Tief hat sich der sogenannte «Franzosenüberfall» vom 9. September 1798 ins kollektive Gedächtnis Nidwaldens eingebrannt – als «der schröckliche Tag». 225 Jahre sind es her seit dem Widerstand gegen Napoleons Truppen und der Rache der Besatzungsmacht.
Ende und Anfang, Niedergang und Aufstieg stehen in keiner anderen Zeitspanne der Schweizer Geschichte so nahe beieinander wie im Übergang vom 18. Zum 19. Jahrhundert. In seinen «Notizen eines Müssiggängers» schreibt der Historiker Jean Rodolphe von Salis zu dieser Zeitenwende: «Nähe der Vergangenheit. Mir hat es von jeher die Generation angetan, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lebte. Sie musste sich mit der Aufklärung, der Französischen Revolution, dem Beginn der modernen Industrie, mit Napoleon, mit der Romantik und mit einigen bedeutenden Dichtern und Philosophen auseinandersetzen. Keineswegs eine ‘gute alte’, aber eine geistig, politisch und ökonomisch heftig bewegte Zeit des Aufbruchs.»[1]
Nidwaldens Trauma
Aus der realen Nähe des Geschehens betrachtet, erhält dieser heftig bewegte Aufbruch auch dunkle Flecken, in Nidwalden gar traumatische. Noch heute ist das Ereignis von 1798, «der Tag des Jammers», bei vielen präsent. Um den Franzoseneinfall vom 9. September 1798 kommt eigentlich niemand herum, der sich mit dem nidwaldischen Selbstverständnis befasst.[2]
Die politischen Fakten sind bekannt: Die Revolution in Frankreich von 1789 zeitigt schnell auch Folgen für die damalige Eidgenossenschaft. Die revolutionierte französische Nation sieht sich als Vorkämpferin zur Befreiung von Absolutismus und Feudalismus.
Ihr Export: die Ideen von «Liberté, Égalité, Fraternité»; ihr Kampfprogramm: die Revolutionierung der Schweiz und Installierung eines Zentralstaats nach französischem Vorbild und Bedarf. Das Jahr 1798 bringt den militärischen Eingriff Frankreichs. Die Invasoren erobern in einem Blitzkrieg die Alte Eidgenossenschaft. Das morsch gewordene Geflecht souveräner Staaten implodiert. Ende Januar 1798 danken die Gnädigen Herren in Luzern ab, Anfang April kapituliert die reiche und mächtige Stadt Bern, und am 12. April proklamieren in Aarau zehn Kantone die «eine und unteilbare Helvetische Republik». Die Helvetik oder eben die Franzosenzeit, wie die Jahre 1798 bis 1803 im Volksmund heissen, beginnt. Die Schweiz ist in Teilen ein besetztes Land, ein Vasallenstaat Frankreichs. Überall werden Freiheitsbäume aufgepflanzt – zum Dank an die französische Nation und die neue Freiheit.
«Das Kreuz ist unser Freiheitsbaum!»
Noch stehen nicht alle Kantone hinter der neuen Helvetischen Regierung in Aarau. Im April 1798 erlässt General Balthasar von Schauenburg, Kommandant der «Armée d’Helvétie», eine unmissverständliche Proklamation: Annahme der Helvetischen Einheitsverfassung oder Okkupation durch französische Soldaten. Verlangt wird der Treueeid auf die neue Verfassung.
Obwalden nimmt an, Nidwalden hingegen weigert sich standhaft. Trotz Verbot tagt die Landsgemeinde, Vermittlungsversuche scheitern. Die neue Schweizer Regierung in Aarau, das Helvetische Direktorium, stellt Stans Ende August 1798 ein Ultimatum. Es bleibt unbeantwortet. Verschiedene Politiker und Geistliche stacheln zum unbedingten Widerstand an, allen voran der Kapuzinerpater Paul Styger mit seinem Kampfruf: «Das Kreuz ist unser Freiheitsbaum!»[3] Er will es nicht zulassen, «dass die blutdürstigen fränkischen Gessler ihnen [den Leuten von Nidwalden] das kostbare Kleinod der Religion und Freiheit» entreissen sollten.[4] Der Widerstandkämpfer im priesterlichen Stand und braunen Gewand führt das kleine Nidwalden in einen aussichtslosen Waffengang und damit ins Verderben, später stilisiert als Davids Kampf gegen Goliath.
Kein Überfall – eine Katastrophe mit Ansage
Nach dem letzten Schlichtungsversuch vergehen nochmals zehn Tage. Am 9. September 1798 löst Schauenburg den Angriff aus. Er befiehlt eine Zangenbewegung, einerseits von Hergiswil über den See Richtung Stansstad, anderseits von Alpnach und Kerns her über Ennetmoos Richtung Stans. Am Allweg kommt es zum Hauptkampf. Ein ungleiches Kräftemessen. Insgesamt stehen 1'600 Nidwaldner zusammen mit 27 Urnern und 212 Schwyzern rund 10'000 Berufssoldaten gegenüber – ein Verhältnis von etwa 6:1.
Der Angriff ist minuziös geplant – und kein «Überfall», wie der Abwehrkampf später in die kollektive Erinnerung und die Geschichtsbücher eingegangen ist. Die Invasion kommt einer Katastrophe mit Ansage gleich. Die Franzosen stellen eine hoch professionalisierte Armee in Uniform, die Nidwaldner kämpfen in Alltagskleidern. Der Preis ist immens. Rund 100 Franzosen und 100 Nidwaldner verlieren in den erbitterten Kämpfen ihr Leben. Bei grässlichen Massakern sterben über 300 Frauen, Männer und Kinder. Das sind rund fünf Prozent der Nidwaldner Bevölkerung – ein enorm hoher Verlust. 330 Häuser und gegen 200 Ställe gehen in Flammen auf; fast zehn Kirchen und Kapellen werden zerstört. Ein Tag des Schreckens.
Johann Heinrich Pestalozzi in Stans
Die Gegend ist «zum grössten Teil verbrannt und verwüstet», berichtet Schauenburg. Weitherum schwarze Brandruinen und unerhörtes Leid als Folge der Strafexpedition! Die Leute hausen zum Teil in armseligen Hütten, «die sie zur üssersten noth gegen Wind und Wetter schützen». Die Bevölkerung leidet. «Das Elend ist unbeschreiblich gross und es wachst mit jedem Tag», schildert ein Regierungsbeamter die Lage im Winter 1799. Er fügt bei: Kälte und Frost hätten die wenigen Kartoffelvorräte vernichtet. In der Not würden die Leute nun verdorbene Knollen essen, was sie krank mache.
Die überall greifbare Not trifft vor allem die Kinder, aber nicht nur. Im Dezember 1798 entsendet die Helvetische Regierung Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) nach Stans. Er soll helfen. Quartier bezieht er im Kapuzinerinnenkloster. Hier eröffnet er sein Waisenhaus. Es kommen «viele mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, viele hager, wie ausgezehrte Gerippe, mit Augen voll Angst und Stirnen voll Runzeln der Sorge» – «andere vom Elend erdrückt». So erlebt Pestalozzi die Ankunft der ersten kriegsversehrten Kinder in seinem Stanser Waisenhaus. Schon bald betreut er über 80 junge Menschen; einzig eine Haushälterin hilft ihm. Die Aufgabe erfordert fast übermenschliche Kräfte. Eine pädagogische Grenzsituation! Sein Wirken ist von kurzer Dauer. Im Juni 1799 verlässt er Stans.
Zweierlei Freiheiten
Warum diese Not? In Nidwalden verkennen viele die Zeichen der Zeit: die Dynamik der Parolen von «Liberté» und «Égalité» aus der revolutionären französischen Dreifaltigkeit. Frei fühlt man sich in den Landsgemeinde-Orten der Urschweiz. Man braucht hier keine Freiheitsbäume. Und «freie Leute befreit man nicht!» Dass man selber Untertanen hat und in den Vogteien Landvögte stellt, geht dabei vergessen.
«Nous avons propagé la liberté, les droits de l’homme!» So heisst es auf französischer Seite. «Wir haben die Freiheit verteidigt – unsere Freiheit!» So tönt es dagegen auf Nidwaldner Seite. Zweierlei Sichtweisen. Zweierlei Freiheiten.[5] Das Auflehnen des kleinen Freistaates Nidwalden gegen die Helvetische Zentralbehörde und damit gegen die Grande Nation: ein zwar heroischer, aber letztlich aussichtsloser Widerstand. Im Kanton ist dieses traumatische Ereignis bis heute wachgeblieben. 225 Jahre sind seither vergangen.
[1] J.R. von Salis (1984), Notizen eines Müssiggängers. Zürich: Orell Füssli Verlag, S. 42.
[2] Vgl. Erich Aschwanden, In Nidwalden lebt Skistar Marco Odermatt als Erfolgreicher unter Erfolgreichen, in: NZZ, 17.02.2023, S. 9.
[3] Vgl. https://blog.nationalmuseum.ch/2020/09/nidwalden-1798-erinnerung-ist-machbar/ [abgerufen: 8.9.2023]
[4] https://www.nw.ch/_docn/297985/Staatsarchiv_Geschichte_Franzosenkrieg_1798.pdf [abgerufen: 8.9.2023]
[5] Die beiden Statements sind fiktiv und einem Buch entnommen: Zweierlei Freiheiten. So heisst eine neue Publikation: Kurt Messmer und Peter Gautschi (2023), Zweierlei Freiheiten. Eine historische Revue zum Franzoseneinfall in Nidwalden von 1798. Thun: Pro Libro/Weber Verlag AG. Die Vernissage findet am 225. Jahrestag des Franzoseneinfalls von 1798 in Stansstad statt.