Die Hells Angels beschützten sie. Sie war eine burschikose Herumtoberin und eine Revoluzzerin, ein Hippie-Girl – und sie war selbstkritisch: Sie hasste ihre „kleinen Schweinsäuglein“, ihr Haar, ihre zu grosse Nase und den breiten Mund. Zu allem Übel hatte sie Sommersprossen und fand sich zu dick.
Mit fast jedem ging sie ins Bett, auch mit Jim Morrison, Leonard Cohen und Jimi Hendrix. Auch hinter dem 19-jährigen Bruce Springsteen war sie her. Doch der rettete sich: „Hilfe, sie ist hinter mir her!“
„Absolut fesselnd, hypnotisch, unwiderstehlich“
Doch vor allem: Janis Joplin schrieb Musikgeschichte. Das Magazin Newsweek nannte sie den „ersten weiblichen Superstar der Rockmusik“. Das Publikum sprang von den Sitzen auf, als sie auftrat. Der Chef der Columbia-Plattenfirma sagte: Sie „war so absolut fesselnd, hypnotisch, unwiderstehlich und herzergreifend. Sie war für mich eine Offenbarung und hat den Rest meines Lebens verändert“.
Und: Janis Joplin, die vor bald 50 Jahren an einer Dosis Heroin starb, war anders, als sie lange Zeit dargestellt wurde. Dies zeigt eine neue Biografie der preisgekrönten amerikanischen Musikhistorikerin Holly George-Warren *).
Doch bevor man die Biografie liest, sollte man kurz die unwiderstehliche Stimme von Janis Joplin geniessen, zum Beispiel im unsterblichen: „Me and Bobby McGee“.
Es wurde schon viel über Janis Joplin geschrieben. Holly George hat in einer langen Recherche nun neue Seiten der Folk-, Blues- und Rock-Sängerin entdeckt. Sie sprach mit der Familie, mit Freunden, Musikern, Weggefährten. Und vor allem hatte sie Zugriff auf die vielen persönlichen Briefe, die Janis schrieb.
Ruinierter Ruf
Janis Joplin wird am 10. Januar 1943 im texanischen Port Arthur geboren. Ihr Vater, ein Atheist, der Bach liebt, arbeitet in der Ölindustrie für Texaco.
Sie ist ein Wildfang mit einem Talent fürs Malen und Zeichnen. Schon früh ist ihr Ruf ruiniert, und sie trägt viel dazu bei, dass es so ist. Sie raucht, trinkt Bier, läuft ohne Slip und BH herum, ist eine Ladendiebin und freundet sich mit Schwarzen an. „Ich hasse die Neger nicht“, sagt sie. In der Schule nennt man sie „Negerliebchen“. Einmal wird sie nach Hause geschickt, weil sie unstatthaft gekleidet ist. Kollegen bezeichnen sie als „Nutte“ und „slut“ (Schlampe).
„Love Me Tender“, die romantische Ballade von Elvis Presley, die sie am Fernsehen sieht, ist eine Offenbarung für sie. Jetzt entscheidet sie sich zu singen. Doch ihr Idol ist Zeit ihres kurzen Lebens Bessie Smith, „die Kaiserin des Blues“.
Der „hässlichste Mann auf dem Campus“
Immer wird sie wegen ihrer ungestümen Art und ihres seltsamen Outfits gehänselt: Eine Studentenverbindung an der Universität in Austin kürt jedes Jahr den „Hässlichsten Mann auf dem Campus“. Janis wird als Kandidat vorgeschlagen, was ihre Moral erschüttert.
Sie beginnt zu singen und einige beginnen aufzuhorchen. Sie, die Weisse, singt auch in Kneipen, in denen Rassentrennung herrscht. Sie liebt den alten schwarzen Blues. „Wenn ich singe“, sagt sie später, „fühle ich mich wie frisch verliebt“. Ihre Kleider kauft sie in einem Armeeladen und sie sieht oft lächerlich aus: Bomberjacke aus dem zweiten Weltkrieg.
„Polyamouröses Naturell“
Jetzt wird die Hochschulzeitung auf sie aufmerksam. „Sie traut sich, anders zu sein“, heisst der Titel einer Reportage über sie.
Immer wieder wird ihr „polyamouröses Naturell“ erwähnt. „Ich bin ständig ausgeflippt, habe dauernd getrunken, herumgevögelt, gesungen und mir generell auf dem Campus einen Namen gemacht.“
1966 schliesst sie sich als Lead-Sängerin der „Big Brother and the Holding Company“ an. „Sie war so charismatisch“, sagt ein Zeitzeuge, „und ihre Stimme war bluesig mit einem düsteren Unterton. So etwas hatte man in Texas noch nie gesehen.“
Vom amerikanischen Establishment der bleiernen Eisenhower-Zeit wird sie zunächst mit eiskalter Geringschätzung bedacht. Doch bald schon ist das Publikum perplex und die Musikkritiker sind verblüfft – welche Stimme!
„Ja, wir werden alle berühmt sein“
Am ersten Monterey Folkfestival im Mai 1963 darf sie kurz auftreten und wird zur Siegerin erkoren. Dort trifft sie kurz mit Bob Dylan zusammen. Sie stellt sich ihm vor und sagt: „Ich liebe Sie einfach und eines Tages werde ich auch berühmt sein.“ Dylan antwortet: „Ja, wir werden alle berühmt sein.“
Es folgen Auftritte um Auftritte. Der Bassist Jack Cassidy sagt: „Als ich sie zum ersten Mal hörte, fand ich sie einfach nur fantastisch. Sie ist eine der wenigen weissen Sängerinnen, die einen guten Blues bringen konnte.“ Ihr Selbstbewusstsein wächst. Die Band wird zur Familie für sie. Und sie wird zur Ikone der Hippie-Zeit.
Landesweiter Star
Am Monterey Pop Festival im Juni 1967 wird sie zum landesweiten Star. Die Zuschauer kommen jetzt nur wegen ihr. Sie springen von den Sitzen auf und applaudieren. Während der letzten Klänge von „I’m gonna love you till the day I die“ bricht der Applaus wie eine Explosion los.
Grosse Zeitungen in den USA und Grossbritannien drucken jetzt Artikel und Fotos von ihr – mit Lobeshymnen auf ihre Stimme. Sie gilt jetzt als die faszinierendste Blues-Sängerin der USA. Ihre Stimme geht durch Mark und Bein.
„Die Göttin von San Francisco“
„Vogue“ bezeichnete sie als „atemberaubend“. Die „New York Times“ schreibt von Joplins „rauschendem Aufstieg in das Rock-Firmament“. „In der Popmusik hört man nur selten eine Stimme, die mit einer solchen Kraft, Flexibilität und Virtuosität eingesetzt wird.“ Janis ist die Sensation. Der Chicagoer Bluesman Buddy Guy sagt: „Sie singt den Blues so leidenschaftlich wie Schwarze.“
Lange Zeit lebt sie in San Francisco. Der Schlagzeuger Mike Fleetwood schwärmt: „Janis war die Göttin von San Francisco.“ Sie lebt im Hippie-Quartier Haight-Ashbury. Ihre Biografin nennt sie „Haight-Ashbury’s self-destructive pinup-girl“. Der neue Manager der Band kauft einen Leichenwagen, um die Musiker und das Equipment zu transportieren.
Drogen, Whiskey
Schon früh nimmt sie Drogen, alles Mögliche. Mit 22 entwickelt sie eine ausgewachsene Methamphetamin-Sucht. „Ich wollte Dope rauchen, Dope nehmen, Dope lecken.“ Ihr Gesicht ist nun voller Pickel, sie isst fast nichts mehr und magert ab. Doch immer wieder erholt sie sich. Später beginnt sie, Heroin zu spritzen. Und sie trinkt, vor allem Whiskey. Auf vielen Fotos ist sie mit einer Flasche „Southern Comfort“-Whiskey zu sehen. Sie fragt die Herstellerfirma, ob sie dafür etwas Geld kriegen könnte, weil sie ja Reklame für Southern Comfort mache. Die Firma überweist ihr 6’000 Dollar.
Freunde sagen ihr, dass sie mit ihrer bisherigen Band nicht weiterkomme. Schweren Herzens verlässt sie ihre „Familie“ und schliesst sich der Band „Kozmic Blues Band“ an. Mit ihr nimmt sie am Woodstock-Festival teil. Doch ihr Auftritt dort – sie tanzt singend barfuss auf der Bühne – ist nicht ihr bester. Vermutlich hat sie sich mit Rauschgift vollgepumpt.
„Sie haut uns aus den Socken“
Das Publik strömt zu ihren Konzerten. Ihr erotisch aufgeladener Gesang bringt das Publikum in Erregung. Einmal schreit ein junger Mann während eines Konzert. „Ich möchte dich vögeln, Janis.“
Im April 1970 schliesst sie sich der „Full Tilt Boogie Band“ an. Zu ihren grössten Hits gehört nun Kris Kristoffersons „Freedom’s just another word for nothing left to lose“. „Sie haut uns aus den Socken“, sagte der Rock-Kritiker von „Village Voice“.
China White
Ihren letzten grossen Auftritt hat sie im Garden State Arts Center in Holmdel (New Jersey): Das Publikum gerät „an den Rand des Wahnsinns“, schreibt die Biografin.
Am 4. Oktober 1970, um ein Uhr morgens spritzt sich Janis eine Dosis Heroin unter die Haut ihres linken Arms. Was sie nicht weiss: Das Heroin, China White, hat einen Reinheitsgrad von 40 bis 50 Prozent – fünf Mal mehr als normal. Am Morgen findet man sie tot auf dem Fussboden. Sie wurde 27 Jahre alt.
Sehnsucht nach einem Zuhause
Die Biografin öffnet eine neue Sicht auf Janis Joplin. Als lebenswütiges, drogen- und alkoholsüchtiges Ausnahmetalent, das alle Konventionen über Bord wirft.
Sie beschreibt Janis als hochintelligente, einfühlsame, zerbrechliche Person mit mangelndem Selbstwertgefühl – immer mit einer tiefen Sehnsucht nach Wärme und einem Zuhause. Im Innersten war sie einsam und übertünchte das mit einem rasenden Leben. Immer war sie auf der Suche nach etwas Anerkennung. Das Mobbing, das sie in ihrer Jugend erfuhrt, trieb sie in die Arme der Aussenseiter.
Ein Hochstapler aus altem Geldadel
Begleitet wurde sie lange Zeit von ihrem Hund George, den sie innig liebte und der dann gestohlen wurde. Ihre Biografin legt Dokumente und Zeugnisse vor, die sie als Frau beschreiben, die sich nach einem fast schon bürgerlichen Leben sehnte. Ihr Vater und ihre Mutter blieben wichtig für sie. Sie schrieb ihren Eltern Dutzende, vielleicht Hunderte sehr persönliche Briefe. Das puritanische südtexanische Elternhaus blieb ihr Anker.
Einmal fiel sie auf einen charmanten Hochstapler und Lügner herein, der vorgab, Ingenieur mit Master-Abschluss zu sein, aus altem Geldadel zu stammen und sie heiraten zu wollen. Sie träumte schon von einem Haus mit einem „weissen Gartenzaun“ (dem amerikanischen Symbol eines kleinbürgerlichen Lebens). Singen wäre dann zweitrangig geworden. Dann flog alles auf. Dieser Betrug hat sie tief gekränkt und ein Leben lang misstrauisch gemacht.
Was wäre, wenn ...?
Eine Frage beantwortet die Biografin nicht: Wenn der Hochstapler und Lügner kein Hochstapler und Lügner gewesen wäre – was dann? Hätte sich dann Janis mit Mann, Hunden und Katzen hinter einen „weissen Gartenzaun“ zurückgezogen? Hätten wir dann auf „Freedom is just another word …“ verzichten müssen?
Am 4. November 2013 wird auf dem „Walk of Fame“ in Hollywood ein Stern für Janis Joplin enthüllt.
Dieser Artikel erschien im Journal21.ch am 22. November 2019.
*) Holly George-Warren: Janis Joplin – Nothing Left to Lose. Die Biografie, Droemer Knaur, Oktober 2019.