Nach dem Tod eines 17-Jährigen durch eine Polizeikugel bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre gerät in Frankreich seit vier Tagen fast alles ausser Kontrolle. Es ist, als hätten die Jugendlichen in den Vorstadtghettos des gesamten Landes der Polizei und letztlich dem Staat den Krieg erklärt.
Die Ereignisse der letzten vier Tage wirken wie ein Lauffeuer, das momentan von keinem Präsidenten, keiner Premierministerin, keinem eilig einberufenen Krisenstab und selbst von 40’000 Polizeibeamten im nächtlichen Sondereinsatz mehr aufzuhalten ist.
Die Vorstadtjugend zwischen Lille und Marseille, zwischen Bordeaux und Strassburg fordert die französische Zentralmacht heraus und sorgt für allnächtliche Aufstände, wie das Land sie in dieser Verbreitung und Intensität noch nicht erlebt hat – nicht einmal im berühmten Herbst 2005, als Frankreichs Vorstädte Wochen lang brannten.
Besonders aufhorchen lässt die Zielstrebigkeit der Attacken. Nur ein Beispiel: In einer einzigen Nacht sind landesweit fast 100 Polizeistationen mit Wurfgeschossen oder Feuerwerkskörpern angegriffen und zum Teil schwer beschädigt worden. Eine in Reims wurde gar gestürmt; dabei wurden Uniformen gestohlen
Ebenso bemerkenswert: Anders als während der Vorstadtkrise vor 18 Jahren verlassen die Aufständischen diesmal gelegentlich auch ihre Vororte und tragen ihre Wut, ihre Frustrationen und ihre geballte Gewalt ins Zentrum der Städte.
So geschehen etwa in Bordeaux auf der noblen «Place de la Bourse», in Strassburg, dort selbst am helllichten Tag, auf der «Place Kleber», wo ein Apple-Store geplündert wurde – und vor allem auch in Paris.
Im absoluten Zentrum der Metropole, in «Les Halles», zugleich ein gigantischer Verkehrsknotenpunkt für die gesamte Zwölf-Millionen-Region, wurde das riesige Geschäft und Aushängeschild eines Sportartikelherstellers verwüstet, das Luxuskaufhaus «Samaritaine» in der Rue de Rivoli kam mit einem blauen Auge davon, die Place de la Concorde vor dem Luxushotel Crillon und der US-Botschaft, war durch eine wilde Demonstration stundenlang blockiert.
Und, ganz nebenbei: Das mit 80’000 Fans ausverkaufte Konzert von Mylène Farmer im Stade de France im nördlichen Pariser Vorort Saint-Denis, wurde aus Sicherheitsgründen annulliert.
Konsequenzen
Die Schäden im Land, auch die symbolischen, sind nach nur vier Tagen der Proteste immens. In einer nördlichen Pariser Vorstadt ist das Rathaus fast vollständig abgebrannt, Dutzende kommunale Einrichtungen, wie Bibliotheken sind Opfer der Flammen geworden. Gleichzeitig nehmen seit gestern die Plünderungen von Einkaufszentren in Dutzenden Vorstädten deutlich zu. In Marseille wurde sogar ein Waffengeschäft ausgeraubt, der Bürgermeister ruft verzweifelt nach zusätzlichen Einsatzkräften.
Gleichzeitig fahren in den Vorstädten des Grossraums Paris nun schon die dritte Nacht nach 21 Uhr keine Busse und keine Strassenbahnen mehr, einige Kommunen haben nach 21 Uhr Ausgangssperren verhängt. Die extreme Rechte, aber auch der Chef der konservativen Partei, «Les Républicains», Eric Ciotti, fordern, den Notstand auszurufen. Dabei müssten sie sich eigentlich daran erinnern, dass der deklarierte Ausnahmezustand bei den Vorstadtunruhen im Jahr 2005 de facto gar nichts gebracht hat – die überstrapazierten Ordnungskräfte hatten kaum die Mittel, dafür zu sorgen, dass die Einschränkungen auch eingehalten werden.
Relative Hilflosigkeit der Politik
Gewiss, der Innenminister zeigt sich praktisch Tag und Nacht im Einsatz und verliest allmorgendlich ein eher makabres Zahlenwerk: Hier 279 verletzte Polizisten, dort rund 1’000 Festnahmen in einer Nacht, insgesamt mehr als 2’500 Brände gelegt. Unter den Festgenommenen, und das lässt aufhorchen, eine klare Mehrheit von jungen Menschen zwischen 14 und 18 Jahren.
Präsident Macron, der nun nach Gelbwesten und Covid zum dritten Mal sich als Krisenmanager präsentieren darf, hat am Donnerstag einen EU-Gipfel in Brüssel, kaum dass er angekommen war, gleich wieder verlassen, um zum Krisengipfel im Élysée zu eilen. Gestern appellierte er an die Eltern der Vorstadtjugendlichen und an ihre Verantwortung, ihre Kinder im Zaum zu halten. Dabei ist seit Jahrzehnten notorisch bekannt, dass die Eltern in den Problemvierteln des Landes ebenso gut wie keinen Einfluss mehr auf ihre Jugendlichen haben.
Zur Stunde steht aber sogar in Frage, ob Präsident Macron morgen zu einem lange vorbereiteten, dreitägigen Staatsbesuch, dem ersten seit 23 Jahren, nach Deutschland aufbrechen wird.
Derweil hat man nun sogar Frankreichs Fussball-Superstar Kylian Mbappé eingespannt, damit der Sohn des Pariser Vororts Bondy mit seinem enormen Einfluss unter den Vorstadtjugendlichen mit zur Befriedung beiträgt. Als Kapitän der französischen Nationalmannschaft hat der 24-Jährige in der Nacht per sozialen Netzwerken dazu aufgerufen, die Gewalt zu beenden und den «Prozess der Selbstzerstörung» zu stoppen.
Ein Problem mit der Polizei
Klar ist: Der Tod des 17-jährigen Nahel M. durch den Schuss aus einer Polizeipistole bei einer Verkehrskontrolle hat ein Fass zum Überlaufen gebracht. Das war der berühmte Funke, der eine seit Jahren extrem angespannte Situation zwischen Polizei und Bewohnern der französischen Vorstädte zur Explosion brachte.
Das schockierende Video von der Verkehrskontrolle, das eindeutig zeigt, dass der Polizeibeamte nicht aus Notwehr gehandelt hat, musste unter Millionen Vorstadtbewohnern mit dunklerer Hautfarbe einfach die Reaktion auslösen: Schon wieder einer von uns.
Denn es ist ein Fakt, dass Frankreichs Polizei bei Verkehrskontrollen allein in einem Jahr 13 Menschen erschossen hat und dass es sich bei den Getöteten fast ausschliesslich um Franzosen mit Migrationshintergrund handelte. Selbst die Menschenrechtskommission der Uno hat gestern an Frankreich appelliert, sich des Problems des Rassismus bei seiner Polizei anzunehmen, eine Äusserung, die Paris umgehend und empört zurückgewiesen hat.
Was aber bleibt, ist, dass Frankreichs Polizei, was den Schusswaffengebrauch und den Einsatz anderer Mittel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung angeht, im europäischen Vergleich katastrophal abschneidet und die Verhältnismässigkeit beim Einsatz von Polizeigewalt seit Jahren regelmässig in Frage gestellt wird.
Man denke nur an den Einsatz von Gummigeschossen während der Gelbwestenbewegung, durch welche Dutzende Demonstranten ein Auge verloren haben. Geschosse, die in keinem anderen europäischen Land zugelassen sind.
Man darf insgesamt ein wenig den Eindruck haben, dass Frankreichs Regierung in den letzten Jahren seine Polizei etwas zu weit von der Leine gelassen hat und sie nicht mehr wieder einfangen kann. Eine Polizei, deren Mitglieder seit Jahren bei Wahlen zu weit über 50 Prozent für Marine Le Pen stimmen, deren Beamte im Übrigen aber den schönen Beinamen «Gardien de la Paix» tragen – Wächter des Friedens. In dem aufgewühlten und angespannten Klima, das derzeit im Land herrscht, wäre diese Funktion des Friedenswächters nötiger denn je – doch nach der Erschiessung des 17-jährigen Nahel M. durch eine Motorradstreife herrscht in den Vorstädten ganz eindeutig die Parole vor: «Die Polizei tötet» und die Fronten sind verhärteter denn je.
Was Frankreichs Politiker mit Präsident Macron an der Spitze angesichts der gewalttätigen Aufstände vielleicht am meisten beunruhigen dürfte, ist die Tatsache, dass die lange dauernden Vorstadtunruhen 2005 im November stattgefunden hatten, dass sie diesmal aber zu Beginn eines langen Sommers ausgebrochen sind. Und die Sommer sind in Frankreichs Vorstädten, wo nur wenige in Urlaub fahren können, seit Jahrzehnten auch so schon besonders heiss.