Äthiopien, das grösste Binnenland Afrikas, befindet sich auf Kriegsfuss und will ein Gebiet seines östlichen Nachbarlands in Beschlag nehmen. Damit riskiert die äthiopische Führung einen blutigen internationalen Konflikt.
1993 spaltete sich Eritrea nach einem dreissigjährigen Krieg von Äthiopien ab. Damit wurde Äthiopien zum Binnenland. Diesen «historischen Fehler» will die äthiopische Führung jetzt korrigieren. Man will wieder einen Zugang zum Meer. Damit sollen völkerrechtlich anerkannte Grenzen verschoben werden.
Die internationale Gemeinschaft, die Uno, die USA, die EU, die Afrikanische Union und die Arabische Liga sind schockiert und rufen Äthiopien zur Vernunft auf. Doch die äthiopische Führung ist entschlossen, ihren Plan zu verwirklichen.
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Um den Konflikt zu verstehen, muss man weit zurückblättern. Am Anfang stehen die Ereignisse im östlich von Äthiopien gelegenen Nachbarland Somalia. Die Beziehungen zwischen Somalia und Äthiopien sind seit Jahrzehnten gespannt. 1977/78 mündeten sie in den Ogaden-Krieg mit rund 30’000 Toten.
Das Gebiet des heutigen Somalia bestand früher aus der südlich gelegenen italienischen Kolonie «Italienisch Somaliland» und der nördlich gelegenen britischen Kolonie «British Somaliland». 1960 wurden beide Kolonien vereint und als «Somalia» unabhängig.
Somaliland und Puntland spalten sich ab
1991 spaltete sich das ehemalige britische Kolonialgebiet Somaliland von Somalia ab und erklärte sich als «Republik Somaliland» für unabhängig. Doch die «Republik Somaliland» wurde bisher von keinem Land – ausser Taiwan – anerkannt.
1998 spaltete sich auch die Region «Puntland» von Somalia ab. Puntland liegt zwischen Somaliland und Somalia. Doch im Gegensatz zu Somaliland will Puntland nicht unabhängig sein, sondern als autonome Region mit der somalischen Regierung kooperieren.
Die Abspaltungen von Somaliland und Puntland erfolgten unter anderem, weil in Somalia ein Bürgerkrieg ausgebrochen war. Somalia wurde immer mehr zum «failed state». Seit Jahren wütet die islamistische Al-Shabaab -Miliz, die Somalia in ein islamistisches Kalifat verwandeln will.
Eines der ärmsten Länder Welt
Somaliland, die einstige britische Kolonie, ist etwa vier Mal so gross wie die Schweiz. Die Bevölkerungszahlen schwanken je nach Quelle zwischen drei und sechs Millionen. Hauptstadt ist Hargeysa mit etwa einer Million Einwohnern. Grösster Hafen ist Berbera, die einstige «Hauptstadt» von British Somaliland. Berbera war die Stadt, in der mit Myrrhe, Weihrauch und Henna gehandelt wurde.
Während in Somalia fast täglich Attentate verübt werden und Bomben explodieren, war die Lage in Somaliland recht stabil. Doch die Region gehört zu den ärmsten der Welt. Der Klimawandel, der fehlende Regen führen zu Dürre und Hungersnöten. Der «Regierung» in Hargeysa werden zunehmend Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Immer wieder kommt es zu Protesten und Aufständen. Die wirtschaftliche Situation des grössten Teils der Bevölkerung verschlechtert sich dramatisch.
Zudem droht jetzt die selbsternannte, international nicht anerkannte Republik auseinanderzubrechen.
Ein Staat im Staat im Staat
Schon vor 15 Jahren gab es Bestrebungen, auf einem Teil des Gebietes von Somaliland einen eigenen Staat zu errichten: den autonomen «Khatumo-Staat» (Khaatumo). Initiant des Ganzen ist der islamische «Dhulbahante-Clan». Im Gegensatz zur Regierung von Somaliland pflegt der Khatumo-Staat gute Beziehungen zur somalischen Regierung in Mogadischu. Khatumo ist also ein Staat im Staat (Somalia) im Staat (Somaliland).
Das Gebiet des Khatumo-Staats umfasst Teile der Regionen Sool, Sanaag und Cayn (Akronym «SSC»). Deshalb wird dieser Staat auch «SSC-Khatumo» genannt. Hauptstadt dieser Region ist Las Anod mit knapp 50’000 Einwohnern.
Schwere Kämpfe
Doch Somaliland wehrte sich – verständlicherweise – gegen die Bildung eines Pro-Somalia-Staates auf somaliländischem Boden. Die Armee von Somaliland griff Mitglieder der Khatumo-Milizen in Las Anod an und bombardierte Gebäude der Stadt. Schwere Kämpfe brachen aus. Die Uno spricht von 200 Toten und Tausenden Vertriebenen. Der Dhulbahante-Clan wirft Somaliland «Genozid» vor.
Im vergangenen Sommer kam der Konflikt vor den Uno-Sicherheitsrat. Dieser betonte die Souveränität und territoriale Integrität und Unabhängigkeit Somalias. Das kam fast schon einem Todesstoss Somalilands gleich. Im Weiteren forderte die Uno Somaliand auf, seine Truppen aus Las Anod zurückzuziehen. Im August schlug der Khatumo-Staat zurück. Khatumo-Milizen überfielen Stellungen der somaliländischen Armee, erbeuteten Waffen, Fahrzeuge und Munition. Ein somaliländischer General wurde als Geisel genommen.
Ein Drittel Somalilands weggebrochen
Am 19. Oktober letzten Jahres anerkannte die somalische Bundesregierung in Mogadischu den Khatumo-Staat an. Die «Hauptstadt» Las Anod unterstehe nicht mehr Somaliland, sondern der Zentralregierung in Mogadischu. Khatumo besitzt bereits einen eigenen Präsidenten, eine eigene Verwaltung und ein eigenes Militär.
Damit ist dem international nicht anerkannten Somaliland etwa ein Drittel seines Territoriums weggebrochen. Jetzt kämpft die «Republik Somaliland» ums Überleben.
Und jetzt kam Äthiopien
Und jetzt trat das Nachbarland Äthiopien, das wie Somaliland mit schweren wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, auf den Plan. Der äthiopische Präsident, einstiger Friedensnobelpreisträger und inzwischen wegen schweren Menschenrechtsvergehen angeklagt, schlug Somaliland einen Deal vor.
Der geht so: Somaliand schafft einen von Äthiopien kontrollierten Landkorridor von Äthiopien durch somaliländisches Gebiet zum Meer. Damit wäre Äthiopien kein Binnenland mehr. Das Abkommen gewährt Äthiopien ein zwanzig Kilometer langes Band am Golf von Aden für die Einrichtung eines Marinestützpunktes. Dort soll Äthiopien dann einen Handelshafen bauen.
Im Gegenzug würde Äthiopien als erster wichtiger Staat Somaliland als unabhängigen, souveränen Staat anerkennen. So würde die internationale Isolation Somalilands erstmals durchbrochen. Das schwer unter Druck stehende Somaliland lechzt geradezu nach internationaler Anerkennung. Und nach Geld. Solches würde Äthiopien sicher zahlen.
«Win-win» oder «Produkt der Verzweiflung»?
Die Absichtserklärung, ein «Memorandum of Understanding» (MOU), war Anfang Januar zwischen dem äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed und dem somaliländischen Präsidenten Muse Bihi Abdi in Addis Abeba unterzeichnet worden.
In der äthiopischen Hauptstadt wird das Abkommen als Win-win-Vertrag gefeiert: Äthiopien wäre kein Binnenland mehr und erhielte Zugang zum Meer. Und Somaliland wird endlich von einem wichtigen Staat international anerkannt. Kritiker meinen jedoch, die Absichtserklärung sei «ein Produkt der Verzweiflung». Äthiopien wolle von den inneren ethnischen Unruhen und der schweren Wirtschaftskrise ablenken. Und Somaliland kämpfe ums Überleben.
Bestrafung Äthiopiens?
Die internationalen Reaktionen auf das Abkommen waren harsch. «Aufs Schärfste» wird die Verletzung der Souveränität Somalias verurteilt. Afrikanische Staaten betonen, dass die Absichtserklärung gegen ein Gründungsprinzip der Afrikanischen Union verstosse, das auf die Wahrung der territorialen Integrität der Mitgliedsstaaten pocht.
Der Zorn Somalias ist auch deshalb gross, weil laut einer Studie der Weltbank vor der somaliländischen Küste riesige Ölfelder vermutet werden. Sollte Äthiopien, wie im Memorandum of Understanding vereinbart, einen zwanzig Kilometer breiten Küstenstreifen Somalilands in Beschlag nehmen, könnte Addis Abeba zumindest einen Teil des Öls beanspruchen und fördern.
Was geschieht jetzt? Mehrere afrikanische Staaten wollen Äthiopien und Somaliland drängen, das Abkommen zu annullieren. Auch Drohungen werden laut. So wird darüber diskutiert, ob das Hauptquartier der Afrikanischen Union aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba abgezogen werden soll.
Keine Entspannung in Sicht
Selbst ein Abbruch der Handelsbeziehungen zu Äthiopien wird ins Auge gefasst. Besonders treffen würde es Addis Abeba, wenn der «Ethiopian Airlines», der besten und einträglichsten Fluggesellschaft Afrikas, verboten würde über den Luftraum afrikanischer Staaten zu fliegen. Diskutiert wird offenbar auch, ob Somalia mit Eritrea und mit Ägypten einen Verteidigungspakt schliessen sollte. Das würde Äthiopien sicher nicht gefallen.
Aber vielleicht wird alles nicht so heiss gegessen. Vielleicht krebst ja Addis Abeba zurück und versucht – auf friedlichem Weg – mit Somalia ein Abkommen zur Nutzung somalischer Häfen zu schliessen. Doch angesichts der seit Jahrzehnten verfeindeten Beziehungen zwischen Äthiopien und Somalia scheint das im Moment eher unwahrscheinlich. Vermittlungsversuche lehnen Somalia und Äthiopien ab.