Das Filmfestival Molodist in Kiew widmete im Oktober 2008 den Jahren des Hungers in der Ukraine ein Sonderprogramm. Durch die filmische Aufarbeitung liess sich, lang vor Anne Applebaums «Red Famine» (2017), ein Bild von Stalins Ausrottungspolitik gewinnen, das wesentlich auf «Oral History» fusste. – Auszüge aus dem damaligen Festivalbericht.
Etwa die Geschichte aus Odessa, vom Vater von sechs Kindern, der sämtliche Wertsachen der Familie für einen Sack Weizen verkauft hatte, der ihm jedoch umgehend von einem Polizisten abgenommen wurde, der drohte, ihn zu erschiessen, wenn er sich nicht wegschere, worauf sich der Unglückliche unter einen Zug warf. Immerhin gab es hier den Matrosen, der, nachdem er vom Vorfall gehört hatte, der Sache nachging und, unter dem Jubel der Menge, den Polizisten erschoss. Oder, erzählt von einer alten Frau, die Geschichte von der jungen Mutter, die beim Nachbarn Fleischstücke eines Kleinkinds in der Pfanne sah und daraufhin in dessen Garten Kleidungsstücke ihres vermissten Mädchens fand. Oder diejenige von der Frau, die mit ihren Töchtern ihren Mann getötet und gegessen hatte, später selber von den Töchtern verzehrt wurde und darauf deren eine von der andern, die wiederum darob starb.
Keine Horrorfilme
Es sind keine Horror-, sondern Dokumentarfilme, beide von 1989, die diese Geschichten nur erzählen, nicht zeigen können. Was die Gewährspersonen, bei den obigen Beispielen ein alter Mann und eine alte Frau, aus immer noch nachwirkender Betroffenheit aus ihrer Kindheit berichten, das hatte als Drehbuchautor und Regisseur einen Psychopathen monströsen Ausmasses: Josef Stalin. Das Entsetzen des Betrachters all dieser Filme, mit denen in der Ukraine nun versucht wird, auch mittels «oral history» die Erinnerung an wohl beispiellose Vorgänge wachzuhalten oder überhaupt erst zu wecken, gilt gleicherweise den grauenvollen Geschichten von Vertreibung, Mord und Kannibalismus wie dem Zynismus, mit dem hier offensichtlich Regie geführt wurde.
Drei schwere Hungersnöte in der Ukraine des 20. Jahrhunderts unterscheiden die Historiker in den Dokumentationen «James Maces Kerze» (Natalja Suschtschewa, 2008) und insbesondere «Landschaft nach dem Holodomor» (Juri Tereschtschenko, 2008): diejenige von 1921 bis 1923 (von der auch Fotografien existieren, die völlig ausgezehrte Kinder mit riesig aufgeblähten Bäuchen zeigen), diejenige von 1946/47 und eben diejenige von 1932/33, die gemeint ist, wenn vom Holodomor die Rede ist und die wohl als die entsetzlichste gelten muss. Die Schätzungen, wie viele Menschen dabei den Tod fanden, ob drei Millionen oder zehn Millionen, sind das eine; das andere sind die Hintergründe, die manche Historiker und fast alle der Gewährsleute, die in den Beiträgen zur Porträtserie «Doli – Schicksale» (2008) zu Wort kommen, je nachdem von Genozid oder Ethnozid sprechen lassen.
«Strafaktion» oder Genozid?
Keine Frage ist, dass es sich nicht um eine Naturkatastrophe handelte. Im Gegenteil, übereinstimmend wird von der überall ausgesprochen ertragreichen Ernte des Sommers 1932 in der Kornkammer der Sowjetunion gesprochen. Stalin verfolgte mit seiner Hungerpolitik verschiedene Strategien. Einerseits sollten einfache Bauern, die sich weigerten, einer Kolchose beizutreten, dadurch bestraft werden, dass sie als «Kulaken» denunziert wurden – leider auch in einem der Meisterwerke der Filmgeschichte, in Alexander Dowschenkos die ukrainische Erde besingendem Poem «Semlja» (Erde, 1930) –, denen Politkommissare und deren Schlägertrupps zu Recht ihr Eigentum als «Steuer» beschlagnahmten und zerstörten. Getreide wurde zu Schnaps gebrannt, Brot vor den Augen der Hungernden in ganzen Haufen angezündet. Anderseits konnte Stalin durch gewaltige Getreideexporte nicht nur die Industrialisierung der Sowjetunion finanzieren, sondern gegenüber der Weltöffentlichkeit den Eindruck des Überflusses in einem Land erwecken, dessen Bevölkerung in unvorstellbarem Ausmass gezielt vernichtet wurde. Prominenteste der gegen Hitler gestimmten westlichen Zeitungen, die das Lügenangebot unbesehen annahmen, war die «New York Times».
«Erst am 26.01.1990 anerkannte die KPU offiziell das Faktum der Hungersnot und hielt die kriminelle Verantwortung Stalins und seiner Entourage an Millionen von Toten fest», heisst es in der Vorbemerkung zu einem Spielfilm, der das Thema bemerkenswerterweise bereits 1991 aufgriff. «Holod 33» von Oles Jantschuk stützte sich auf Ergebnisse des Amerikaners James Mace, der, ein indianisches Halbblut, Professor in Harvard war, bevor er seine Forschungen insbesondere zum Holodomor nach der Wende in der Ukraine fortsetzte. Was «Landschaft nach dem Holodomor» deutlich macht, sind die verheerenden Folgen der Ausrottung der Intelligenzia auf dem Land, eine geistig-spirituelle Verarmung, von der es sich bis heute nicht erholt hat – und die noch verschärft wird durch «Wodkadomor», wie das Faktum der durch die Trunksucht der männlichen Bevölkerung entvölkerten Dörfer einmal genannt wird.
Da war es ein neckisches Detail, dass der Hauptsponsor des wichtigsten ukrainischen Filmfestivals eine Wodkamarke war. «Molodist» (Jugend) nennt sich die Veranstaltung in Kiew, weil sie in den drei Wettbewerbsektionen Nachwuchsarbeiten zeigt. Das Publikumsinteresse an diesem vom (ausgefallenen) Dokumentarfilmfestival im Frühling übernommenen, in die Randstunden verlegten Spezialthema war ohnehin bescheiden. [ … ]
Buchhandlungen?
Allerdings brauchte man vom Kinotheater Kyiv, einem gediegen restaurierten Zeugen des Sowjetklassizismus an bester Lage in der Innenstadt, bloss auf die Strasse hinauszutreten, um sich mit Widersprüchlichkeiten konfrontiert zu sehen, die möglicherweise das Umsetzungsvermögen der Filmemacher übersteigen. Das Protzige, ab einer bestimmten Hubraumklasse offenbar nur mit schwarzgetönten Scheiben lieferbar, schert sich hier einen Deut um das Ärmliche; breit hingelagert stehen auf dem Trottoir Maybach neben Aston Martin neben allerlei Zwölfzylindern, während rote Hummer wie Schützenpanzer den Verkehr beiseiteschieben – Meister jener Kunst, die sich auch in der U-Bahn erleben lässt: Rücksichtslosigkeit ohne Aggressivität. So ist praktisch kein Hupen zu hören.
Doch während von den westlichen Luxusmodemarken nicht eine zu fehlen scheint, ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, eine Buchhandlung zu finden. Warschau allein besitze mehr Buchhandlungen als die ganze Ukraine, sagt die vor Energie fast platzende Schriftstellerin Oksana Sabuschko in Oksana Tschepeliks Dokumentation «Wirkliche Meisterklasse» und legt zwischen die bei sich zu Hause auf dem Fussboden ausgelegten Bücherstapel einen wilden Tanz hin.
Artikel erschienen in der NZZ vom 17.11.2008.