In ziemlich genau einem Jahr findet in Frankreich der zweite und entscheidende Durchgang der nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Zur Stunde wird im Land eigentlich nur noch diskutiert, ob es dann in der Stichwahl wieder, wie vor vier Jahren, zu einem Duell zwischen Emmanuel Macron und der ultrarechten Marine Le Pen kommen wird oder ob die Konservativen der Partei «Les Républicains» bis dahin doch noch eine Kandidatin oder einen Kandidaten hervorbringen, der es im ersten Wahlgang auf etwa 20% bringen und sich damit für die Stichwahl qualifizieren könnte und so entweder Macron oder Le Pen von der Teilnahme am zweiten Durchgang ausschliessen würde.
Von der Linken und den Grünen ist in diesem Zusammenhang schlicht gar nicht mehr die Rede, es sei denn im Zusammenhang mit ihrer haarsträubenden Unfähigkeit, sich zusammenzuschliessen und sich auf einen einzigen, gemeinsamen Kandidaten oder auf eine Kandidatin zu einigen.
Knapp 25%
Vor 40 Jahren, bei François Mitterrands Wahlsieg, repräsentierte die gesamte französische Linke noch über 40%. Ein Zustand, der mehr oder weniger 20 Jahre lang anhalten sollte.
Doch dann kam die Wahl 2002. Und der Kandidat der Sozialisten, Lionel Jospin, schaffte es im ersten Durchgang nur auf 16%, lag hinter dem rechtsextremen Jean-Marie Le Pen und kam nicht in die Stichwahl gegen Jacques Chirac. Ein Schock, nach dem es für Frankreichs Linksparteien im Grunde und trotz der Präsidentschaft von François Hollande zwischen 2012 und 2017 nur noch bergab ging.
Seitdem, und ganz besonders seit 2017, als Emmanuel Macron mit seiner Kandidatur Frankreichs traditionelle Parteienlandschaft durcheinandergewirbelt und teils zerschlagen hat, kommt die gesamte französische Linke, von den Trotzkisten über den Linksaussen Jean-Luc Mélenchon und seine Bewegung «La France Insoumise», über die Grünen bis hin zu den Resten der Sozialistischen Partei insgesamt auf kaum mehr als 25%.
«Die blödeste Linke der Welt»
Seit geschlagenen vier Jahren, und im Grunde noch viel länger, sind die französischen Linksparteien nun mit dieser Situation konfrontiert, schwächeln vor sich hin, streiten untereinander, machen keine Basisarbeit, bringen programmatisch kaum etwas zustande, pflegen aber die Egos ihrer Spitzenpolitiker, tun so, als würden sie noch vor 40 Jahren leben und als könnte man es sich im kommenden Jahr 2022 noch leisten, mit zwei, drei oder gar vier Kandidaten in den ersten Wahlgang zu ziehen, und einer von ihnen würde es dann schon irgendwie in die Stichwahl schaffen. Schlichte Verblendung oder Vogel-Strauss-Politik.
«La gauche la plus conne du monde» überschrieb dieser Tage der Politologe Samuel Jequier einen Meinungsbeitrag in der Tageszeitung «Libération», ein Mann der einst in den Kabinetten der sozialistischen Arbeitsministerin Martine Aubry und des sozialistischen Bürgermeisters von Paris, Bertrand Delanoë, gearbeitet hat.
Die verschiedenen Linksparteien, so der empörte Autor, seien nicht unversöhnbar, sondern allesamt schlicht verantwortungslos. Sie seien, angesichts einer immer drohenderen Marine Le Pen, weder auf der Höhe des historischen Augenblicks noch auf der Höhe ihrer Wähler.
Arithmetisch
Denn seit Jahren ist rein rechnerisch klar: Will die Linke auch nur den Hauch einer Chance haben bei den Präsidentschaftswahlen 2022, dann geht das nur mit einem einzigen, gemeinsamen Kandidaten.
Nur so besteht die Möglichkeit, und nicht mal die Gewissheit, in einem Jahr in die entscheidende Stichwahl zu kommen.
Folglich müssten Frankreichs Linksparteien im Moment eigentlich nur noch über das eine und einzige Thema diskutieren: Wie bekommen wir es hin, uns auf einen einzigen Kandidaten oder eine Kandidatin zu einigen?
Doch davon sind sie Lichtjahre entfernt, reden um den heissen Brei herum, diskutieren lieber über Radwege, vegetarisches Essen in den Schulen, über den «Islamogauchisme», politisch korrekte Schreibweise oder die Sorgen von Homo- oder Transsexuellen.
Und von einer Art gemeinsamen Plattform oder gar einem «Programme Commun», wie es François Mitterrand vor 1981 mit der damals noch bedeutenden Kommunistischen Partei zustande gebracht hatte, sind Frankreichs Linksparteien heute unendlich weit entfernt. Ja, man kann jetzt schon sagen, so etwas wird vor 2022 nicht zustande kommen, ganz einfach, weil offensichtlich niemand daran gedacht hat, mit dessen Ausarbeitung auch nur zu beginnen.
Vielmehr darf man den Eindruck haben, dass sämtliche Linksparteien nur noch irrlichtend durch die politische Landschaft Frankreichs geistern und im Grunde gar nicht daran interessiert sind, wirklich an die Macht zu kommen.
Ruinenlandschaft
Frankreichs Linke, das ist heute:
- Eine einst starke Kommunistische Partei, die bei der kommenden Präsidentschaftswahl bestenfalls 2% der Stimmen erhalten wird, nichtsdestoweniger aber vor einigen Monaten einen eigenen Präsidentschaftskandidaten gekürt hat.
- Eine Sozialistische Partei, die bei den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren auf ganze 6% zusammengeschmolzen war. Für sie könnte eventuell die Pariser Bürgermeristerin, Anne Hidalgo, ins Rennen der Präsidentschaftswahlen gehen, auch wenn sie bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr den Wählern der Hauptstadt hoch und heilig versprochen hatte, sie werde sich die sechs kommenden Jahre ausschliesslich um Paris kümmern. Meinungsumfragen räumen ihr derzeit maximal 11% ein.
- Dann der cholerische und egozentrische Linksaussen, der ehemalige Sozialist, Jean-Luc Mélenchon, Chef der Partei «La France Insoumise» (LFI), der schon vor Monaten seine inzwischen dritte Präsidentschaftskandidatur offiziell angekündigt hat und bislang nur zu verstehen gab: Die Linke muss sich in der Tat zusammenschliessen, aber gefälligst unter oder hinter mir. Der reichlich grossmäulige, alterrnde Berufspolitiker wiegt derzeit zwischen 8 und 10% der Stimmen.
- Und schliesslich die Grünen, die eigentlich auf der Umweltwelle schwimmen müssten. Doch von innerparteilicher Harmonie, wie bei den Kollegen im Nachbarland Deutschland, keine Spur.
Im Grunde steht bei ihnen für die Kandidatenkür eine Urwahl an. Doch der Europa-Abgeordnete Yannick Jadot – Pragmatiker, Realo und ehemaliger Vertrauter von Daniel Cohn-Bendit – hat sich mehr oder weniger selbst zum Kandidaten ernannt und gibt sich seit Monaten als solcher. Sein Konkurrent, Eric Piolle, der letztes Jahr als grüner Bürgermeister der Stadt Grenoble nach sechsjähriger Amtszeit souverän wiedergewählt worden ist, hat aber noch nicht aufgegeben. Jadots bester Umfragewert liegt derzeit bei 10%. Für die Grünen, die bei Präsidentschaftswahlen seit 1974 bislang ein einziges Mal über die 5% kamen, wäre das schon beachtlich.
- Ach ja, und den sozialistischen Kandidaten von 2017, den mit den damals umwerfenden 6% der Stimmen, Benoît Hamon, ihn gibt es auch noch. Er hat die Sozialistische Partei verlassen und eine eigene Bewegung unter dem Namen «Générations» gegründet und will mit seinem knappen Prozent in den Meinungsumfragen irgendwie auch noch mitmischen.
Hilfloser Versuch
Immerhin: der inoffizielle Kandidat der Grünen, Yannick Jadot, hat es Ende April geschafft, Vertreter all dieser Parteien in Paris an einen Tisch zu bringen, in einem seelenlosen Hotelsaal am Rande der Stadt. Doch es war ein tristes Spektakel mit hohlen Phrasen, nach dem wahrlich niemand sehen kann, wie daraus ein Elan entstehen könnte, um sich doch noch auf einen einzigen Kandidaten oder eine Kandidatin zu einigen.
Es ist leider so, als ginge es ihnen allesamt nicht darum, dass die Linke im Frühjahr 2022 eventuell gewinnen könnte, sondern nur noch darum, wer dann der beste Verlierer sein wird. Ein dummes, unverantwortliches Spiel, zumal mit einer Marine Le Pen im Land, die ohne gross etwas tun zu müssen, immer lauter an den Pforten der Macht anklopft.