Das Ringen in Libyen um die Herrschaft über die Erdölhäfen der Cyrenaika ist in eine neue Phase eingetreten. Die bewaffneten Besetzer der Häfen konnten sich zwar am 11. März eines Tankers bemächtigen und ihn mit Erdöl füllen. Der Tanker "Morning Glory" unter nordkoreanischer Flagge entkam den libyschen Küstenwächtern und erreichte das offene Meer. Dort wurde er jedoch von einem amerikanischen Kriegsschiff gestellt und gezwungen, in die Gewässer vor Tripolitanien zurückzukehren, wo die Regierung von Tripolis mehr oder weniger das Sagen hat. Der Tanker konnte schliesslich dieser Tage ausgeladen werden.
Soldaten gegen Hafenbesetzer
Die Regierung von Tripolis setzte nach dem Debakel mit dem Tanker ihren damaligen Ministerpräsidenten Ali Zeidan ab. Sie erklärte auch, sie werde Truppen nach der Cyranaika senden und die dortigen besetzten Erdölhäfen befreien. In der Tat wurden am 22. März Gefechte und Schiessereien aus Ajdabiya gemeldet, der Stadt, die dem besetzten Erdölhafen von Sidra am nächsten liegt. Doch dann war nichts mehr zu hören.
Der Schluss lag nahe, dass es den Regierungstruppen nicht gelungen war, sich gegen die besser bewaffneten und kampfgeübten Hafenbesetzer durchzusetzen. Daraufhin wurde verhandelt. Offenbar gerieten die Hafenbesetzer in eine Notlage. Sie hatten ihren Plan, auf eigene Faust Erdöl zu verkaufen, nicht durchsetzen können, und ihre Gehälter, die ihnen bisher die Regierung von Tripolis ausgezahlt hatte, waren gestoppt.
Versprochene Straffreiheit
Umgekehrt befand sich jedoch offenbar auch die Regierung in einer Notlage. Ihr liegt daran, die wichtigsten Exporthäfen für Erdöl des Landes wieder in Betrieb zu nehmen, obwohl die libysche Zentralbank verlauten liess, sie habe genügend Geldreserven für drei Jahre, auch wenn keine neuen Erdöleinahmen mehr einträfen. Die Verhandlungen haben zu einem vorläufigen Resultat geführt.
Die Hafenbesetzer, als deren Chef Ibrahim Jathran auftritt, erklärten sich bereit, zwei kleinere Häfen der Regierung zu übergeben. Dies sind Zueitina und Hariga. Dafür wurde ihnen Straffreiheit vewrsprochen, ebenso die Auszahlung ihrer Gehälter, die sie als "Wächter für Erdölanlagen" beanspruchten, sowie eine Zusage, dass ihre politischen Wünsche berücksichtigt würden. Diese sind eine Kommission zur Untersuchung der Korruption in Libyen, wohl in erster Linie im Erdölwesen, und ein Komitee zur Beaufsichtigung der Erdölexporte. Natürlich muss noch darüber verhandelt werden, wer genau in diesen Gremien Einsitz nehmen wird
Die Cyrenaika verlangt Autonomie und Geld
Die beiden wichtigsten Ladehäfen der libyschen Ostprovinz bleiben jedoch "vorläufig" noch in Händen der Besetzer. Die Minister in Tripolis sagen "nur noch für zwei Wochen". Doch es ist offensichtlich, dass die Hafenbesetzer weitere Wünsche äussern und über sie weiter verhandeln wollen. Ihnen geht es um eine Autonomie für ihren Landesteil mit der Hauptstadt Bengasi und um einen Anteil am libyschen Erdöleinkommen, welcher der Menge des in der Provinz Cyrenaika geförderten Erdöls entsprechen soll.
Die Provinz Cyrenaika zieht sich auf der östlichen Seite des Landes durch ganz Libyen hindurch über die Sahara hinweg bis an die Genzen von Tschad, und für die Bewohner der Küstenstädte der Cyrenaika ist alles in jenem gewaltigen Landesteil geförderte Erdöl das ihrige.
Man hat zu gewärtigen, dass der gesamte Fragenkomplex von Autonomie und Beteiligung am Erdöleinkommen aufgerollt werden muss, bevor die Hafenbesetzer die beiden Haupthäfen räumen. Als ihr politisches Oberhaupt gilt Abd Rabbo Barassi, der sich schon heute "Ministerpräsident der Cyrenaika" nennt.
Internationale Rückendeckung
Der bisherige Verlauf der Tanker-Episode und ihrer Folgen zeigt auf, wie es um die Machtverhältnisse in Libyen heute steht. Die Regierung hat einen einzigen Trumpf. Sie geniesst die internationale Solidarität der Staatenwelt. Sie konnte den Tanker nicht aus eigener Macht in ihre Gewalt bringen. Die Amerikaner mussten es für sie tun.
Mit dieser internationalen Rückendeckung verfügt die Regierung auch über die immer noch bedeutenden Finanzreserven des Landes. Sie sind den bewaffneten Gruppen nicht zugänglich - oder doch nur insofern, als es diesen gelingt, Gelder aus der Regierung herauszupressen.
Schwache nationale Armee
Jedoch verfügt die Regierung nach wie vor nicht über eigene Truppen, die der Lage wären die bewaffneten Milizen zum Gehorsam zu zwingen. Die Regierung kann nur versuchen, eine Miliz gegen eine andere auszuspielen, wenn sich die eine von ihnen als besonders gefährlich erweist. Libysche Truppen für eine künftige nationale Armee werden von mehreren Staaten im Ausland ausgebildet. Doch es dürfte noch geraume Zeit dauern, bis sie soweit einsatzbereit sind, dass sie für die schwer bewaffneten Milizen eine echte Drohung abgeben. Die Gefahr, dass solche Truppen zu den Milizen übergehen und die Regierung im Stich lassen könnten, ist ernst zu nehmen.
Im politischen Bereich ist es bereits soweit, dass verschiedene Milizen mit verschiedenen Gruppierungen unter den Politikern, die im libyschen Parlament oder auf hohen Verwaltungsposten sitzen, Bündnisse eingehen und sich dazu hergeben, auf andere Politiker und Beamte, die nicht ihre Verbündeten sind, im Sinne ihrer Verbündeten Druck auszuüben.
Die Bevölkerung verliert die Geduld
Ibrahim Jathran, der Chef der Hafenbesetzer, hielt eine kurze Rede am Fernsehsender, der von seinen Anhängern beherrscht wird. Er sagte: "Wir tun dies (die Räumung der beiden Häfen), aus freiem Willen, um Vertrauen aufzubauen, einen Dialog zu beginnen und alle Probleme unter Libyern in friedlicher Weise zu lösen".
Die libysche Bevölkerung verliert die Geduld. Sie tadelt offenbar mehr die Politiker für ihr Versagen. Weniger kritisiert sie die Milizen, dass sie den Politikern das Regieren verunmöglichen. Die Bevölkerung sagt sich, die Regierenden sollten regieren. Sie täten dies in anderen Ländern ja auch. Wenn sie das nicht können, neigen die Libyer dazu, sie der Unfähigkeit oder gar der Korruption anzuklagen.
Die Hafenbesetzer am längeren Hebel
In Bengasi wurde nach langen Vorbereitungen ein Generalstreik ausgerufen, um gegen die Unsicherheit zu protestieren. Fast täglich werden Menschen ermordet.
Sogar der Flugplatz von Bengasi wurde gesperrt, und manche Flugzeuge mussten nach Tripolis zurückkehren. Der Flugverkehr soll nun wieder aufgenommen werden. Doch der Proteststreit soll bis zum kommenden Donnerstag dauern. Erreicht wird damit wohl nicht viel. Das Grundübel der bewaffneten Banden, die ihren Willen mit Waffen durchsetzen, bleibt bestehen.
Die bisherigen Verhandlungen der Regierung mit den Hafenbesetzern zeigen klar, welche Seite die mächtigere ist. Die Hafenbesetzer erhielten Straffreiheit und "Gehälter", ohne die wichtigsten der Häfen, die sie seit dem vergangenen Juli besetzt halten, aufgeben zu müssen. Die beiden grossen Verladehäfen, Ras Lanif und Sidra, werden ihnen als Unterpfand für weiter gehende Forderungen dienen.