Vielleicht hat er’s getan, vielleicht auch nicht. Vielleicht hat ein italienischer Clown in Zürich dieses Jahr in einem Hotelzimmer einem 15-jährigen Mädchen Zungenküsse gegeben. Vielleicht auch nicht. Wir wissen es nicht. Es gibt keinen Gerichtsentscheid, kein Geständnis. Aber unsere Deutschschweizer Boulevardzeitung «Blick» hat kurz gezeigt, wie machtvoll die vierte Macht im Land ist. Mit wenigen Beiträgen wurde der Familienvater zum Pädophilen abgestempelt. Später hechelte dann auch noch die «SonntagsZeitung» hinterher und reichte weitere «brisante» Hintergrundinformationen nach. Letzten Samstag dann die klassische Reaktion des Beschuldigten: Interview und – natürlich – Dementi.
Frage des öffentlichen Interesses
Der Mann ist weltberühmt und ergo eine Person des öffentlichen Interesses. Personen des öffentlichen Interesses – ob sie dieses Kriterium erfüllen, entscheiden Journalisten meist nach eigenem Gutdünken – haben keine Rechte. Sie können zu jeder Tages- und Nachtzeit fotografiert, gefilmt, abgehört werden. Ihr Leben gehört der Öffentlichkeit. Wenn der Verdacht, besser gesagt die Möglichkeit besteht, dass sie etwas getan haben könnten, was die Gesellschaft in Erregung versetzen kann, dann werden sie umgehend auf die Titelseite gezerrt und nicht nur angeklagt, sondern sofort verurteilt. Am Schluss solcher widerlicher Schmierenstücke steht das hämische Sätzchen: «Es gilt die Unschuldsvermutung.»
Jeder Journalist weiss natürlich, dass die Ehre einer Person nachhaltig ruiniert ist, wenn ihr vorgeworfen wird, was dem Clown vom «Blick» vorgeworfen wurde. Wobei der «Blick» und alle anderen Medien selbstverständlich nichts vorwerfen, sondern nur Fragen stellen: «Hat er das Mädchen ins Hotelzimmer gelockt?» «Warum wurde er erst nach der letzten Vorstellung verhaftet und warum ist er schon wieder frei?» «Hat ihm sein Prominentenstatus geholfen?» «Warum schweigt er?» Und so weiter.
Vielleicht bringt er sich noch um
Das ist unsäglich. Denn niemand weiss, ob die Anschuldigungen berechtigt sind. Sind sie es, dann wird es ein Urteil geben. Nach dem Schuldspruch kann über den Mann hergezogen werden. Sind sie es jedoch nicht, dann wurde ein unschuldiger Mensch ruiniert. Die Journalisten aber, welche diese Schandtat zu verantworten haben, der Chefredakteur und auch der Verleger: sie alle werden sich einen Kaffee am Automaten holen und sagen: «Schade, war eine hübsche Story. Promiclown lockt Mädchen in Zürcher Hotelzimmer und zeigt ihm Zungenküsse. Vielleicht bringt er sich ja um. Wäre noch cool.»
Ich finde, dass Journalisten und ihre Vorgesetzten für solche Taten angeklagt und verurteilt werden sollten und zwar mit Gefängnisstrafe. Denn keiner dieser primitiven Schreiberlinge und Manager kann sagen, dass er sich der Folgen solcher Artikel nicht bewusst gewesen ist.
Verleger mit riesiger Verantwortung?
Was mich am allermeisten enttäuscht, ist in diesem Fall die Tatsache, dass Michael Ringier solche journalistischen Killeraktionen kommentarlos zulässt. Denn ausgerechnet er hat in einem Interview der Aargauer Zeitung im April 2015 auf die Frage, ob er als Verleger nur Einfluss, aber keine Verantwortung habe, geantwortet (Zitat): «Ganz im Gegenteil, ich habe eine riesige Verantwortung. Ich verantworte, was Journalisten wie Sie schreiben. Medienunternehmen haben eine grosse Wirkung nach aussen. Der Badener Stadtammann Geri Müller kann Ihnen ein Liedchen davon singen.»
Ganz offenbar hat Michael Ringer in diesem Interview ein seltsames Verhältnis zur Wahrheit. Es muss ihm absolut egal sein, was seine schreibende Truppe beim «Blick» von sich gibt. Je primitiver, desto besser. Es gilt die Unschuldsvermutung.