augen vor den glänzenden Karossen. Bekannt ist eine Geschichte, die besagt, dass ein Vater seinen Sohn «krankheitshalber» aus der Schule nahm und ihn mit dem Zug an den Autosalon brachte. Als Geburtstagsgeschenk.
Der Genfer Autosalon war weltweit eine der wichtigsten Automobilfachmessen – eine Zeit lang sogar die wichtigste. Einzig der Pariser Salon, die Tokyo Motor Show und die Detroit Auto Show konnten da mithalten.
Klima-Aktivisten, auch damals
Heute müssen sich Autoshows einigeln. Klimaschützer besprayen die Wände und kleben sich an den Eingängen fest. Die Genfer Polizei war bei der letzten Ausgabe des Salons gewappnet. Befürchtet wurde, dass die Montblanc-Brücke, der wohl wichtigste Verkehrsknotenpunkt in Genf, von Klima-Klebern belagert würde. Es kam nicht dazu.
Klima-Aktivisten gab es schon immer. In Genf kämpften sie schon vor bald 120 Jahren gegen die Autos. 1907 musste die Genfer Automesse in die Deutschschweiz verlegt werden. In Genf hatte sich virulenter Protest gegen die «Auto-Seuche» breitgemacht. Ursache waren einige tödlich Unfälle. So fürchtete man Ausschreitungen und zog für ein Jahr nach Zürich. Die Genfer Auto-Hasser waren die ersten schweizerischen Klima-Aktivisten.
Und jetzt ist alles aus
Und jetzt: Vollbremsung. Es geht nicht weiter. Den Genfer Autosalon gibt es nicht mehr. Das Ende, das am letzten Freitag von den Organisatoren verkündet wurde, hatte sich abgezeichnet. Seit 2009 sank die Zahl der Besucher und Aussteller. Während der Corona-Pandemie fand kein Autosalon statt. Zu schaffen machte den Genfern die ausländische Konkurrenz. Automessen finden auch in Paris, München, Dubai, Peking, Schanghai und anderswo statt. Nächstes Jahr ist eine grosse Schau in Katar geplant.
Während in den goldenen Jahren bis zu fast 300 Aussteller in Genf ihre Erzeugnisse zeigten, waren es während des letzten verkürzten Salons, der vom 26. Februar bis 3. März stattfand, noch 30. Von grossen, traditionellen Marken war nur noch Renault dabei, der seinen «R 5 E-Tech electric» als Weltneuheit präsentierte. Auch die Chinesen mit ihrem Elektro-BYD waren präsent, ein Auto, das es in der Schweiz (noch) nicht gibt.
Vielleicht ist der Salon auch ein Opfer des Internets. Im Netz kann man sich anhand aufwendiger Videos einen Überblick über die neusten Kreationen verschaffen. Und so muss man nicht auf verstopften Autobahnen oder in ebenso verstopften Zügen nach Genf fahren und eine 25-Franken-Eintrittskarte lösen.
Vielleicht werden auch die anderen Autosalons überflüssig. Jedenfalls gehen auch bei anderen Automessen, so in Paris und München, die Besucherzahlen und das Interesse der Aussteller zurück.