Die Talfahrt der Sozialistischen Partei Frankreichs scheint erfolgreich abgeschlossen. Die Partei schafft es nicht mal mehr, einen Parteichef zu wählen, ohne sich zu zerfleischen und lächerlich zu machen.
Man reibt sich die Augen. Nicht mal elf Jahre ist es her, da gewann der damalige Chef der Sozialistischen Partei, François Hollande, die französischen Präsidentschaftswahlen und schickte den vorhergehenden Amtsinhaber, Nicolas Sarkozy, nach Hause zu Carla.
Und nicht mal sechs Jahre sind vergangen, seit die Ära Hollande zu Ende ging.
Doch schon fünf Jahre später, 2017, hatte der «normale» Präsident, François Hollande, gegen Ende seiner fünf-jährigen Amtszeit derartig abgewirtschaftet und war die gesamte Linke, aber auch seine eigene Sozialistische Partei derart zerstritten, dass der amtierende Präsident sich gleich gar nicht mehr für eine zweite Amtszeit bewerben wollte beziehungsweise konnte. Ein Präsident, der derart geschwächt war, dass er zu seiner Wiederwahl erst gar nicht antritt, war und ist ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte der 5. Republik.
Mit Karacho in den Abgrund
Was dann folgte, ist hinreichend bekannt als spektakulärer Einbruch der einst grossen Volkspartei, die nach 1981 rund 25 Jahre lang auf nationaler Ebene Regierungsverantwortung getragen hatte und vor Hollandes Wahl zum Staatspräsidenten 2012 in fast allen französischen Regionen, in vielen Departements und in den meisten Grossstädten des Landes das Sagen hatte.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 kam dann aber der Paukenschlag. Der per Urwahl gekrönte sozialistische Kandidat, Benoît Hamon, vom linken Flügel der Partei, erreichte gerade noch 6,4% der Stimmen im ersten Wahlgang und rangierte nach Macron, Le Pen, Fillon und Mélenchon deutlich abgeschlagen nur auf Platz 5. Wenig später, nach den anschliessenden Parlamentswahlen, blieben der Partei mit der Rose von bis dahin 280 Abgeordneten nicht mal mehr 50.
Die Ohrfeige war mehr als schmerzhaft, das Ergebnis geradezu erniedrigend und die damit verbundenen Einschnitte bei den Finanzen der Partei eine Katastrophe.
Doch es sollte noch schlimmer kommen, denn fünf Jahre später, im April 2022, brachte es die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, als Präsidentschaftskandidatin der Sozialisten nur noch auf erbärmliche 1,7%.
Das war der absolute Tiefpunkt für die einst grosse Partei von Jean Jaurès, Léon Blum und François Mitterrand, die heute gerade noch müde 40’000 Mitglieder zählt. Und – ein wahres Symbol für den Niedergang – die PS musste ihren legendären Parteisitz «Solferino» neben dem Orsay Museum in Paris gleich nach der ersten Wahlschlappe 2017 schleunigst verkaufen, um nicht zahlungsunfähig zu werden, 60 Mitarbeiter entlassen und war gezwungen, wie Zehntausende Mittelständler in der Hauptstadt, Paris zu verlassen und im Vorort eine Bleibe zu finden.
François Mitterrand hatte den noblen Parteisitz in Paris ein Jahr vor seinem Wahlsieg 1981 kaufen lassen. Immerhin: Seiner inzwischen ramponierten Sozialistischen Partei hat das herrschaftliche Gebäude dank des verrückt gewordenen Pariser Immobilienmarkts 45 Millionen Euro eingebracht.
Ein Schatten ihrer selbst
Gerade genug, um weiterzuwursteln und ein wenig durchzuschnaufen. Sämtliche namhafte Politikerinnen und Politiker haben nach der Pleite bei den Wahlen 2017 die Partei verlassen, als wäre der Teufel hinter ihnen her, beziehungsweise haben sich seit Jahren extrem diskret gemacht: der ehemalige Innen- und kurzzeitige Premierminister Bernard Cazeneuve, der Hollande-Vertraute Stéphane Le Foll oder der einst einflussreiche Parteivorsitzende Cambadélis. Ex-Premier Manuel Valls ist als gebürtiger Katalane nach Barcelona entschwunden, um dort einen politischen Neuanfang zu starten, fiel dabei aber krachend auf die Nase. Aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden sind auch die Ex-Ministerinnen und Rivalinnen, Ségolène Royal und Martine Aubry. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen.
Dass diese Partei, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist, inhaltlich und programmatisch seit einer halben Ewigkeit nichts mehr produziert hat, versteht sich fast von selbst. Es ging die letzten Jahre nur noch ums pure Überleben.
In dieser ohnehin desaströsen Situation haben es Frankreichs Sozialisten dieser Tage doch tatsächlich fertiggebracht, dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen und ihren Absturz in Richtung absoluter Bedeutungslosigkeit noch weiter voranzutreiben.
Groteske Wahl eines Parteivorsitzenden
Vor dem 80. (!) Kongress der Sozialistischen Partei an diesem Wochenende in Marseille waren die Mitglieder des PS am 19. Januar – ausgerechnet am Tag, da über eine Million Franzosen gegen die Rentenreform auf den Strassen waren – aufgerufen, in einer Stichwahl ihren Parteivorsitzenden zu bestimmen.
Der eine Kandidat war Olivier Faure, der seit 2018 die geschrumpfte Partei anführt und Abgeordneter eines Wahlkreises im östlichen Pariser Vorort ist. Sein Gegner: der Bürgermeister von Rouen, Nicolas Mayer-Rossignol. Etwas mehr als 50% der 40’000 verbliebenen sozialistischen Parteimitglieder nahmen an der Wahl teil. Gegen Mitternacht war ausgezählt, und das Desaster nahm seinen Lauf.
Als erster erklärte sich gegen zwei Uhr der Herausforderer, Mayer-Rossignol, zum Sieger. Wenig später folgte das offizielle Communiqué der Parteiführung: Der bisherige Parteichef, Olivier Faure, habe die Wahl mit 50,83% gewonnen.
Nichts da, erwiderte wenig später sein Konkurrent, er akzeptiere dieses Ergebnis ganz und gar nicht – es habe in mehreren Kreisverbänden massive Unregelmässigkeiten und Betrügereien gegeben – und deutete an, er würde eventuell auch gerichtliche Schritte nicht ausschliessen.
Dies war der Beginn eines unwürdigen Spektakels, das Frankreichs Sozialisten nun wirklich nicht gebrauchen können und das nun schon seit fünf Tagen andauert. Die Partei, die ohnehin schon am Abgrund stand, dürfte sich davon kaum erholen.
Zuerst tagte zwei Tage lang eine Kommission, die die Wahlergebnisse nachprüfte, letztlich allerdings nicht alle aus allen Wahlbezirken, warum auch immer, vielleicht aus purer Erschöpfung.
Die Parteiführung jedenfalls veröffentlichte danach ein weiteres Communiqué und erklärte den bisherigen Parteichef, Olivier Faure, diesmal mit 51,4% der Stimmen, erneut zum Sieger. Dessen Gegner und Parteigenosse, Mayer-Rossignol, erkennt das Ergebnis aber weiterhin nicht an.
NUPES oder nicht
Hinter diesem Streit mit scharf gewetzten Messern stecken jedoch nicht nur Eitelkeiten und Gemeinheiten, sondern zumindest eine grundlegende inhaltliche Differenz. Und die heisst NUPES (Nouvelle Union Populaire Ecologique et Sociale ) – «Neue ökologische und soziale Volksunion».
Es ist das unter der Regie des Linksaussen, Jean Luc Mélenchon und seiner Partei LFI ( La France Insoumise) zustande gekommene, reichlich holprige, eher vage Wahlbündnis, zu dem sich die gesamte Linke vor den Parlamentswahlen im Juni 2022 aufgerafft hatte: LFI, Grüne, Kommunisten und … eben auch die Sozialisten. Und als NUPES treten die vier Parteien seitdem auch in der Pariser Nationalversammlung auf, von Fall zu Fall geeint und oft reichlich halbherzig – NUPES ist alles andere als eine echte Koalition der Oppositionsparteien – und bringen es zusammen auf 148 unter insgesamt 596 Abgeordneten.
Nach den katastrophalen 1,7 % von Anne Hidalgo bei den Präsidentschaftswahlen mussten die Sozialisten bei den nachfolgenden Parlamentswahlen im Juni letzten Jahres das Schlimmste befürchten.
Als im Mai 2022 dieses Wahlbündnis unter schweren Wehen auf die Beine gestellt worden war, entschieden die Parteiführung der Sozialisten und Olivier Faure, daran teilzunehmen. Letztlich vor allem, um auf diese Art wenigstens noch 30 Abgeordnete und damit Fraktionsstatus im Parlament zu haben. Mit anderen linken Gegenkandidaten in den einzelnen Wahlkreisen hätte die Sozialistische Partei das im ersten Wahlgang mit Sicherheit nicht geschafft.
Doch dieses Zusammengehen unter der Vorherrschaft von Jean- Luc Mélenchon und seiner Partei «La France Insoumise» ist vielen Sozialisten im Hals stecken geblieben. Denen, die einfach nicht sehen wollen, an welchem Tiefpunkt ihre Partei inzwischen angelangt ist.
Man denke doch: Eine Partei, die erst vor wenigen Jahren noch den Staatspräsidenten gestellt und seit Mitterrand vier Jahrzehnte lang eine zentrale Rolle im politischen Leben Frankreichs gespielt hat, soll plötzlich das letzte Rad am Wagen sein und sich dem ehemaligen Sozialisten Mélenchon unterordnen, welcher seine frühere Partei seit fast zwei Jahrzehnten regelmässig abkanzelt und beschimpft! Nicht wenige Sozialisten meinten damals, die Partei habe ihre Seele verkauft, indem sie dieses Wahlbündnis mit der radikalen Partei Mélenchons akzeptierte. Und zu denen gehört eben auch Olivier Faures Gegenspieler, Nicolas Mayer-Rossignol, der Bürgermeister von Rouen. Mit anderen Worten: Die geschrumpfte Partei ist auch in der Frage, wie halten wir es mit der NUPES, zutiefst gespalten.
Es ist, als würde die Hälfte der verbliebenen Mitglieder weiter an ein Wunder glauben und hoffen, ihre Partei werde schon von alleine wieder aus dieser Schlammschlacht und ihrem tiefen Winterschlaf herauskommen und neu entstehen. Sie wollen nicht sehen, dass die gesamte Linke bei Wahlen seit Jahren gerade mal 30% erreicht und Mélenchons Partei «La France Insoumise» – ob es gefällt oder nicht – auf dieser Seite des politischen Spektrums mit Abstand die stärkste Kraft ist.
Ex-Präsident François Hollande ?
Wie schon gesagt: Die alten Grössen der Sozialistischen Partei haben sich nach der Wahlkatastrophe 2017 rar gemacht, sind zum Teil vollständig verschwunden und melden sich seitdem kaum noch zu Wort.
Mit einer Ausnahme. François Hollande, der immer wieder öffentlich Stellung bezieht, meint Ratschläge geben zu können oder gar zu müssen, obwohl er eigentlich keine hat und nur so tut, als sei seine Partei immer noch ein echter Machtfaktor auf der politischen Bühne. Und natürlich ist er gegen das Wahlbündnis seiner Partei mit Mélenchon, den Kommunisten und den Grünen. Sein Hauptargument: Die Sozialistische Partei würde sich damit in die Höhle des Löwen begeben, verschlungen werden und endgültig von der politischen Landkarte verschwinden.
Dass sie dies nun, wenn auch auf andere Art und Weise, ohnehin schon zustande gebracht hat, nämlich durch ihre eigene Unfähigkeit, auch nur die Wahl eines Parteivorsitzenden einigermassen anständig über die Bühne zu bringen, sorgt für Schadenfreude bei politischen Gegnern und für schiere Verzweiflung bei einem grossen Teil der verbliebenen Sozialisten.
Das geradezu Pathetische bei François Hollandes Wortmeldungen: Er ist nach wie vor unfähig, dafür geradezustehen, dass die alte Sozialistische Partei Frankreichs gerade während seiner fünf-jährigen, teils verschlafenen und eher glücklosen Amtszeit den grössten Einbruch überhaupt erlitten hat in ihrer über hundertjährigen Geschichte. Doch der Ex-Präsident denkt nicht daran, sich für dieses Desaster verantwortlich zu fühlen. Stattdessen schwafelt er heute, angesichts des Schrotthaufens einer Partei, den er hinterlassen hat, von einer linken Kraft, die man eben rekonstruieren müsse, und lässt dabei durchblicken, dass er, der letzte sozialistische Elefant, der sich noch aus seiner Ecke wagt, dabei durchaus eine Rolle spielen könnte. All dies hat nur noch etwas Pathetisches.
Parteitag – eigentlich unmöglich
Von heute bis Sonntag müssen die sozialistischen Streithähne unter diesen Umständen nun auch noch gemeinsam auf dem Kongress ihrer 1,7%-Partei auftreten, mit einem Parteichef Olivier Faure, den sein Gegner, Mayer-Rossignol und dessen Anhänger immer noch nicht als solchen akzeptieren. Es wird ein Parteikongress voller Psychodramen und ohne jede relevante inhaltliche Entscheidung werden.
Angesichts dessen ist es derzeit im Grunde nur schwer vorstellbar, wie die ohnehin schon auf ein Minimum geschrumpfte Partei PS, die sich in diesen Tagen endgültig der Lächerlichkeit preisgegeben hat, in den kommenden Monaten oder Jahren jemals wieder auf die Beine kommen könnte.