Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist das Gehäuse eines monolithischen Allgemeinen in sich zusammengebrochen, an seine Stelle dafür eine Zersplitterung der Perspektiven getreten, welche den Individuen zunächst einmal eine ungekannte Wahlfreiheit beschert. Trotzdem lastet über den postindustriellen Gesellschaften des Westens ein permanentes Gefühl der Unfreiheit, und dieses Gefühl führt zu einer fiebrigen Suche nach der Quelle der Macht, die uns dieser Unfreiheit unterwirft. Aber eben, die alles bestimmende Zentralinstanz – die Matrix – gibt es nicht mehr, nur noch verkürzte Projektionen davon, die je an politische Standorte gebunden sind, nicht selten sogar paranoide Züge tragen.
Was immer so als Matrix beschworen wird, bleibt Popanz, weil das entsprechende Gefüge gar nie über die ungeteilte Macht verfügt. Die divergenten Aufrufe zum Bruch mit dem Bestehenden neutralisieren sich gegenseitig, und so prallt der Befreiungsanspruch im Ganzen an den Verhältnissen ab. Die Gegenkulturen des 20. Jahrhunderts konnten noch vom Fels einer festgefügten Ordnung abspringen; die aktuellen diskursiven Lager strampeln im Sand, der übrig geblieben ist. Die Folge: eine melancholische Befindlichkeit des Posthistoire, zuweilen ins flackernde Licht getaucht, das von den Blitzen einer hektischen politischen Eventik ausgeht.
Die Matrix hinter den Matrizen
Den Ausweg aus dieser diskursiven Blockade zu finden – das heisst konsensfähige, längerfristige Perspektiven –, setzt einen Absprungspunkt voraus, der an Festigkeit der einstigen, mittlerweile aber zerfallenen Verpflichtung auf das Allgemeine vergleichbar ist. Es müsste sich eine zentrale Diskursmasche zeigen, die generell wirksam ist, sich aber zugleich hinter dem Gewimmel der partiellen Matrizen verbirgt, eine allgemeine Programmroutine, die gleichermassen im Hintergrund sämtlicher Diskurssysteme läuft und dadurch deren oberflächliche Divergenz aushebelt.
Doch lässt sich überhaupt ein solches ideologisches Grundtool ausmachen, an dem – als einem archimedischen Punkt quasi – Widerstand ansetzen und wieder Stosskraft gewinnen könnte? In der Tat, ja: Diese übergreifende Routine besteht exakt im Mythos von der heilbringenden Überschreitung, in der Erzählung von der Gefangenschaft in einem Bestehenden, das grundsätzlich falsch ist, so dass nur der radikale Umbruch in die dem Menschen bestimmte Freiheit führt.
Dieser säkularisierte Adventismus trug einst die Fahne des Neuen. Er bildete den Gegenwurf zu realen Machtverhältnissen; doch mittlerweile wurde die Revolte von der Zielrichtung her praktisch beliebig variiert. Darüber ist sie gewöhnlich geworden, zur Selbstverständlichkeit, ja zur Konvention herabgesunken, der alle aufsitzen: die Linksalternativen, die Neoliberalen und – in paradoxer Weise – sogar die Populisten. Diese Letzteren möchten jene Konvention durch eine letzte triumphale Überschreitung abschaffen, um ihr Heil in der Opposition zu einer Matrix zu finden, die einfach ist und uns ihre Macht wieder ungeschminkt spüren lässt.
Vorrang des Singulären
Eine entsprechende Diskursregel hat der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz (Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017) als «Logik des Besonderen» umrissen. Dabei handelt es sich um eine Grundorientierung, die den Teil prinzipiell vor das Ganze setzt, was bedeutet, dass sie die Legitimität von Zentralinstanzen in Frage stellen und von den Individuen bindend Nonkonformismus einfordern muss. Reckwitz zufolge hat sich diese singularisierende Werthaltung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gegen die Logik des Allgemeinen durchgesetzt, die dem Taylorismus ebenso zugrunde lag wie der konformistischen bürgerlich-konservativen Moral. Reckwitz behauptet natürlich nicht, dass die neue Diskursmasche die postindustriellen Gesellschaften durchgängig bestimme; im Hintergrund sind selbstverständlich weiterhin die alten Zwänge der Funktionalität – d. h. des Allgemeinen – wirksam.
Die Logik des Besonderen lenkt das Selbstverständnis der neuen Eliten wie auch deren kulturelle Eigeninszenierung. Hier ist in der Tat rasch out, wer traditionelle Verpflichtungen anmahnt oder der freien individuellen Entfaltung irgend Schranken setzen möchte. Im Reich der Singularitäten lässt sich Profil nurmehr durch Absetzung gewinnen, nicht mehr durch Identifikation, nicht mehr durch den Verweis auf gemeinsame Bezugspunkte. Nonkonformismus gilt da als die neue Pflicht, und die zwingt dazu, in generellen Verbindlichkeiten grundsätzlich das Falsche zu sehen: die Matrix, welche die Menschen ihrer natürlichen Freiheit entfremdet. Als Konsequenz aus dieser ideologischen Anlage ergibt sich eben jene rasch voranschreitende Diversifikation von Standpunkten, die wir aktuell beobachten und die jegliche politische Gestaltung zunehmend erschwert. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die multiplizierten Player insgesamt dazu neigen, die Kommunikation zu verweigern.
Die Dialektik des Singularisierungszwangs
Die «Gesellschaft der Singularitäten» hat sich ohne Zweifel von der bleiernen Konventionalität des Industriezeitalters befreit. Sie hat die Verpflichtung aufs Ganze abgeschüttelt, welche individuelle Unterschiede einebnet, und sich stattdessen jene Kreativität auf die Fahne geschrieben, die das Spiel der freigesetzten Individualität verspricht. In vielen Lebensbereichen hat sich denn auch eine Buntheit, eine Vielfalt von Möglichkeiten entwickelt, welche die Gesellschaft bereichert, so dass wir sie kaum noch missen möchten.
Allerdings gilt das nicht auf dem Feld des Politischen. Dort zeitigt die Diversität gegenteilige Effekte, nämlich zunehmende Erstarrung und eine Verengung der praktikablen Perspektiven. An die Stelle des Kollektivnarzissmus mit seinen verbiesterten Exklusionen ist dort ein Kleingruppennarzissmus getreten, der kleinräumige Denkhemmungen absteckt. Im Grunde folgt er einer Dynamik, wie sie sich bei Sekten zeigt: Je kleiner der Verband, desto ausgeprägter die Abschottung. Wer seine Positionen nicht mehr durch eine umfassende Gemeinschaft gedeckt weiss, ist gezwungen, die eigenen Fetische besonders strikt gegen Kritik zu immunisieren. Die Aussicht auf Exklusivität, welche die Gruppe ihren Mitgliedern verspricht, erkaufen diese durch bedingungslosen Konformismus im Inneren.
Genau das lässt sich auch in der politischen Landschaft allenthalben beobachten: bei den grossen diskursiven Lagern, die immer kompromissloser ihren Parteilinien folgen; beim Tribalismus versprengter Randgruppen, denen ein isoliertes Einzelthema den Horizont setzt; und nicht zuletzt bei den forciert individualistischen Selbstinszenierungen, mit denen sich die Einzelnen unter dem Singularisierungsgebot zu profilieren haben. Allen gilt das Ganze als das Unwahre (Adorno), doch alle kultivieren sie einen Konformismus im Kleinen, der sich tendenziell jedem Ausgleich und Austausch entzieht. – Genau hier könnte ein erneuertes existenzialistisches Ethos ansetzen.
Wider den Konformismus im Kleinformat
Denn dagegen ging es einmal: gegen Konformismus, gegen Duckmäusertum und die passive Anpassung an gespurte Generallinien. Gegen all das hielten die Existenzialisten das Banner der Authentizität hoch; sie konnte nur gewinnen, wer den Mut hatte, aus der Herde auszuscheren und sich selbst in seiner besonderen Eigenheit zu zeigen. Das war in der Durchführung gewiss unbequem, einfach jedoch, was die grundsätzliche Orientierung betraf: Es gab da das Grosse Eine, das Unterwerfung forderte. Dagegen stand der revoltierende Eigensinn der Anderen. Beide Momente bildeten ein lineares Spannungsfeld, das dem Kompass konstant die Richtung wies. Man wusste, wo rechts und links war, konnte sich entweder an der Vergangenheit oder an der Zukunft ausrichten, und so waren Konformisten und Nonkonformisten zuletzt säuberlich sortiert.
Es war diese duale Ausgangslage, die den Gegenkulturen ihre Stosskraft verlieh und sie schliesslich die Verhältnisse umwälzen liess. Heute ist es anders: Bei der Fahrt durch die Diskurslandschaft zittern die Kompassnadeln, weil sich die verschiedensten Felder chaotisch überlagern. Der Block des Einen liegt in Scherben, seine Gravitation ist zerfallen. Entsprechend haben sich die Vektoren des Anpassungsdrucks vervielfältigt, und das in einer Weise, dass der Nonkonformismus der einen für billige Anpassung gelten kann, sofern man nur in ein anderes Bezugssystem wechselt. Die revoltierende Geste lässt sich mit beliebigen, selbst konträren Zielen verbinden. Das macht sie in letzter Konsequenz zur konservierenden Pose, nämlich zum Kniefall vor dem Credo in der jeweiligen Matrize. An dessen Glaubenssätze haben sich die Anhänger zu halten, wenn sie nicht als Stinkstiefel und Nestbeschmutzer ausgegrenzt werden wollen. Wo immer sie diskursiv andocken, sie werden verpflichtet auf fixe Zuschreibungen, die festlegen, wo die Freiheit liegt und was ihr als Matrix entgegensteht.
Genau gegen diesen parzellierten Konformitätszwang hätte sich der Geist eines erneuerten Existenzialismus zu wenden. Er müsste Einspruch erheben gegen die Fixierung und Abschottung der pluralisierten Weltbilder. Dementsprechend hätte er auch einzutreten für eine Wahrnehmung, die zwischendurch aus dem eigenen Diskursprogramm aussteigt, um sich der Sicht von Aussenstehenden zu öffnen.
Erdgebundenes Engagement
Das geht allerdings nicht von einem Punkt aus, welcher der diskursiven Landschaft entrückt wäre, nicht aus einer Höhenlage, wo man sozusagen frei über dem Hickhack zwischen den Matrizen schwebt und versucht sein könnte, paternalistisch deren Versöhnung anzumahnen. Einspruch gegen den Konformismus im Kleinformat erfordert vielmehr erdgebundene politische Teilhabe, das heisst ein vorgängiges Bekenntnis zu einer der Positionen sowie die grundsätzliche Identifikation mit Interessen, welche deren Anhängerschaft vertritt. Abstrakte Besserwisserei genügt nicht, es gilt den Kampf konkret durchzufechten; das aber kann ich nur im Inneren einer der Matrizen, nur in der Auseinandersetzung mit einem Konformitätsdruck, dem ich mich selbst auch aussetze. Ich habe Stellung zu beziehen, mich selbst in der Polit-Landschaft zu verorten, denn allein aus der Identifikation mit einer spezifischen Richtung gewinne ich das Gewicht, das meiner Kritik Nachdruck verleiht.
So äussert sich das neue existenzialistische Engagement letztlich in einer politischen Entscheidung, die allerdings statt zur bedingungslosen zu einer kritischen Solidarität führt, zu einer Solidarität, die sich eigene Wahrnehmung und Abstand gegenüber ideologischer Verengung vorbehält. Auch in diesem Punkt hatten es die klassischen Existenzialisten um einiges leichter: Ihr Engagement liess sich durch eine ebenso einfache wie generelle Negation bezeugen, allein schon durch die Absage an den bürgerlichen Konsens und den Verzicht auf entsprechende Sicherheiten. Die Vervielfältigung der Konformitätsansprüche zwingt auch den Widerstand, spezifischer zu werden.
Über den diskursiven Tellerrand
Die Gegenkulturen des 20. Jahrhunderts konnten einer monolithischen Werteordnung die Besonderheit der Individuen entgegenstellen. Das reichte, um die zentralisierte Macht zu zersetzen. Nachdem aber der homme en révolte zu einer ziemlich ordinären Programmroutine geworden ist, muss der Widerstand eine andere Richtung einschlagen. Es kann nicht mehr um die Absetzung von generalisierten Konventionen gehen. Ziel muss vielmehr die Relativierung jener verhärteten Gruppennormen sein, die derzeit eine offene politische Diskussion verhindern. Eine solche ist nur dann möglich, wenn wir wieder Menschen zuhören, die in anderen Partialwelten leben, wenn wir bereit sind, über den eigenen ideologischen Schatten zu springen und Einsichten, Erfahrungen oder Interessen anderer ernst zu nehmen – selbst dort, wo wir deren Sicht nicht teilen.
Der alte Existenzialismus hat das Geschäft der Spaltung betrieben, indem er Risse in einen festgefügten Block hämmerte. Einem erneuerten Existenzialismus kommt die Aufgabe zu, zwischen den Bewohnern verschiedener Matrizen zu vermitteln, zu sondieren, wo sich allenfalls Interesselagen überschneiden und zu prüfen, wieweit ein begrenzter Konsens möglich ist. Der Existenzialist heute erhebt Einspruch gegen die Reflexe und Denkautomatismen, die den Diskursen ihre Horizonte verkleistern. Dabei hat er aber nicht primär die individuelle Profilierung im Blick, sondern eine Öffnung der Blickwinkel.
Auch das haben die Wachowskis in ihrer Trilogie bereits angedacht: In «Matrix reloaded», dem zweiten Teil der Trilogie, muss NEO erkennen, dass er buchstäblich aus dem gleichen Stoff gemacht ist wie der Agent Smith. Am Ende des Dreiteilers, in «Matrix Revolutions», opfert er seine Eigenheit auf, versöhnt sich mit dem Gegenspieler und erlöst damit die Welt vom Gegensatz. Solch ein Wunder ist von verstärkter Kommunikation zwischen Gegenpositionen in der Realität nicht zu erwarten. Ein neu aufgelegter Existenzialismus wird sich deutlich von der Erlösungsperspektive lossagen; seine Erzählung kann auf kein letztes Telos mehr zusteuern. Das Ganze bleibt für ihn insofern das Unwahre, als er es nicht als schon fertig oder zumindest abschliessbar ansieht. Nur als Aufgabe kann Ganzheit ein verbindender Bezugspunkt sein: gewissermassen ein offener Raum, in dem Austausch stattfindet, von dem aber keiner sagen kann, wohin er führen wird.
Besser als die Verstockung, in der wir gegenwärtig leben, wäre es allemal. Die westlichen Gesellschaften stehen vor Problemen, die ohne Minimalkonsense schlicht nicht zu lösen sind: Das wacklige Wirtschaftssystem zittert der nächsten Krise entgegen, eine ökonomische, soziale und kulturelle Spaltung vergiftet das Klima und zu alldem heizen wir den Planeten auf. Angesichts dieser Herausforderungen ist das selbstgerechte Streicheln der eigenen politischen Identität keine Option mehr.
Dieser Artikel bildet den Abschluss der vierteiligen Serie unter dem Titel «Zeit der Gegenkulturen».
Teil 1: «Verschleierte Zwänge»
Teil 2: «Existenzialismus reloaded»
Teil 3: «Illusorisch gewordene Befreiungen»