Die welschen Compatriotes beschämten die Deutschschweiz, die erst vor 45 Jahren, im Februar 1971, nachzog: 1959 stimmten die Männer in beinahe allen Kantonen der Romandie für das kantonale Frauenstimm- und Wahlrecht; 1960 folgte der Stadtkanton Genf. Ein Jahr später wurde Lise Girardin, damals 40 Jahre alt, in den Genfer Grossen Rat gewählt. Die Tochter und Ehefrau von Mathematikprofessoren dozierte modernes Französisch an der Genfer Universität.
Freisinnig gleich «radical»
Bei Lise Girardin überschnitten sich die politischen Ämter häufig. Bis 1973 sass sie im Grossen Rat, aber da hatte sie schon längst eine bislang rote Linie überschritten: In der Hersbstsession 1971 zog sie als erste Frau in den Ständerat ein.
Gleichzeitig gelangten, nach der endgültigen Einführung des eidgenössischen Frauenstimm- und Wahlrechts am 7. Februar 1971 (621'109 oder 65 Prozent Ja gegen 323'882 oder 34,3 Prozent Nein, Stimmbeteiligung 57,7 Prozent), mehrere valable Politikerinnen aus der Deutschschweiz in den Nationalrat.
Wir jungen Journalistinnen waren von der Pionierin begeistert. Im exklusiven Ständerat sass eine schön frisierte und elegant gekleidete Dame, Madame Lise Girardin, die sich unerschrocken für die Gleichheit von Frau und Mann, für legalen Schwangerschaftsabbruch und ein moderneres Adoptionsrecht einsetzte, das auch Jahrzehnte danach – nämlich heute – ein heisses Eisen ist. Für die Genfer Freisinnige passte der französische Name ihrer Partei besser. Sie war wirklich «radical».
Erste Stadtpräsidentin der Schweiz
Nur eine einzige Legislatur blieb Lise Girardin der eidgenössischen Politik erhalten. Es zog sie wieder nach Genf. Bereits 1967 war sie als erste Frau in die Genfer Exekutive, den Conseil administratif, gewählt worden. 1968, 1972 und 1975 errang sie das Genfer Stadtpräsidium. Damals konnten Frauen in anderen Städten noch nicht einmal von einem solchen Amt träumen. Bis 1979 war sie Mitglied in der Genfer Stadtregierung. Da blieb nicht mehr viel Platz für die Wiederwahl in den Ständerat.
Zur gleichen Zeit wie in den Ständerat, 1971, war Lise Girardin in den Verwaltungsrat der damaligen Bankgesellschaft eingetreten. Bis zu ihrem 70. Lebensjahr (1984 bis 1991) war sie Präsidentin der Eidgenössischen Ausländerkommission, wo sie sich auch für die erleichterte Einbürgerung einsetzte, insbesondere der Secondos und Secondas – auch heute noch ein unerfülltes Anliegen. Im Oktober 2010 ist die mutige Politik-Pionierin verstorben.
Die erste Frau im Ring
Ein kleiner Nachtrag: 1971 widersetzte sich der Halbkanton Appenzell-Innerrhoden dem Eidgenössischen Stimm- und Wahlrecht. Nur gerade ein fakultatives Frauenstimmrecht in kommunalen Kirch- und Schulsachen liessen sich die Männer abringen. 1990, nach der letzten ablehnenden Landsgemeinde, klagten einige Frauen und bekamen Recht. Das Bundesgericht verfügte, die Weigerung sei verfassungswidrig. So zwang das oberste Gericht die Appenzeller, neun Jahre nach dem Gleichheitsartikel in der Verfassung, ihre Frauen zu emanzipieren.
Hierzu eine persönliche Episode: Von einer Landsgemeinde-Versammlung, die das Thema Frauenstimm- und Wahlrecht traktandiert hatte, musste ich eine Reportage machen. Ich erkundigte mich vorher telefonisch, um mich und jemanden zum Fotografieren zu akkreditieren. Das gehe klar, hiess es. Aber ich als Reporterin dürfe den «Ring» nicht betreten, nur die Person, die fotografiere. Das akzeptierte ich natürlich vorbehaltlos. Denn ich nahm eine Fotografin mit. Es ist verbrieft und verbürgt, und niemand konnte es verhindern: Die Fotografin Marlis Frei war die erste Frau im Ring.