Der erste Schritt für die Politiker, die Finanzgurus und uns alle ist zu sehen und anzuerkennen, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Die Euro-Krise ist eine echte historische Krise: einer der geschichtlichen Würgeprozesse, wo eine Gesellschaft von einem neuen Mix komplexer Hintergründe überrumpelt wird und sie erst in der und durch die Krise entdeckt. Ihre inkommensurablen Ingredienzien bestürmen uns gleichzeitig aus Ecken, für die wir blind waren. Währungspolitische und finanzielle Zwänge, politische Rücksichten, Parteitaktik, Demokratiemüdigkeit und Politikverdrossenheit, emotionale Volksstimmungen („keine Milliarden für diese korrupten Griechen“, „die Deutschen sind immer noch Nazis“), populistische Schlaumeier die diese Stimmungen aufheizen, um Wahlen zu gewinnen, pro- und antieuropäische Wallungen, die Gutachten der diversen Ratingagenturen, die minutenschnellen Reaktionen von Finanzmärkten und Börsen: dieses Tohuwabohu von Aspekten mischt sich zu einem Cocktail, den der gescheiteste Zeitgenosse nicht auf einen Blick erfassen kann.
Also, auch ihr ökonomischen Koryphäen: ein bisschen Bescheidenheit. Seit Monaten bietet ihr uns, jeder im Brustton des Besitzes der Wahrheit, eine Kakophonie von Diagnosen an. Selbst bei Nobelpreisträgern sind es punktuell-sektorale Analysen und Rezepte, von optimistischer Zuversicht bis zu hoffnungsloser Verdammung des Euro findet sich alles. Da habe auch ich als ökonomischer Laie den Mut, meine Überzeugung beizusteuern, dass eine Währungsunion nur in einem Staat mit einer zentralen Regierung funktionieren kann. Sie stammt aus dem intuitiven Gefühl eines Generalisten nach dreissig Jahren Beobachtung der europäischen Politik als Brüsseler Korrespondent und weiteren fünfzehn als Pensionär.
Auf zum EU-Bundesstaat?
Also: Eine Währungsunion ist nur mit einer starken Regierung lebensfähig. Doch auch dieser These begegnen sofort viele offene Fragen, Optionen und Alternativen. Muss das Territorium der Währungsunion mit einem Staat identisch sein? Können aus selbständigen Staaten zusammengesetzte Währungsunionen funktionieren? Was heisst „Regierung“? Eine zentrale, zentralistische Instanz? Oder reicht ein kollektives Führungsorgan selbständiger Staaten wie in der EU der Ministerrat? Was für eine Regierung auch immer: Kann sie den Währungssektor isoliert dirigieren? Oder braucht es zentrale Führung auch auf allen benachbarten Sektoren: eine gemeinsam geführte Wirtschafts-, Banken-, Steuer-, Budget-, Schulden-, Subventions-, Konjunktur-, Wachstums-oder-Austerity-Politik?
Und „gemeinsam geführt“, was heisst das genau: Welche neuen Institutionen müssen dafür erfunden werden? Nur in der Euro-Zone oder/und in der ganzen EU? Reicht eine „koordinierte“, von den Euro-Staaten im nichtobligatorischen Konsens erarbeitete Führung all dieser Materien? Oder (meine Intuition): Führen eine Währungsunion und Euro-Politik, die überzeugen wollen, am Ende doch zwingend zu einer gemeinsamen Souveränität in allen wichtigen Entscheiden der Innenpolitik, auch in der Arbeitsmarkt-, der Sozial- und der Gesellschaftspolitik? Also zum Bundesstaat? Oder finden die Völkerrechtler, gefolgt von den Politikern, für diese Gemeinschaft „sui generis“ wieder eine subtile Konstruktion, zwar straffer als die gegenwärtigen EU-Institutionen und –Prozeduren, aber noch unter der Ebene „Bundesstaat“? Und dann noch ein gewaltiges Problem: Jede solche Regierung muss auch demokratisch kontrolliert, jeder ihrer Beschlüsse demokratisch legitimiert werden. Das EU-Parlament hat viel mehr demokratische Rechte als seine Wähler wahrnehmen, aber für diese Aufgabe müssten sie stark ausgeweitet werden.
Befehle aus Brüssel
Zwei Fragen kitzeln mich. Der Binnenmarkt der EU braucht keine blitzschnellen Antworten, der wochenlang verhandelnde Ministerrat und die EU-Kommission als schnell reagierendes, aber nur ausführendes Organ genügen. Auf Attacken von Finanzmärkten muss aber innert Stunden oder Minuten reagiert werden, das kann nur ein zentrales, nicht von Verhandlungen abhängiges Führunggremium.
Und dass eine Währungs-. Banken-, Fiskal-, Finanz- und Wirtschaftsregierung ausschliesslich auf diesen Sektoren regieren kann, kann ich mir nicht vorstellen. Die Budgetzwänge und die zentral beschlossenen Massnahmen hätten einschneidende Folgen für viele Millionen von Bürgern in ihrem Alltag, Beruf und Einkommen: auf die Subventionen und Sozialleistungen nicht nur des Staates, sondern auch der Gemeinden, auf die Pensionen, die Löhne, den Inflationsindex und den Teuerungsausgleich, das Gesundheitswesen, die ganze Sozial- und Arbeitspolitik. Sie sind in jedem EU-Land in Jahrzehnten umkämpfter und immer feiner ziselierter Politik zu einem besonderen Sozialsystem gewachsen und prägen ihrerseits wieder eine kaum mehr bewusste und darum ungeheuer träge Volksmentalität. Und nun soll man dieses nationale Muster einer europäischen Behörde unterstellen? Sich aus „Brüssel“ befehlen lassen, was man mit Löhnen, Pensionen, dem Teuerungsausgleich zu tun hat? Die Zustimmung aller Volksmehrheiten für solche Beschlüsse zu gewinnen wird eine Herkulesarbeit sein.
Ein Hoffnungsschimmer
Erratische Funken verrieten in den letzten Monaten, dass EU-Politiker die Herausforderung einer EU-Reform ahnen. Angela Merkel sprach sich schon letzten September im Bundestag für eine Änderung der EU-Verträge aus, um künftige Krisen zu vermeiden (NZZ 8.9.2011). Mario Monti warnt vor populistisch-antideutschen Exzessen in Italien, wenn die EU ihre Politik nicht ändere. Der spanische Premier Rajoy sieht „den einzigen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise ... in einem Bekenntnis zu mehr Europa“ (NZZ 4.6.2012). François Hollande sagte der deutschen Kanzlerin erst eben: „Es kann keinen Souveränitätstransfer geben ohne Verbesserungen in der Solidarität“ (International Herald Tribune 26.6.2012). Man muss diesen Ausspruch umdrehen, dann sagt er: Abtretungen französischer Souveränität an die EU sind möglich, wenn Deutschland mehr Solidarität zeigt.
Diese Gedankenblitze inmitten von Feuerwehrübungen zur Rettung des Euro sind ein erster Hoffnungsschimmer: Die Führer der tonangebenden EU-Staaten wissen, dass ein Ausweg aus der Krise „mehr Europa“ verlangt. Und am EU-Gipfel vom 28. 29.Juni reden sie darüber: über das Papier, in welchem ihr Präsident Van Rompuy konkretere Vorschläge macht. Ganz ohne Chancen sind sie nicht, denn der kompromisserfahrene Belgier hat ein Reformmenü zusammengestellt, welches keinen Politiker total vor den Kopf stösst und die Linien eines möglichen Kompromisses zu umreissen versucht. Ob die EU-Leader dann zum Verhandeln und zum Handeln kommen, werden die Monate bis Ende Jahr zeigen.
Doch abgesehen vom Wunsch nach mehr EU-Demokratie schlägt auch Van Rompuy bloss eine rein finanzpolitische Stärkung von EU-Organen vor, und er definiert ihre Struktur und Kompetenzen nicht einmal näher. Mit so begrenzten Massnahmen können die Euro-Politiker noch eine zeitlang dem Abgrund entlang tänzeln, aus seiner tiefen Krise werden sie den Euro nicht reissen. Der Euro braucht die Einbettung in eine breitere, kräftigere, griffigere, kompaktere, solidarischere, sich einem Bundesstaat nähernde EU. Solche Reformen sind nicht übers Knie zu brechen, wir müssen geduldig sein. Aber endlich über sie grundsätzlich, seriös und visionär diskutieren, das müssen alle, denen die EU am Herzen liegt, von den Verantwortlichen penetrant verlangen. Erste Gelegenheit an diesem Gipfel
Wesentliche Informationen zu diesem Artikel verdanke ich Marianne Truttmann, Brüsseler Korrespondentin diverser Schweizer Zeitungen