Keine zwei Monate vor Beginn der höchst umstrittenen Fussball-WM in Katar sorgen der französische Fussballverband und mehrere Stars des amtierenden Weltmeisters, darunter Kylian Mbappé und Paul Pogba, auf Nebenschauplätzen für reichlich Aufsehen.
Das lächerliche Verhalten eines Spielers und des Trainers des Spitzenclubs Paris Saint-Germain (PSG) zum Thema Klimaschutz und Nachhaltigkeit, heftige Fanausschreitungen und Gewalt in den Stadien, ein nationaler Fussballverband, in dem es gärt und dessen Präsident gewaltig unter Druck steht, ein übler und gewalttätiger Erpressungsversuch gegen eine der Stützen der Nationalmannschaft. Ein Ex-Weltmeister von 2018, der in Grossbritannien gerade wegen siebenfacher Vergewaltigung vor Gericht steht, und selbst im Damenfussball der Hass zwischen zwei Nationalspielerinnen, der in einem brutalen, nächtlichen Überfall mit Schlagwerkzeugen endete – all dies beherrscht zur Stunde die Stimmung und die Schlagzeilen rund um den französischen Fussball.
Ein geradezu katastrophales Ambiente, um die WM in nicht mal zwei Monaten konzentriert und in Ruhe vorzubereiten. Zu allem Übel hat das Nationalteam am Sonntag auch noch das letzte Nationscupspiel gegen Dänemark nach extrem schwacher Leistung mit 0:2 verloren.
Flugzeug oder Bahn – die Antwort aus dem Luxusclub
Vor gut zwei Wochen hatte der vom WM-Austragungsland Katar finanzierte Spitzenverein Paris Saint-Germain (PSG) an einem Samstag zu einem Ligaspiel beim FC Nantes anzutreten. Die Entfernung zwischen Paris und der Stadt an der Loire-Mündung beträgt 380 Kilometer.
Die Kicker und der ganze Begleittross des Hauptstadtclubs (rund 60 Personen) hatten für diese Reise wie üblich und ganz selbstverständlich ein Flugzeug gechartert.
Am Tag darauf, am Sonntagmorgen, griff einer der obersten Chefs der Staatsbahn SNCF zum Mobiltelefon, nachdem einer der PSG-Kicker es wieder einmal nicht hatte lassen können. Er hatte unbedingt ein kurzes Video ins Netz stellen müssen, auf dem man die Luxustruppe im Flieger sah, der sie von Nantes nach Paris zurückbrachte.
Daraufhin setzte der SNCF-Grande einen Tweet ab, der es in sich hatte und unmittelbare Folgen haben sollte.
Er wagte nämlich die Frage zu stellen, warum die Herrschaften Messi, Neymar, Mbappé und Co. nicht die Dienste der französischen Bahn in Anspruch genommen hätten. Schliesslich produziere eine Reise mit dem Privatflieger 50 Mal mehr an Umweltverschmutzung als der Zug. Ausserdem dauere eine Fahrt mit dem TGV zwischen Paris und Nantes nicht einmal zwei Stunden. Und jede Stunde fahre einer dieser Züge vom Pariser Gare Montparnasse ab. Ausserdem habe die Bahn sogar mehrmals angeboten, über Sonderzüge für die Pariser Luxuskicker in Verhandlungen zu treten.
Der SNCF-Obere hatte mit seiner Frage per Twitter ins Schwarze getroffen. Im ganzen Land brach unmittelbar eine heftige Diskussion aus, zumal in Frankreich schon seit Wochen über das Fliegen der Superreichen in ihren Privatjets und deren CO2-Ausstoss sowie über die Möglichkeiten, diese Art von Fliegerei einzuschränken, heftigst gestritten worden war.
Dabei war unter anderem bekannt geworden, dass allein der alternde Star von Paris Saint-Germain, Lionel Messi, seit Anfang Juni diesen Jahres mehr als 50 Flüge mit seinem Privatjet unternommen hat. C02-Ausstoss: 1050 Tonnen. Ein normaler französischer Bürger generiert in derselben Zeitspanne gerade mal 3.
Peinlich
Am Tag nach dem Tweet des SNCF-Hierarchen stand die Pressekonferenz im Trainingszentrum von PSG auf dem Programm, wie sie nach jedem Ligaspiel üblich ist.
Vor der obligatorischen Werbewand, hinter Mikrophonen und einem langen Tisch hatten der Trainer von PSG, Christophe Galtier, und Stürmerstar Kyllian Mbappé, Platz genommen.
Und, wie nicht anders zu erwarten, stellte einer der anwesenden Journalisten die Frage, warum die Truppe am Samstag nicht den Zug, sondern das Flugzeug genommen hatte, um zum Auswärtsspiel in Nantes anzutreten.
Trainer Galtier und Superstar Mbappé wechselten einen ganz kurzen Blick, bevor sich zunächst der Wunderstürmer mit Armen und Oberkörper auf die Tischplatte fallen liess und, den Kopf im Ellbogen vergraben, sich vor Lachen nicht mehr halten konnte, wie ein pubertierender Pennäler, der im Unterricht einen Lachanfall bekommt, der kein Ende nehmen will, weil sein Nachbar einen Witz gemacht hat.
Doch das war noch nicht alles.
Der Trainer legte noch eins drauf und schoss, nachdem sein 23-jähriger Stürmer mit einem Jahressalär von 20 Millionen Euro ausgelacht hatte, den Vogel ab. Man habe, so Christophe Galtier schmunzelnd, mit der Firma, die die Reisen des Clubs organisiere, Gespräche aufgenommen, ob man zu künftigen Auswärtsspielen in Frankreich nicht mit dem Strandsegler reisen könne. Und Kylian Mbappé musste schon wieder hemmungslos lachen.
Doch diese Art, auf die Frage zu einzugehen, verwandelte sich in einen Schuss, der gewaltig nach hinten losging.
Zunächst kam nicht mal aus der Runde von Sportjournalisten, wo es normalerweise eher locker und hemdsärmlich zugeht, auch nur ein einziger Lacher. Sekunden lang herrschte nur leises Gemurmel im Raum, und man hatte den Eindruck, alle Anwesenden hätten etwas betreten, ja konsterniert auf ihre Schuhspitzen geschaut, bis es vom Podium herab endlich hiess: «Nächste Frage».
Ein Desaster
Das Bild, das die beiden vor der Werbewand abgegeben hatten, war schlicht desaströs, selbst zahlreiche Politiker mischten sich unmittelbar ein und verurteilten dieses läppische Verhalten aufs schärfste. Man darf sich fragen, was die Armee von Kommunikationsstrategen des superreichen Fussballclubs aus Paris an diesem Montag Wichtigeres zu tun gehabt hatten, als Mbappé und Galtier vor der Pressekonferenz zu briefen. Denn dass die Frage ob Flugzeug oder Bahn nach der öffentlichen Diskussion am Vortag gestellt werden würde, musste selbst dem blutigsten Anfänger im Kommunikationsgeschäft klar sein.
Die Vereinsleitung war hinterher stinksauer über diesen Auftritt. Und der Imageschaden für PSG beträchtlich. Wieder einmal war das Bild der superreichen, verwöhnten Kicker transportiert worden, ein Bild von etwas unreifen jungen Menschen mit ihren Diamanten im Ohrläppchen und dem protzigen Gehabe, den Luxussportwagen und der sündhaft teuren Markenkleidung, Jungs, denen alles ausser Fussball ziemlich egal ist, die nicht mehr wissen, auf welchem Planeten sie leben und was sie mit ihrem Geld anfangen sollen.
Der Trainer musste sich auf Geheiss der Vereinsführung am Tag darauf umgehend für seine lockeren und deplatzierten Worte entschuldigen. Weltstar Kylian Mbappé aber dachte nicht daran, für sein lächerliches Gelächter dasselbe zu tun, und sein Verein konnte ihn offensichtlich auch nicht dazu zwingen.
Bislang hat Mbappé auch nicht auf die Aussage einer Wissenschaftlerin reagiert, die Mitglied des französischen Klimarates ist und ihn am Tag danach hat wissen lassen, anstatt albern herumzuhampeln könnte er, bei seiner extremen Popularität, ein exzellenter Botschafter für den Klimaschutz werden. Es gäbe haufenweise Wissenschaftler, die bereit wären, mit ihm und mit anderen Fussballern zu diskutieren, ihnen Wissen zu vermitteln und ihnen klarzumachen, dass sie viel ausrichten könnten, wenn sie sich öffentlich für das Klima engagieren würden, und sei es nur, wenn sie zeigten, dass man z. B. Müll sammeln oder sich mit dem Fahrrad fortbewegen kann. Denn Äusserungen und Gesten eines Kylian Mbappé hätten einfach unendlich mehr Gewicht und Einfluss auf die Bevölkerung als alles, was die Wissenschaftler sagen oder tun könnten.
Mbappé und das Recht am eigenen Bild
Doch denjenigen, der mit 19 bei der Fussball-WM in Russland umjubelter Weltmeister geworden war und mit seinen unnachahmlichen Läufen, seinen Dribblings und seinem Gesicht eines unschuldigen, leicht verschmitzten Bubens die halbe Welt verzückt hatte und es bis heute weiter tut, beschäftigte in diesen Tagen etwas ganz anderes.
Als Mitglied der Nationalmannschaft hatte er 2017, gerade volljährig geworden, wie alle seine Kollegen der blau-weiss-roten Auswahl eine Konvention unterzeichnet, die zwischen dem französischen Fussballbund und den Sponsoren der Nationalmannschaft besteht und diesen Sponsoren das Recht einräumt, das Image der Nationalspieler für Werbezwecke auszuschlachten. Dafür schieben die insgesamt 13 Sponsoren jährlich immerhin mehr als 100 Millionen Euro über den Tisch.
Doch Kylian Mbappé ist unzufrieden mit dieser Konvention. Just im Trainingslager vor zwei Länderspielen in der Nationsleague, also zum dümmsten Zeitpunkt, legte er sich dieser Tage schon zum zweiten Mal mit dem französischen Fussballverband an, indem er ankündigte, an einem geplanten Fotoshooting der Sponsoren im Trainingslager nicht teilnehmen zu wollen, weil er nicht mehr möchte, dass sein Image mit einer Reihe von Sponsoren in Zusammenhang gebracht wird, nämlich – im Grunde ja nicht verwerflich – mit dem Hersteller eines gezuckerten Sodagetränks, einer Fast-Food-Kette und mit einem Wettanbieter.
Allmächtig mit 23
Helle Aufregung im Trainingslager, der Präsident des Fussballverbandes eilte umgehend dorthin, eine Krisensitzung wurde anberaumt, an der auch der Trainer der Nationalmannschaft, der Kapitän und dessen Stellvertreter teilnahmen.
Am Ende hatte der Weltstar gewonnen, der Fussballverband musste klein beigeben und sich schriftlich verpflichten, innerhalb kürzester Zeit eine neue Konvention mit den Sponsoren auszuhandeln. Das 23-jährige Wunderkind des französischen Fussballs aus dem Pariser Vorort Bondy hatte allen gezeigt, wer am längeren Hebel der Macht sitzt. Der 80-jährige Präsident eines französischen Fussballverbandes, um den bereits ein Krieg um seine Nachfolge tobt und dessen zweifelhaftes Management jetzt vom Sportministerium einer Enquête unterzogen wird, schlich aus dem Trainingslager reichlich zerknittert wieder davon.
Ein angeschlagener Präsident, der zudem noch eine Reihe von Mitarbeiterinnen mit anzüglichen SMS belästigt haben soll und heftig in der Kritik steht, weil er sich mit Blick auf die unappetitliche WM in Katar als einer der wenigen europäischen Verbandspräsidenten geweigert hat, Amnesty International zu empfangen und sich den unverfänglichen Slogan zu eigen zu machen, wonach in Sachen Menschenrechte in diesem Golfstaat noch viel zu tun bleibe. Amnesty Frankreich hatte daraufhin angekündigt, dass sie am letzten Sonntag im Nationscup-Spiel Dänemark-Frankreich die dänische Mannschaft unterstützen werde, weil diese sich im Gegensatz zur französischen offen kritisch gegenüber Katar verhalte.
Alles in allem ein reichlich vergiftetes Klima im Umfeld der französischen Nationalmannschaft.
Die Affäre Paul Pogba
Doch damit nicht genug, es geht noch schlimmer. Frankreichs Teamchef, Didier Deschamps, ist vor dieser WM wahrlich nicht zu beneiden, und nicht nur weil gerade zwölf Spieler, im Grunde fast seine gesamte Stammmannschaft, verletzt sind, vom Torwart und Kapitän Lloris bis zu einem der weltbesten Mittelstürmer, seit 15 Jahren im Dienst von Real Madrid, Karim Benzema.
Denn da ist noch der haarsträubende Fall des Mittelfeldstars, Paul Pogba, der einst bei Juventus Turin gross geworden war, dann bei Manchester United spielte und im Sommer wieder in die Hauptstadt des Piemont zurückgekehrt war.
Vor einigen Wochen stellte dessen älterer Bruder Mathias, ebenfalls Fussballer, allerdings mit unbedeutender Karriere, ein mehr als befremdliches Video ins Netz, in dem er seinem jüngeren Bruder drohte. Sollte Paul Pogba gewisse Dinge nicht tun, würden ein paar Leute schon bald ein für ihn sehr kompromittierendes Video veröffentlichen.
Paul Pogba tat, was er bis dahin hatte vermeiden können, und ging über seine Anwältin an die Öffentlichkeit. Frankreichs Fussballwelt und die restliche Welt erfuhren, dass der lange, schlaksige Mittelfeldspieler bei einem Gericht in Turin schon Mitte Juli Klage wegen versuchter Erpressung eingereicht hatte. Diese Klage war bereits an ein französisches Gericht weitergeleitet worden. Und aus ihr durfte man entnehmen, dass Paul Pogba Anfang Juli bei einem kurzen Besuch in seiner Geburtsstadt Lagny, einem östlichen Pariser Vorort, dort von seinem Bruder und zwei Bekannten in eine Wohnung gelockt worden war, wo plötzlich zwei Vermummte ihm ein Sturmgewehr an den Kopf hielten, ihn anbrüllten, er solle gefälligst den Blick senken, und ihm klar machten, dass er schnellstmöglich zu zahlen habe und zwar 13 Millionen Euro, mit dem fadenscheinigen Argument, man habe ihn ein Jahrzehnt lang beschützt und bewacht, jetzt solle er dafür gefälligst löhnen.
Der Bruder legt nach
Paul Pogbas Bruder Mathias und vier Konsorten sind inzwischen hinter Gittern. Einer von ihnen war nach der Gewaltszene im Pariser Vorort dem Nationalspieler im Juli sogar nach Turin hinterhergereist, um Paul Pogba deutlich zu machen, dass man ihn und seine Millionen daheim im Pariser Vorort nicht vergessen hat. Wohl der Grund, weswegen der Profi von Juventus Turin zunächst in Italien Klage eingereicht hatte.
Der Druck auf ihn und die Erpressungsversuche dauerten offensichtlich schon eine ganze Weile. Irgendwann hat er sogar schon mal 100’000 Euro überwiesen. Und offensichtlich hatte er, kurz bevor er Klage einreichte, sogar seine Bank angewiesen, 3 Millionen Euro nach Dubai zu transferieren, wo einer der Erpresser ein Konto besitzen soll. Eine Überweisung, die er angeblich erst in letzter Minute wiederrufen hat.
Wie soll, so darf man sich fragen, ein Paul Pogba, der zur Zeit nach einer Meniskusoperation ohnehin nicht einsatzfähig ist, angesichts dieser haarsträubenden Geschichte bei der kommenden WM befreit aufspielen und beste Leistungen bringen? Zumal sein Bruder erst letzten Freitag, obwohl er im Gefängnis sitzt, per programmiertem Tweet nachgelegt hat.
Darin bezeichnet er den Mittelfeldstar als jemanden, der seit Jahren der Hexerei verfallen sei, einen Marabout beauftragt habe, Gegenspieler zu verzaubern, seit jeher im Kontakt mit dem Milieu der Grosskriminalität stehe, ja Blut an den Händen habe und ein Serienvergewaltiger wie Harvey Weinstein sei.
Kein Einzelfall
Diese Affäre hat im französischen Fussballmilieu, was Erpressungsversuche angeht, inzwischen einige Zungen gelöst, auch wenn bisher niemand namentlich genannt werden möchte. Der Tenor: Die Affäre Pogba ist im Grunde nichts Neues und Aussergewöhnliches, auch wenn die Dimensionen diesmal bisher Gekanntes weit überschreiten.
Gerade Spielervermittler können ein Lied davon singen, wie Familien und Freunde der Spieler sich bei Transfers oft sehr rüde einmischen und bei der Gelegenheit Geld- oder Sachforderungen für sich selbst stellen. Oder auch wie ihre Ball tretenden Kunden selbst richtig rabiat werden können.
Ein junger Spieler, für den sein Manager keinen Verein gefunden hatte, klingelt eines Abends bei ihm zu Hause und fordert ihn auf, doch runterzukommen, man müsse miteinander sprechen. Unten angekommen, wird er von vier Schlägertypen erwartet, die ihm zu verstehen geben, er habe für seinen Schützling keinen Verein gefunden, also sei es jetzt an ihm, gefälligst für den Verdienstausfall aufzukommen und zu zahlen, andernfalls werde man ihm bald einen zweiten Besuch abstatten.
Vorstadtmilieu
Es ist keine Stigmatisierung der Bevölkerung in den französischen Vororten, sondern es ist de facto einfach so: Die meisten französischen Fussballstars sind in den Vorstadtghettos von Paris, Marseille, Lyon und anderen Städten aufgewachsen. Es ist schliesslich kein Zufall, dass sich Beobachter aller europäischen Spitzenclubs fast jedes Wochenende in der Grossregion Paris herumtreiben, um junge Talente zu entdecken.
Spieler wie Benzema, Mbappé, Pogba, Konté und hunderte andere haben sich durch den Fussball aus der Affäre gezogen und sind so dem Vorstadtmilieu und den dort herrschenden Gesetzen entflohen, ihre Freunde aus Kindheits- und Jugendzeiten aber ganz überwiegend nicht. So mancher alte Bekannte oder Freund der Fussballstars ist in die Klein- oder gar die Grosskriminalität abgeglitten. Und die Abermillionen, welche die in diesem Milieu aufgewachsenen Fussballprofis verdienen, wecken in ihrem früheren Umfeld und Freundeskreis, ja selbst unter den oft sehr zahlreichen Familienmitgliedern der Spieler mit Wurzeln in Nord- und in Schwarzafrika, Begehrlichkeiten zuhauf.
Die Versuchung, einen Teil des grossen Geldes der Fussballprofis abzubekommen, ist offensichtlich enorm. Dementsprechend beträchtlich der Druck auf die Millionen Euros verdienenden Kicker, nach dem Motto: Du darfst erstens deine weitverzweigte Familie und zweitens deine Freunde, mit denen du aufgewachsen bist, nicht hängen lassen, musst an sie denken und gefälligst etwas abgeben.
Angesichts all dessen kann niemand übersehen: Die sozialen Probleme im Land, die Zerrissenheit der französischen Gesellschaft, die Misere in den Vorstadtghettos und die zunehmende Gewaltbereitschaft spiegeln sich fast wie selbstverständlich auch im französischen Fussball, ja selbst in der Nationalmannschaft des Landes wieder.
Eine alte Geschichte
Einen ersten Vorgeschmack von diesem etwas besonderen Klima im französischen Fussball und in der Nationalmannschaft hatte die französische Öffentlichkeit ja bereits bei der Fussball-WM 2010 in Südafrika bekommen. Eine Weltmeisterschaft, bei der eine völlig desorientierte, zerstrittene Equipe Tricolore die Gruppenphase mit einem einzigen Punkt und einem einzigen Tor als letzte beendete und bei der der Mittelstürmer, Nicolas Anelka, den Trainer in der Halbzeitpause eines Gruppenspiels als schmutzigen Hurensohn beschimpfte und deswegen nach Hause geschickt wurde.
Darauf folgten damals die fast unheimlichen Bilder von einem französischen Mannschaftsbus, der mit vorgezogenen Vorhängen vor einem Trainingsstadion parkte und aus dem sich die Spieler – aus Protest gegen Anelkas Ausschluss – eine volle Stunde lang weigerten, zum Training auszusteigen, welches am Ende auch nicht stattfand.
Den Nationaltrainer hatten sie mehr oder weniger als Geisel genommen und ihn am Ende gezwungen, vor den Kameras ein wirres Communiqué zu verlesen, weil offensichtlich keiner der Spieler den Mumm hatte, es selbst zu tun.
Das Team war in dieser Affäre in zwei Lager gespalten, Lager, die mehr oder weniger nach Hautfarbe sortiert waren, bzw. nach der Herkunft der Spieler. Auf der einen Seite diejenigen, die in den Vororten aufgewachsen waren, auf der anderen die überwiegend Hellhäutigen aus der französischen Provinz, wie das damalige Grosstalent im Mittelfeld, Yoann Gourcuff, der nach den Ereignissen bei dieser WM niemals wieder zu seiner Form finden sollte.
Auf der Seite der Aufständischen gegen Anelkas Rausschmiss fand man die Herren Abidal, Malouda, Govou, Ribéry und den damaligen Kapitän, Patrick Evra, der beim Aufstand im Tumult um den Mannschaftsbus gegen den Konditionstrainer des Nationalteams sogar handgreiflich geworden war. Selbiger Evra hat erst vor wenigen Tagen noch einmal seine ganze Klasse unter Beweis gestellt, als er nachträglich auf seine 81 Einsätze im französischen Nationaltrikot pfiff und meinte, letztendlich hätte er während seiner aktiven Zeit besser daran getan, für Senegal zu spielen, das Land, in dem er einst geboren worden war.
Erpressung schon 2015
Die Affäre Paul Pogba hat so manchen daran erinnert, dass die Nationalmannschaft im Jahr 2015 bereits schon einmal durcheindergewirbelt worden war durch die sogenannte «Sextape-Affäre», die in ihren Grundzügen schon fast alle Elemente enthielt, die jetzt im Erpressungsfall Pogba wieder hochkochen.
Mathieu Valbuena, ein Wirbelwind im Mittelfeld und bei Olympique Marseille unter Vertrag, und Karim Benzema, der Mittelstürmer von Real Madrid, spielten damals beide in der französischen Nationalmannschaft. Ein Freund von Benzema, mit dem der Fussballstar gemeinsam in Bron, einer Vorstadt von Lyon, aufgewachsen war und der schon mehrfach im Gefängnis gesessen hatte, dem Benzema aber stets die Treue gehalten hatte, war auf verschlungenen Wegen an ein Video gelangt, das Valbuena beim Sex zeigte, und hatte begonnen, den Mittelfeldspieler zu erpressen. Als das nicht sofort funktionierte, kontaktierte der Erpresser seinen Freund Benzema und bat ihn, doch bei nächster Gelegenheit seinem Nationalmannschaftskollegen Valbuena klar zu machen, dass er gefälligst zahlen soll.
Und Benzema tat das tatsächlich. Bei der Vorbereitung auf ein Länderspiel ging er zu Valbuena, um ihn davon zu überzeugen, dass es doch das Beste sei, wenn er zahle, um die Sache zu bereinigen.
Die Angelegenheit wurde öffentlich, was einen gehörigen Skandal und reichlich Trubel auslöste. Nach dieser Affäre wurden weder Valbuena noch Benzema auf Jahre hinaus in die Nationalmannschaft berufen.
Und Karin Benzema ist für sein Vorgehen wegen Mithilfe zu einer versuchten Erpressung immerhin zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden und hat, um nicht noch länger in den negativen Schlagzeilen zu sein, sogar darauf verzichtet, gegen das Urteil in Berufung zu gehen.
Selbst im Frauenfussball
Die vielleicht hässlichste Geschichte in diesem Gesamtszenario trug sich zwischen zwei Spielerinnen des Hauptstadtclubs Paris Saint-Germain zu, die beide gleichzeitig im Kader der Frauennationalmannschaft standen und hier wie dort Konkurrentinnen um einen Stammplatz im Mittelfeld waren.
Im November vergangenen Jahres fuhren Aminata Diallo und Kheira Hamraoui von einem Mannschaftsessen im Bois de Boulogne im Wagen Diallos des Nachts gemeinsam nach Hause in einen westlichen Vorort von Paris. In einer dunklen Strasse wurde ihr Auto ausgebremst; vier Männer, mit Eisenstangen bewaffnet, zerrten Hamraoui aus dem Auto und begannen, auf ihre Beine und besonders auf ihre Knie einzuschlagen und preschten wieder davon. Die Spielerin war zwar verletzt, trug aber keine Brüche davon. Sehr schnell fiel der Verdacht auf ihre Mitspielerin Diallo, die ganze Sache arrangiert zu haben. Aminata Diallo kam auch mehrere Tage in Untersuchungshaft, wurde aber mangels Beweisen unter Auflagen wieder freigelassen.
Doch die Polizei begann zu ermitteln, Hausdurchsuchungen vorzunehmen und Telefone abzuhören. Nach fast einem Jahr wurden Diallo und die vier von ihr offensichtlich gedungenen Männer jetzt verhaftet und hinter Gitter gebracht.
Clanverhalten
Während Hamraouis Genesung von den Schlägen mit den Eisenstangen hat Diallo, mit Unterstützung mehrerer farbiger Kolleginnen im Verein weiter gegen ihre Mistspielerin mit nordafrikanischen Wurzeln bei der Vereinsführung intrigiert und gefordert, Hamraoui keinen neuen Vertrag mehr zu geben. Selbst die Mutter von Kylian Mbappé, die ihren Sohn managt, wurde ob ihres Einflusses bei Paris Saint-Germain kontaktiert mit der Frage, ob sie nicht etwas tun könne, damit Kheira Hamraoui aus dem Club verschwinde.
Die Abhörprotokolle der Telefongespräche Diallos zeugen von einem unglaublichen Ausmass an Hass auf Hamraoui sowie von einer ausgesprochen brutalen Wortwahl und sie machen auch deutlich, dass sich bei den Intrigen gegen Diallos Mitspielerin im Verein tatsächlich eine Front «Schwarz gegen Araber und andere» gebildet hatte.
Das vorläufige Ende vom Lied: Diallo ist ohne Verein und wegen schwerwiegender Gewaltanwendung sowie der Gründung einer Bande von Übeltätern angeklagt. Sie wird wohl nie mehr in der Nationalmannschaft spielen und sieht ihrem Prozess entgegen.
Hamraoui, das Opfer, welches von seinem Verein PSG nach der brutalen Aggression herzlich wenig Unterstützung erhalten hatte und allein gelassen wurde, trainiert seit wenigen Wochen wieder mit ihrer alten Mannschaft, ihre Karriere in der Nationalmannschaft ist aber wohl beendet.
Fazit
«Nach all diesen Vorfällen», so schrieb die Tageszeitung «Le Monde» dieser Tage, «stellt sich die Frage nach dem wahrlich giftigen Umfeld der Fussballer und Fussballerinnen, welches oft aus einem Cocktail aus mangelnder Reife, Geldgier und einem Clan- bzw. Mafiasystem besteht».
Und Le Monde weiter: «Man muss den Eindruck haben, dass der französische Fussball heute ein System ist, das wie unter einer Glasglocke vor sich hin lebt und nach seinen eigenen Regeln und Werten funktioniert, welche von den Entwicklungen in der restlichen Gesellschaft völlig losgelöst sind.»
Schweigen zu Katar
Und dies trifft ganz konkret z. B. im Fall der bevorstehenden Weltmeisterschaft in Katar zu, dieser menschenrechtlich, ökologisch, ja selbst sportlich völlig hirnrissigen Veranstaltung in einem Mini-Wüstenstaat mit 2,8 Millionen Einwohnern, wo Fussball nicht die Spur einer Tradition hat.
Trotz all dem ist es bislang aber so, als habe der gesamte französische Fussball zu diesem Thema und der Situation in Katar absolut nichts zu sagen.
Und dies, da im Land selbst seit mehreren Wochen die – natürlich verspäteten – Forderungen nach einem Boykott der Fussball-WM in Katar immer lauter werden, immer mehr Menschen bekunden, sie würden die WM-Spiele nicht im Fernsehen anschauen und mittlerweile Dutzende Bürgermeister im Land – Tendenz steigend – beschlossen haben, diesmal aus Protest kein Public-Viewing zu veranstalten.
Frankreichs Fussballverband und ihr abgetakelter Präsident aber schweigen zu der Thematik hartnäckig, der Teamchef der Nationalmannschaft, der sich noch so gut wie nie zu den politischen, sozialen oder moralischen Aspekten im Fussball geäussert hat, verlor bislang ebenfalls kein einziges Wort in Sachen Katar, und von den Spielern braucht man erst gar nicht zu reden – es ist, als hätte man ihnen einen Maulkorb umgehängt.
Angesichts derartiger Weltfremdheit kommt so mancher auf den Gedanken, dieses beredte Schweigen könnte ja eventuell damit zu tun haben, dass Monsieur Kylian Mbappé, der Superstar der Equipe Tricolore, seine 20 Millionen Euro pro Jahr schliesslich ja nicht einfach von seinem Verein Paris Saint-Germain bekommt, sondern letztlich vom Besitzer des Clubs – und der ist seit 2010 bekanntlich kein anderer als der Kleinstaat am Golf mit Namen Katar.