Jibril stand einer grossen Koalition vor. Diese „Nationale Allianz-Partei“ bestand aus fast 70 Parteien und 250 NGOs.
Jibril war der Leiter und international bekannte Unterhändler des libyschen Aufstandes. Als Vorsitzender der Regierung des Nationalen Übergangsrates in Benghazi hat er den Kampf gegen Ghadhafi geleitet. Er hatte diese Position im März aufgegeben, um sich ganz dem Aufbau seiner grossen Koalitionspartei zu widmen, um - wie er es formulierte "den Libyern im ganzen Land zuzuhören".
Er hat bei den Wahlen in der Hauptstadt seines Landesteils, Benghazi, nicht weniger als 95 Prozent der Sitze erhalten, die für die Parteilisten reserviert waren. Auch in den ärmeren Vierteln von Tripolis errang seine Allianz entscheidende Siege. Von allen grossen Bevölkerungszentren hat nur in der Stadt Misrata ein lokaler Politiker mehr Stimmen erhalten als die Allianz Jibrils.
Die Aussenstehenden wissen nicht viel über islamische Länder
Dass die Erwartung der ausländischen Beobachter hinsichtlich eines "islamischen" Sieges nicht zutraf, bedarf der Erklärung. Die Aussenstehenden pflegen nicht sehr viel mehr über islamische Länder zu wissen, als eben dass sie "islamisch" sind. Dies färbt immer wieder ihre Wahrnehmung.
Doch diese Sicht ist dermassen vereinfacht, dass sie mehr falsch als richtig ist. Gewiss, der Islam ist eine Realität, aber eine Realität plastischer Natur. Zahlreiche andere Faktoren spielen in den verschiedenen Ländern auch eine wichtige Rolle: die Regionen, die Wirtschaftssysteme, die Sozialgefüge usw. Diese prägen ihrerseits "den Islam". So wird er denn auch in den unterschiedlichen Milieus, Ländern, sozialen und geografischen Umfeldern unterschiedlich verstanden und aufgefasst.
Organisation vor Religion
Zwei Unterschiede zwischen einerseits Tunesien und Ägypten und andrerseits Libyen, drängen sich auf. Zum ersten die Frage der Organisation. In Tunesien und Ägypten gab es keine politische Organisation, die dem Netzwerk der islamischen Organisationen hätte Konkurrenz machen können. Die neu gebildeten Parteien waren verzettelt in Dutzende von Kleingruppen. Ihre Chefs glaubten alle, sie könnten die Wahlen gewinnen. In der Bevölkerung aber waren sie kaum bekannt.
Im Gegensatz zu diesen Kleinparteien gibt es die islamisch gefärbten Gruppierungen der Nahda-Partei und der Muslimbrüder. Diese haben einen jahrzehntelangen politischen Kampf gegen die jetzt abgesetzten Diktatoren und ihre Aktivisten geführt – ein Kampf, in dem sie Erfahrung gesammelt haben und der sie geprägt hat.
In Libyen aber war es Jibril gelungen, eine weite Koalition zu schmieden. Alle Libyer konnten sich auf ihn berufen, denn er war allen als Chef der nationalen Erhebung gegen Ghadhafi bekannt. So konnte er ein Netzwerk aufbauen, das ganz Libyen umfasste.
Gespaltene Islamisten
Den libyschen Islamisten war es umgekehrt nicht gelungen, unter einem gemeinsamen Schirm zusammenzufinden. Sie traten als konkurrierende Gruppierungen auf, die sich alle auf "den Islam" beriefen.
Ihre Spaltungen hängen mit der Geschichte Libyens und mit seiner Geografie zusammen. Im zähen, aber einseitigen Kampf gegen Ghadhafi gab es im Geheimen operierende islamische Gruppen, die in verschiedenen ländlichen und städtischen Milieus ihre Wurzeln hatten.
Doch diese Ortschaften und Kulturlandschaften Libyens sind unter sich weit getrennt durch gewaltige Wüsten. Die klandestinen Gruppen waren nicht in der Lage, über diese Wüstenräume hinweg zusammenfassende Netzwerke zu flechten. Der Staat beherrschte und kontrollierte das Telefonnetz und die grossen Verbindungsstrassen, die die Wüsten durchqueren.
So gab es denn Islamisten der Cyrenaika, solche von Misrata in Tripolitanien, noch andere in Fezzan oder in den westlichen Bergen des Jebel Nafous. Jede Gruppe war durch Hunderte von Wüstenkilometern von der anderen getrennt. Eine jede hatte ihren eigenen Anführer. Diese verbreiteten ihre eigene Auffassung vom Islam und ihre eigene Ideologie-Variante. Sie zogen getrennt in die Wahlen. Die Wahlergebnisse zeigen jetzt, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung nicht ihnen sondern dem "weltlicheren" Netzwerk Jibrils die Stimme gab.
Heilserwartung
Der zweite Hauptgrund hängt mit dem ersten zusammen: Ägypten und Tunesien sind arme Länder mit grosser arbeitsloser Bevölkerung. Sie sieht keine realistische Möglichkeit, bald aus dem Elend heraus zu kommen. Vom Leben auf der Erde kann man also nicht viel Materielles erwarten. Deshalb spielt die religiöse Heilserwartung eine dominierende Rolle
“Wir sind alles reiche Leute“
In Libyen liegt das ganz anders. Die ganze Bevölkerung weiss: "Wir sind potenziell alles reiche Leute, Ölmillionäre, so wie die Bewohner von Kuwait! Es käme nur darauf an, eine Regierung zu finden, die uns von diesem Reichtum profitieren lässt. Das sind andere Aussichten als die rein religiösen "metaphysischen" Hoffnungen.
Es gibt fromme Leute, denen an diesen jenseitigen Hoffnungen mehr liegt, als an allen materiellen Aussichten. Doch in Libyen ist es genauso wie bei uns. Auch in einem "islamischen" Staat, haben die materiellen Aussichten und Hoffnungen grosses Gewicht, gerade weil sie realisierbar erscheinen.
Das Wahlergebnis zeigt es faktisch. Eine überwiegende Mehrheit der muslimischen Libyer sucht sich so zu organisieren, dass ihr Erdölstaat funktioniert und all seinen Bürgern den ihnen zustehenden Gewinn bringen kann.
Jene, die glauben, dies könne nur geschehen, wenn der Staat im Zeichen des Islams organisiert werde, sind offenbar in der Minderheit. Sie machen viel von sich reden, weil einige von ihnen mit Waffen hantieren und andere mit Worten kämpfen. Auch weil sie im Kampf gegen Ghadhafi schwere Opfer erbracht hatten.
Auch Jibril betet, fastet und gibt Almosen
Das heisst nicht, dass die grosse Masse der Libyer unislamische Materialisten wären. Jibril selbst unterstreicht, er sei ein guter und gläubiger Muslim. Er persönlich bete, faste, gebe Almosen, wie es einem Muslim gezieme, und seine Koalition sei keineswegs "säkular".
Alle Libyer wissen, der heute 60-Jährige hat seine Ausbildung in Kairo und später in den USA erhalten, wo er 1985 ein Doktorat in politischen Wissenschaften erhielt. Er hat in Amerika unterrichtet und später Management-Kurse in der ganzen arabischen Welt geleitet. 2007 wurde er von Saif al-Islam Ghadhafi dazu überredet, als Finanzfachmann und Mitträger seiner geplanten Reformbewegung in die libysche Regierung einzutreten. Jibril war im Amt geblieben, gezwungener Massen, wie er heute erklärt, bis der Aufstand in Benghazi ihm Gelegenheit gab, abzuspringen.
Ein "Minister Ghadhafis"
Die Islamisten kritisieren Jibril, weil er dem Ghadhafi-Regime angehörte. Doch die libyschen Wähler scheinen ihm dies nicht angerechnet zu haben. Wohl weil sie aus eigener Erfahrung wissen, dass jeder sich Ghadhafi beugen musste, wenn er Leib, Leben und Wohlstand bewahren wollte.
Die schärfste Opposition, die sich vor und in den Wahlen abzeichnete, kam nicht von islamistischen Fanatikern, sondern von Lokalpatrioten. Viele Bewohner der Cyrenaika waren darüber empört, dass für sie nur 60 Sitze in geplanten Nationalversammlung vorgesehen waren, für Tripolitanien 100 und für die Oasen-Provinz Fezzan 40.
Murren in der Cyrenaika
Die Libyer der Cyrenaika hatten sich unter Ghadhafi beklagt, sie würden gegenüber Triplolitanien benachteiligt. Auch aus diesem Grund sind sie gegen Ghadhafi aufgestanden. Nun befürchteten sie, sie würden wieder benachteiligt, und diese Diskrimination könnte in der künftigen Verfassung festgeschrieben werden.
Bei diesen Klagen geht es auch ums Erdöl. Die Provinz Cyrenaika, die sich südlich über riesige Wüstengebiete bis an die Grenze von Tchad erstreckt, umfasst zwei Drittel der Erdölquellen. "Aber wir profitierten vom Erdöl kaum, die Gelder gingen alle nach Tripolis", ist die Meinung der Bewohner des cyrenaikischen Landesteils.
Einige "Föderalisten" wollten aus diesem Grund die Wahlen vereiteln. Sie wollten zuerst eine föderale Verfassung niederlegen, bevor in ungleichen Proportionen gewählt werde. Einige von ihnen haben zu den Waffen gegriffen, die in Libyen überall leicht zu erhalten sind. Sie haben im Vorfeld der Wahlen insgesamt sechs Wahlbüros und einiges Wahlmaterial zerstört. Sie legten auch vorübergehend die Erdöl-Export-Terminale lahm. Doch die Wähler haben nicht auf sie gehört.
Eine noch zu wählende Verfassungsversammlung
Um dieser Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, war die provisorische Regierung von Tripolis im letzten Augenblick vor den Wahlen eine wichtige Konzession eingegangen. Sie hatte erklärt, die zu wählende Versammlung werde nicht, wie zuerst vorgesehen, die Verfassungsversammlung bestimmen. Diese werde in einer besonderen Wahl später vom Volk gewählt werden und zwar in gleichen Proportionen für alle drei Landesteile, nämlich mit je 20 Mitgliedern für Tripolitanien, Cyrenaika und Fezzan.
Wahlen im kommenden Jahr?
Libyen hat noch keine Verfassung. Die Spielregeln der Übergangszeit, bis eine Verfassung vorliegt, werden offenbar ziemlich locker, je nach den Umständen, die sich aufdrängen, festgelegt. So wird die nun gewählte Versammlung nur 80 auf Grund von Parteilisten gewählten Volksvertretern enthalten. Alle anderen 120 wurden als Unabhängige gewählt. Die Namen der 120 Unabhängigen, die gewählt wurden, sind noch nicht alle bekannt.
Der nächste Wahlgang für ein endgültiges Parlament nach der Proklamation der Verfassung soll nach dem gegenwärtigen Zeitplan im kommenden Jahr stattfinden. Doch ob die Dinge wirklich so schnell ablaufen werden, wird sich noch zeigen
Jibril hat nach der Wahl dazu aufgerufen, dass alle nun vertretenen Gruppierungen und möglichst viele der Unabhängigen zu einer grossen Koalition zusammenträten und gemeinsam die Regierung bildeten. Er scheint nicht darauf auszugehen, jetzt selbst Regierungschef zu werden, vielleicht eher einmal später Präsident... Doch ob und wieweit seine Pläne aufgehen werden, bleibt auch abzuwarten.