Sind es Leute auf der Suche nach einem höheren Lebensstandard oder Menschen aus einem unzumutbaren Zwangsregime?
Das Thema hat auch eine gewisse Bedeutung beim Rücktritt der grünen Aargauer Regierungsrätin und Frau Landammann Susanne Hochuli. Das Ausscheiden der beliebten Bio-Bäuerin wird im Aargau sehr bedauert. Es hängt unter anderem zusammen mit den scharfen Angriffen aus der Partei der Grünen. Diese empörte sich, weil ihre Politikerin im vergangenen Frühling nach einem Besuch in Eritrea erklärte: „Eritrea ist nicht das Nordkorea von Afrika!“ Ideologiebewusste Grüne kritisierten, dass die Reise zusammen mit dem Zürcher Eritrea-Honorarkonsul Toni Locher stattgefunden habe, der mit dem eritreischen Herrscher Isayas Afewerki befreundet ist.
Beispiel Kuba
Als journalistischer Eritrea-Besucher mache ich dazu einige Erläuterungen. Die übergeordnete Frage lautet, ob eine Partisanenbewegung nach der Machtübernahme einen demokratischen Staat einrichten kann. Wer sich je mit Kuba befasst hat, wird überzeugt Nein sagen. In Eritrea kann man die Frage noch nicht so eindeutig beantworten. Zudem ist unser Land in diesem Fall involviert über die von Toni Locher in Zürich präsidierte Hilfsorganisation. Diese unterstützte den lange hoffnungslos aussehenden Kampf der Eritreer, der 1993 zur Ablösung der Provinz von Äthiopien führte.
Eritrea war in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zentrales Thema bei der Zürcher Linken. Diese konzentrierte sich nach enttäuschenden Aktionen in Zürich jetzt auf den heroischen Befreiungskampf der äthiopischen Provinz. Mitglieder des von Toni Locher präsidierten Hilfskomitees reisten nach Eritrea zu den Partisanen und kehrten mit begeisterten Schilderungen zurück. Sie sahen ihre Vorstellung von solidarischer Gemeinschaft weitgehend verwirklicht in einer kriegerischen Situation, wo die knappen Mittel gerecht aufgeteilt wurden und das Überleben im Kampf das gemeinsame Ziel darstellte. (Weltpolitisch war die Situation eher paradox, weil die mit Flugzeugen ausgerüstete äthiopische Armee von der Sowjetunion finanziert wurde, während die finanzielle Hilfe für die revolutionären Partisanen mehrheitlich aus den USA kam.)
Der 1993 erkämpfte Sieg führte dann zumindest bei Ideologen bald zu Enttäuschungen. Ich erlebte das Entsetzen einer Schweizer Delegation, die in der eritreischen Hauptstadt feststellen musste, dass das wichtigste Spital von einem ehemaligen Partisanen statt einem Arzt geleitet wurde. Dies und einige weitere Beobachtungen weckten Zweifel an der Kompetenz der Staatsführung unter dem ehemaligen Partisanenchef Afewerki. Ich führte in Asmara damals lange Gespräche mit einem eritreischen Harvard-Professor, der sich an seiner Universität für ein Jahr beurlaubt hatte, um in Eritrea das Finanzministerium aufzubauen. Angesichts der Widerstände in der Führung dauerte seine Hilfsaktion dann nur einige Wochen.
Lastwagenfahrer auf Lebenszeit
Ein Beispiel für Enttäuschung in Eritrea erlebte ich in einer Kaserne mit mehr als zweihundert Lastwagen-Chauffeuren. Diese führten über ein Jahr nach dem Sieg der Partisanen noch immer ein spartanisches Leben im Dienste ihres Landes. Die Bundesrepublik Deutschland hatte dem selbständig gewordenen Eritrea 200 Lastwagen geschenkt, ohne die im zerstörten Land damals weder Menschen noch Waffen und Nahrungsmittel transportiert werden konnten. Die Chauffeure standen am Morgen um vier Uhr auf, um die für die Ernährung nötigen Nahrungsmittel anzupflanzen. Dann waren sie täglich viele Stunden mit den Lastwagen unterwegs.
Die Bezahlung bestand aus einem Taschengeld, das knapp für Zigaretten und einige Flaschen Bier reichte. Alle sechs Monate hatten die Chauffeure Anspruch auf ein Paar Jeans. Meine Gesprächspartner erklärten, dass sie noch während einem oder höchstens zwei Jahren den Transport ihres Landes besorgen würden. Aber dann wollten sie ein Leben führen wie andere Eritreer auch: Mehr Geld verdienen, ein Haus bauen und eine Familie gründen. Das Beispiel ist bedeutungsvoll, weil eritreische Asylsuchende in der Schweiz als Fluchtgrund anführten, Diktator Afewerki wolle sie zwingen, bis zur Pensionierung Lastwagen zu fahren. In einer ähnlichen Situation befinden sich offenbar auch Soldaten, deren Militärdienst unbegrenzt und unter ähnlich spartanischen Bedingungen ausgedehnt wird.
Schlimmster Diktator
Alle Klagen über gescheiterte revolutionäre Erwartungen und das Fehlen von Demokratie haben inzwischen einen Namen und eine Erklärung: Isayas Afewerki. Der Partisanenführer habe die revolutionäre Idee verraten und sei zum schlimmsten Diktator in Afrika geworden. Meine Frage bleibt, wie eingangs angetönt, ob man auf der straffen Führung einer Kampforganisation überhaupt demokratische Strukturen aufbauen kann. Eine wichtige Voraussetzung wären doch Bürger mit einem Mass an politischer und materieller Unabhängigkeit. Auch die Führung braucht einen gewissen ökonomischen Spielraum. Die Regierung von Eritrea hatte nach 1993 als zuerst einzige und später immer noch als wichtigste Geldquelle die freiwilligen Beiträge von ausgewanderten Eritreern.
Dass die Mittel zu knapp sind, um sowohl Lastwagenfahrer als auch Soldaten grosszügiger zu behandeln, ist einigermassen verständlich. Warum der Staatschef weitere Kriege führte gegen das früher über die Provinz Eritrea herrschende Äthiopien bleibt dagegen unverständlich. Afewerki verhielt sich auch bei ausländischen Vermittlungsversuchen wenig kooperativ. Man könnte vermuten, dass dem einst beliebten Partisanenführer der Übergang zur Dienstleistung eines Präsidenten für selbständige Bürger nicht gelang. Dabei ist er allerdings in Afrika keine Ausnahme. Der Aussage der Aargauer Regierungsrätin würde ich trotzdem spontan zustimmen: „Eritrea ist nicht das Nordkorea von Afrika!“