Im Parlament in Ankara finden zurzeit Saalschlachten statt, weil die Regierungspartei versucht, ein umstrittenes Sicherheitsgesetz zu verabschieden, während die Opposition tut, was sie kann, um dies zu verhindern. Die drei Parteien der Opposition zögern die Diskussionen hinaus, um Abstimmungen zu vermeiden. Es kam mehrmals zu Kämpfen unter den Abgeordneten, und Ärzte mussten gerufen werden, um Verletzte zu behandeln und bei übererregten Abgeordneten den Blutdruck zu messen.
Die Raufereien sind darauf zurückzuführen, dass ungeduldige Abgeordnete der Mehrheitspartei versuchten, Redner – darunter auch zwei Rednerinnen – der Opposition mit Gewalt vom Rednerpult zu entfernen. Eine der Parlamentssitzungen dauerte 18 Stunden. Die Regierungspartei, die über eine bequeme Mehrheit verfügt, hat gelobt, sie werde die Gesetzesvorlage durchbringen, koste es, was es wolle.
Freie Hand für die Polizei
Das umstrittene Sicherheitsgesetz sieht vor, dass die türkische Polizei noch grössere Vollmachten als bisher erhalten soll. Dies soll nach Ansicht der Regierungspartei der Verhütung von Verbrechen dienen. Der Haupteinwand der Opposition gegen den Vorschlag lautet, das Projekt verwische die Grenzen zwischen der rechtlichen und der exekutiven Sphäre. Das Gesetz hat nicht weniger als 132 Paragraphen. Davon sind etwa ein Dutzend umstritten.
Eine der kontroversen Bestimmungen sieht vor, dass in Zukunft die Provinzgouverneure die Vollmacht erhalten sollen, Untersuchungen gegen Kriminaltaten einzuleiten und präventive Aktionen anzuordnen, ohne dafür eine schriftliche Anweisung durch einen Staatsanwalt erhalten zu haben. Diese können sie nachträglich anfordern. Die Provinzgouverneure werden vom Innenministerium ernannt, und sie wirken in allen Provinzen als die oberste Polizeibehörde.
Eine andere Bestimmung vergleichbarer Ausrichtung würde der Polizei erlauben, Verhaftungen auf 24 Stunden, verlängerbar auf 48, anzuordnen, ohne den schriftlichen Befehl eines Staatsanwalts erhalten zuhaben. Sie können diesen nachträglich, nach Ablauf der 48 Stunden einholen.
Statt Beweisen nur noch Zweifel nötig
Schon zuvor, im vergangenen Dezember, waren die Regeln für Hausdurchsuchungen und Untersuchungen von Personen durch die Polizei geändert worden. Zuvor waren sie nur beim Vorliegen «konkreter Beweise» für eine Schuld erlaubt; die neue Regelung spricht von «begründetem Zweifel» für Unschuld.
Weiter sieht der Gesetzesvorschlag vor, dass die Polizei von sich aus körperliche Inspektionen und Hausdurchsuchungen durchführen sowie Reiseeinschränken anordnen kann. Sie soll Erlaubnis erhalten von den Waffen Gebrauch zu machen, um «Molotow Cocktails zu eliminieren, sowie Zerstörungen durch Demonstrationen zu verhindern». Die Opposition, besonders die kurdische, ist der Ansicht, dass dies einer «Einladung zu ungerichtlichen Tötungen» gleichkomme. Sie weist auch darauf hin, dass der Einsatz von Molotow Cocktails nach dem bestehenden Gesetz mit zwanzig Jahren Gefängnis bestraft wird.
Wenig Sorge um Menschenleben
Die Türkische Polizei war bereits vor dem nun geplanten Sicherheitsgesetz nicht zimperlich. Im Falle der Gezi-Demonstrationen vom Sommer 2013 hat ihre Gewohnheit, mit Tränengas nicht über die Köpfe sondern auf die Köpfe von Demonstranten zu zielen, zu fünf Todesfällen geführt. Und bei den Demonstrationen im vergangenen Sommer gegen die Aussperrung von kurdischen Kämpfern, die an der Schlacht von Kobane teilnehmen wollten, hat es vierzig Tote gegeben.
Im Falle dieser Kobane-Demonstrationen sah sich die Regierung schliesslich gezwungen, teilweise nachzugeben und einige kurdische Kämpfer aus Iraki-Kurdistan zuzulassen. Die Beobachter glauben, dass es in erster Linie jene von Kurden durchgeführten Demonstrationen waren, welche die Regierung veranlassten, strengere Sicherheitsregeln zu formulieren.
Viele der nun verschärften Vorschriften waren im Jahr 2005 ebenfalls von der Partei Erdogans entschärft und richterlichen Kontrollen unterstellt worden. Damals ging es der Erdogan-Regierung um eine Annäherung an Europa und um das Zurückdrängen der Macht der türkischen Militärs und Geheimdienste. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute zielt Erdogan darauf ab, eine exekutive Präsidentschaft auszuüben, und seine Partei benützt ihre parlamentarische Mehrheit, um der von ihr bestimmten Regierung und Polizei Vollmachten zu verschaffen, die sie weitgehend von richterlicher Oberaufsicht befreien.
Mit allen Mitteln zur Zweidrittel-Mehrheit
Es besteht wenig Zweifel, dass die neue Sicherheitsordnung trotz dem wütenden Widerstand aller Oppositionsparteien durchgepeitscht werden wird. Die Frage ist dann, ob die Verfassungsrichter gegen sie einschreiten werden, weil sie dem in der Verfassung festgelegten Grundsatz der Gewaltentrennung zu widersprechen scheint, oder ob die Richter befinden werden, die neue Regelung sei mit der Verfassung vereinbar.
Was immer die Richter letzten Endes bestimmen werden, zunächst dürfte die neue Regelung Gesetz werden. Dies ist von grosser Bedeutung, weil die Türkei im kommenden Juni ihr nächstes Parlament wählen wird. Bei diesen Wahlen geht es in erster Linie darum, ob die Partei Erdogans eine Zweidrittel-Mehrheit erlangen wird, oder ob sie sich, wie gegenwärtig mit einer absoluten Mehrheit begnügen muss.
Zurzeit verfügt die regierende AK-Partei über 58 Prozent der Parlamentssitze. Die Zweidrittel-Mehrheit wäre für Erdogans Pläne sehr wichtig. Sie würde ihm erlauben, die türkische Verfassung ohne Plebiszit abzuändern. Dies möchte er tun, um sein überragendes politisches Ziel zu erreichen, nämlich aus einem theoretisch ohne exekutive Vollmachten herrschenden Staatschef, wie er es gegenwärtig ist, zu einem Staatschef zu werden, der sein Land aus eigener Vollmacht regiert.