Vor drei Jahren wurde ein kleiner Off-Bollywood-Film namens Peepli Live zu einem unerwarteten Publikumserfolg. In einem zentralindischen Dorf namens Peepli weiss eine Bauernfamilie nicht mehr, wie sie ihre Schulden zurückzahlen soll. In ihrer Verzweiflung kommt sie auf die Idee eines ...Selbstmords: Es herrscht Wahlkampf, und falls sich der junge Nathu opfert, wird dies einen solchen Aufruhr geben, dass die Regierung der Familie die Schuld vergeben wird.
Der Plan findet den Weg in eine Lokalzeitung, ein Hauptstadt-Blatt nimmt die Story auf, und plötzlich ist das Dorf umringt von TV-Wagen mit Satellitenschüsseln. Die Regierung bietet der Familie Geld an, die Opposition will den Bruder des künftigen Selbstmörders auf ihre Kandidatenliste nehmen, die Fernsehkanäle überbieten sich, um Nathu zu interviewen und den Selbstmord exklusiv zu übertragen.
Bizarre Reality TV Show
Doch plötzlich verschwindet Nathu. Der Dorfpräsident hat ihn entführt, um von der Opposition oder einer TV-Anstalt ‚Lösegeld’ zu erpressen. Schliesslich findet ein Reporter das Versteck. Im Durcheinander fängt die Hütte Feuer, der Reporter kommt um, und Nathu entschlüpft der Brandstätte – und der eigenen Schlinge. Der Film endet mit ihm als Tagelöhner in Gurgaon.
Letzte Woche war Peepli Live wieder in aller Mund, als sich dessen Story in Delhis Jantar Mantar-Park – Indiens Hyde Park Corner – in einer bizarren Reality TV Show zu wiederholen schien – diesmal mit tragischem Ausgang. Eine Veranstaltung der AAP – der Partei des Gewöhnlichen Manns – gegen das Landgesetz der Regierung hatte viele Bauern aus der Region angezogen. Darunter war Gajendra Singh, ein Bauer aus Dausa in Rajasthan.
Zwei Kilo in einem Plastik-Kübel
Wie Nathu fand auch Gajendra keinen Ausweg mehr aus dem Teufelskreis von Landparzellierung, Missernten und Verschuldung. Es begann mit der Aufteilung des Bodens zwischen Vater und Onkel; darauf folgte eine weitere Gütertrennung zwischen den drei Brüdern. Gajendra sah sich gezwungen, teures Saatgut zu kaufen. Er installierte eine Pumpe, pachtete Neuland hinzu, obwohl die drei letzten – guten – Weizenernten wegen der tiefen Mindestpreise keinen Nettogewinn abgeworfen hatten.
Doch dann spielte das Wetter nicht mehr mit. Im März, kurz vor der Ernte, gab es in Nord- und Westindien Regen und Hagel. Grosse Teile der Ernten wurden zerstört. Ich befand mich letzte Woche in Westrajasthan. In einer Hütte im Dorf Hoparadi zeigten uns die Bäuerinnen die Kümmel-Ernte, die sie eingefahren hatten. Sie lag in einem Plastik-Kübel, vielleicht zwei Kilogramm schwer, der Ertrag eines Feldes von rund eintausend Quadratmetern.
Das Schweisstuch um den Hals
Als Gajendra Singh hörte, dass die AAP in Delhi eine Veranstaltung gegen eine Verwässerung des Landverkauf-Gesetzes plante, schloss er sich einer Gruppe anderer Farmer an, denen der Staat das Land zwangsweise abgekauft hatte, um Platz für den Flughafen von Ajmer zu schaffen. Sie hatten zwei Jahre auf den versprochenen Real-Ersatz gewartet; als sie das Land schliesslich zugeteilt bekamen, stellte sich heraus, dass dieselben Parzellen mehreren Bauern gleichzeitig überschrieben worden waren.
Es ist unklar, ob Gajendra Singh seinen Selbstmord plante, oder ob er einen solchen nur androhen wollte. Er stieg auf einen Baum, fiel aber nicht auf, da viele andere dies ebenfalls taten, um einen Blick auf die Tribüne zu ergattern. Einmal oben auf einer Astgabel, knüpfte er sein Schweisstuch an einen Ast und band es sich um den Hals, in einer Hand einen Besen – dem Parteisymbol der AAP – in der andern ein Handy. Er rief laut in die Zuschauer unter ihm, er werde sich umbringen, diese lachten, ermunterten ihn, wohl in der Annahme er meine es nicht ernst.
Selbstmord
Dies dachte auch der Bruder zuhause in Dausa, dem Gajendra vom Baum aus anrief. Er sagte ihm, er solle den Fernseher anstellen. Als dieser Minuten darauf vor dem Bildschirm sass, war es bereits geschehen: Gajendra baumelte an einem Ast, der vielfarbige Turban – der Stolz jedes Rajasthan-Bauern – immer noch auf dem Kopf. Es ist unklar, ob seine Drohung ernst gemeint war, oder ob er, von unten zu weiteren Drohgesten angefeuert, den Halt verlor und im Strang hängenblieb. Als andere Zuschauer ihn aus dem Stranguliertuch lösten, fiel er auf den Boden hinunter. Neben der Leiche fand sich eine Selbstmordnotiz. Er beende sein Leben, weil er ruiniert sei. Er schloss mit einem in ganz Indien populären Spruch: Jai Jawan, Jai Kisan! – ‚Hoch lebe der Soldat! Hoch lebe der Bauer!’.
Was unzweifelhaft ist: Gajendra Singh stand unter dem Einfluss der zahlreichen Bauern-Selbstmorde, die das Land seit zwei Jahren erneut heimsuchen. Allein in Maharashtra betrug die Zahl im letzten Jahr 565, in den letzten zwei Monaten kamen knapp fünfzig hinzu. Bei den meisten war es keine Kurzschlussreaktion, wie man sie bei Gajendra Singh noch annehmen kann. Im Gegensatz zu Rajasthan hatten die beiden letzten Monsune in meinem Wohnstaat nur dürftige Regenfälle gebracht. Bereits im Frühjahr 2014 hatten Regenfälle und Hagel grosse Teile der Ernte vernichtet. Schuldentilgung war undenkbar, noch bevor die jüngsten Regenfälle ihr Zerstörungswerk verrichteten.
Herzblut für den Bauernstand?
Mein Nachbar in Awas weiss ein Lied davon zu singen. Er spritzte seine Mangobäume viermal gegen Pest – es nützte wenig: Der Ernteausfall liegt bei 40 Prozent. Noch schlimmer geht es den Bauern, die aus Verzweiflung auf Kartoffel umstiegen. Die plötzliche Überproduktion führte zu einem völligen Preiszerfall. Mit 5 Rupien pro Kilo konnten sie die Ernte gleich stehen lassen.
‚Es lebe der Bauer!’. Wenn sich ein Slogan zynisch anhörte, dann in diesen Tagen. Dennoch liessen es sich die Politiker nicht nehmen, den Tod von Gajendra Singh einander in die Schuhe zu schieben und zu versichern, ihr Herz blute für den Bauernstand. Mit seiner gutgeölten Rhetorik versicherte Premierminister Modi, das wichtigste Ziel seiner Regierungspolitik seien die Bauern. Rahul Gandhi von der Kongress-Opposition versuchte ihn noch zu übertrumpfen: Er sei nur in der Politik, um den Armen zu helfen. Die Medien sind nicht besser. Peepli Live war auch eine Satire auf dieses Gewerbe, das brennend an einem Selbstmord interessiert ist, aber kaum an dessen Ursachen.
„Vom Podest des Elends herunterholen“
Dabei wäre es höchste Zeit, dass sich die Politik der Bauernfrage annimmt. Denn noch immer lebt über die Hälfte der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Diese produziert aber nur 15% des Wirtschaftsprodukts. Und der Klimawandel wird das Missverhältnis, das sich in diesen beiden Zahlen ausdrückt, noch verschärfen. Ein bissiger Kommentar in der Zeitung Mint vom Wochenende zitiert aus einem Untersuchungsbericht, der die Krise des Bauernstands beim Namen nennt: „Armut, Verschuldung, Klima, Bevölkerungswachstum“. Der Bericht stammt aus dem Jahr ...1878. Der Kommentar endet folgerichtig mit dem Aufruf: „Nach beinahe anderthalb Jahrhunderten müssen wir endlich eine simple Tatsache anerkennen: Wir können unseren Bauern nicht helfen. Es ist an der Zeit, sie vom Podest ihres Elends herunterzuholen und ihnen neue Jobs zu finden“.