Die katholische Kirche kann man sich ohne Konflikte kaum vorstellen. Ein starr-hierarchisches System reibt sich permanent an Forderungen der liberalen Moderne. Doch im Vergleich etwa zu den Auseinandersetzungen mit kritischen Theologen, mit aufmüpfigen Kirchenvolksbewegungen oder mit der Führungsriege im Bistum Chur ist das, was gegenwärtig an die Grundfesten dieser Kirche brandet, ein Tsunami, dessen Ende nicht absehbar ist. Was ist neu am gegenwärtigen Sturm?
Geschwür der Leibfeindlichkeit
Es sind verschiedene Verwerfungen und Konfliktlinien, die sich überlagern. Der sexuelle Missbrauch von Unmündigen vor allem durch Priester empört die Öffentlichkeit seit zwei Jahrzehnten. Doch neuere Untersuchungen in verschiedenen Ländern haben ein Ausmass zutage gefördert, das unvorstellbar ist. Es hat dem kirchlichen Kader, das mit Sexualmoral nie gegeizt hat, unermesslichen Schaden zugefügt.
Wenn Bischof Felix Gmür kürzlich in einer Fernsehsendung forderte, dass man Missbrauch, Zölibat und Sexualmoral sorgfältig auseinanderhalten müsse, ist das theologisch zwar nachvollziehbar. Dennoch ist beizufügen, dass alle drei auf dem gleichen Misthaufen gewachsen sind. Und wer an einem Ort ausmisten will, muss alle drei anpacken.
Katastrophenmeldungen schwappen normalerweise auf und werden wieder vergessen. Doch in diesem Fall handelt es sich um ein Geschwür, das Jahrhunderte alt ist, ja das Christentum fast seit Beginn begleitet. Es ist die Abwertung der Leiblichkeit des Menschen. Beim Kirchenvater Augustinus gipfelt sie in der Behauptung, jeder Mensch habe eine Erbsünde, allein aufgrund der Tatsache, dass er durch einen sexuellen Akt gezeugt wurde.
Diese Theorie – später sogar dogmatisiert – hat unsägliches Leid angerichtet, nicht nur direkt in einem verqueren Verständnis der eigenen Sexualität und einer entpersonalisierten Sexualpraxis, sondern auch indirekt in der Abwertung der Frauen und in der Überbewertung des Zölibats. Wer meint, diese Geschichte lasse sich durch kurzfristige Massnahmen und eine Null-Toleranz-Politik aus der Welt schaffen, ist naiv. Hier haben die Kirchen noch Jahrzehnte der Aufarbeitung vor sich.
Geschichtlichkeit der Wahrheit geleugnet
Die zweite Konfliktlinie hat ihre Wurzeln in einer nicht weniger langen Geschichte. Es ist der Streit um den wahren Glauben, um dogmatische Rechtgläubigkeit, um eine absolut gesetzte Tradition, welche die Geschichtlichkeit jeder Wahrheit leugnet. Den Fundamentalismus haben Christen in Nordamerika erfunden. Inzwischen ist er ein Krebsübel aller Religionen.
Zugespitzt hat sich der Streit in der katholischen Kirche im Kontext der Seelsorge für Geschiedene und Wiederverheiratete. Hier hat sich das fundamentalistische Wahrheitsverständnis regelrecht in eine Sackgasse verrannt. Papst Franziskus hat in einer Fussnote zum ausführlichen Lehrschreiben einen kleinen Türspalt geöffnet. Und schon wird ihm Verrat an der tradierten Lehre über die Unauflöslichkeit der Ehe vorgeworfen. Jene, die sich lange brüsteten, katholisch und also päpstlich zu sein, haben, indem sie den Papst der Häresie anklagten, ihre Scheinheiligkeit offenbart. Sie sind genauso lange päpstlich, als der Papst ihre Meinung vertritt. Wer einen vergleichbaren Vorgang festmachen möchte, muss weit in die Geschichte zurückgehen.
Höhepunkt der Abschottung
Man kann in guten Treuen behaupten, dass die christliche Kirche am Vorabend der Reformation allen Mängeln zum Trotz als aufgeschlossene und moderne Institution wahrgenommen wurde. Mit seinem Kampf gegen die reformatorischen Vorstösse hat sich jedoch der Katholizismus zunehmend eingekapselt. Und das Trauma, das die Religionskritik der Aufklärung hinterliess, ist bis heute nicht überwunden. Die Dogmatisierung des Papsttums im Ersten Vatikanischen Konzil war ein Höhepunkt abgeschotteter Selbstgenügsamkeit.
Den Dialog mit den anderen Kirchen und Religionen und mit der modernen Welt hat erst das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65) wieder ermöglicht. Doch die Chance wurde vielerorts vertan. Zwei Päpste sind während eines Drittel-Jahrhunderts rückwärts gerudert: Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Heute befinden wir uns in der absurden Situation, dass konservative Rechthaber um Erzbischof Carlo Maria Vigano den dogmatisch nicht weniger konservativen Papst zum Rücktritt auffordern – nur weil er versucht, dogmatische Starre durch pastorale Klugheit und Empathie zu mildern. Und weil er die Abschottung rigoros bekämpft: „Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein (...) Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist, lieber als eine Kirche, die sich bequem an ihre eigene Sicherheit klammert und darum krank ist.“
Kampf innerhalb der Hierarchie
Damit sind wir bei der dritten Konfliktlinie. Der fatale moralische Abgrund, den die Sexualverbrechen sichtbar machen und für den rechtgläubige Hierarchen nicht weniger Verantwortung tragen, wird instrumentalisiert, um Papst Franziskus zu desavouieren. Das Vertuschen dieser Verbrechen und die Schonung der Täter war lange Zeit eine so gängige Praxis in der Hierarchie, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn Erzbischof Jorge Mario Bergoglio in Argentinien konsequent einen anderen Weg beschritten hätte. Dass er auch noch als Papst ein Auge zugedrückt hat, ist ein Vorwurf, der bis jetzt leider nicht aus der Welt geschafft wurde und wie bei anderen Entscheidungen ein ambivalentes Bild des Papstes hinterlässt.
Um solche Beschuldigungen tobt der gegenwärtige Kampf im Vatikan und ausserhalb seiner Mauern. Man kommt um die Vermutung nicht herum, dass die Ankläger durch dogmatische Manöver von eigenen Verfehlungen ablenken wollen. Der Streit zwischen Bischöfen, Kardinälen und Päpsten ist für Zeitgenossinnen und Zeitgenossen gewöhnungsbedürftig, nachdem sie über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, nur eine geschlossene Phalanx der höheren Hierarchie kennengelernt haben. Der Streit lähmt die ganze Kirche, und es gibt keine Gewähr, dass die Kirche aus ihrer selbstverschuldeten Misere herauskommt. Die „Pforten der Hölle“ sind Mächte in ihrem Innern.
Rückschlag in den Beziehungen zu Juden
Eine vierte Konfliktlinie muss erwähnt werden, auch wenn sie einen innertheologischen Disput berührt. Auf Betreiben von Kardinal Kurt Koch hat sich Alt-Papst Benedikt XVI. zu einer Fehde hinreissen lassen. Entgegen der neuen Sicht auf das Judentum, die das Zweite Vatikanische Konzil geöffnet hat, relativiert er die Verheissungen des Alten Testamentes an das Judentum und stellt damit die katholische Kirche über das Judentum.
Als ob nicht schon Paulus im ersten Korintherbrief klar festgelegt hätte: „Nicht über das hinaus, was [im Alten Testament] geschrieben steht“ (1 Kor 4,6). Da ist Paulus sehr konsequent, auch wenn er sonst mit seinen jüdischen Glaubensbrüdern nicht zimperlich umging. Benedikt XVI. hintertreibt mit seiner Position im interreligiösen Dialog die offene Haltung des Franziskus. Die Verstörung im Judentum und im jüdisch-christlichen Dialog ist erheblich, und recht besehen beschädigt diese Position jeden Dialog auf Augenhöhe.
Beschädigte Glaubwürdigkeit
Die Verwerfungen in der katholischen Kirche haben manch weitere Dimension. Die aufgezeigten Linien machen aber klar, dass wir vor einer Kirche stehen, deren Vertreter vom hohen Thron heruntersteigen müssen. Sie kommen nicht umhin, in Fragen der Dogmatik und Sexualmoral neue Wege zu beschreiten, soll die Kirche insgesamt wieder glaubwürdig werden. Die genannten Postulate zielen auf die Strukturen der Kirche.
Theologinnen und Theologen haben die Dogmen des Ersten Vatikanischen Konzils meist als ein Problem der Lehre betrachtet. Inwiefern kann man aufgrund des Neuen Testaments behaupten, der Papst sei unfehlbar und alle Bischöfe hätten ihm Gehorsam zu leisten? Spätestens im Jahr 2018 wissen wir, dass die Nebenfolgen dieser Dogmen noch viel verheerender sind als der römische Zentralismus selber: Die Absolutsetzung der kirchlichen Autorität verhindert Kontrolle, Korrektur und Ausgleich. Das ist der tiefste Grund, warum Kinderschänder so lange ihr Unwesen treiben konnten.