Die Partei Erdogans hat in den Lokalwahlen vom vergangenen 30. März erwiesen, dass sie noch immer die Gunst der Wähler besitzt. Sie hat 45,5 Prozent der abgegeben Stimmen davongetragen. Präsidialwahlen stehen auf Ende August bevor. Ministerpräsident Erdogan hat die Möglichkeit, sich für diese Wahl zu stellen und sie mit grosser Wahrscheinlichkeit zu gewinnen. Er hat auch die Möglichkeit, weiterhin Ministerpräsident zu bleiben, indem er seine Partei dazu veranlasst, ihr bisheriges internes Reglement zu verändern. Dieses, nicht die Verfassung, besagt, ein Parteimitglied könne nur während drei Amtsperioden Ministerpräsident sein.
Allmächtiger Präsident oder machtvoller Ministerpräsident?
Erdogan steht am Ende seiner dritten Amtszeit. Die Parlamentswahlen sind im kommenden Jahr fällig. Im gegenwärtigen Parlament besitzt die AK-Partei Erdogans ein absolutes Mehr, jedoch keine Zweidrittelsmehrheit. Das heisst, sie kann Gesetze formulieren und durchbringen, wie es ihr passt, doch sie kann die Verfassung nicht ändern.
Nach der geltenden Verfassung ist der türkische Präsident Repräsentant des Staates, hat jedoch wenig exekutive Macht. Er kann Gesetze zurückweisen, indem er sie nicht unterschreibt. Sie gehen dann an das Parlament zurück. Dieses kann sie überarbeiten und an den Präsidenten zurückschicken. Im Fall einer permanenten Blockierung setzt sich die Parlamentsmehrheit durch.
Volkswahl und exekutive Macht
Der Präsident wurde bisher vom Parlament gewählt. Doch im August wird er zum ersten Mal vom Volk gewählt werden. Erdogan hat diesen Wechsel im Zuge eines Verfassungsreferendums 2007 in die Wege geleitet. Heute denkt er selbst daran, Präsident zu werden. Er möchte jedoch ein Präsident im amerikanischen Stil werden, das heisst einer mit direkten Machtbefugnissen über Regierung und Administration. Zu diesem Zweck müsste allerdings die Verfassung geändert werden.
Wenn die Parlamentswahlen im kommenden Jahr der AKP eine Zweidrittelsmehrheit brächten, könnte Erdogan zu einer Verfassungsänderung schreiten. Doch dies ist nicht sicher.
Von Staatsfeinden zu Verbündeten?
Eine andere Möglichkeit für Erdogan wäre, seiner Partei einen politischen Verbündeten zu verschaffen, der beide alliierten Parteien zusammen über die Zweidrittel-Barriere hebt. Die zweitgrösste und die drittgrösste Partei im Parlament sind beide ausgesprochene Gegner und bittere Feinde Erdogans. Sie kommen für ein Bündnis nicht in Betracht.
Doch es gibt die Kurden. Sie machen fast ein Fünftel der Bevölkerung aus. Sie haben jedoch bisher im Parlament keine grosse Rolle zu spielen vermocht, weil eine Partei nur ins Parlament kommen kann, wenn sie in allen Provinzen der Türkei ein bestimmtes Stimmenminimum erreicht. Kurdenparteien jedoch sind nur in den kurdischen Landesteilen erfolgreich, nicht den türkischen Provinzen.
Es gibt einen Friedensprozess mit den Kurden, den Erdogan eingeleitet hat. Man kann vermuten, dass dabei der Wille des Ministerpräsidenten, künftig auf die kurdischen Stimmen zählen zu können, neben anderen Gründen, eine wichtige Rolle spielt. Federführend in diesem Friedensprozess ist der türkische Geheimdienst MIT. Zurzeit berät die AKP über ein neues Wahlgesetz, von dem es heisst, dass es die hohen Eintrittsbarrieren für Parteimitglieder ins Parlament absenken und die Wahlbezirke neu einteilen soll.
Die AK-Partei schraubt an den Grundregeln
Allgemein kann man sagen, dass nach dem Sieg in den lokalen Wahlen und der Bestätigung ihrer Anhängerschaft die AKP nun eine Phase der Gesetzgebung begonnen hat, die darauf abzielt, die politischen Rahmenbedingungen in der Türkei zugunsten der Pläne und Anliegen Erdogans zu verändern.
Zu den gegenwärtigen Anliegen gehört an erster Stelle die Fehde Erdogans und seiner Anhänger mit dem «Staat im Staate», wie sie ihn nennen, mit anderen Worten mit den Anhängern des in Amerika lebenden Geistlichen und Predigers Fethullah Gülen. Die Anhänger Gülens sind in der Türkei in der – bisher einflussreichen – Hizmet-Geheimorganisation zusammengefasst. «Hizmet» bedeutet «Dienst». Eine Geheimorganisation kann man sie nennen, weil keine offizielle Mitgliederliste besteht.
Wer zu Hizmet gehört und wer nicht, ist nicht sicher bekannt. Allerdings gibt es Vermutungen und Beobachtungen, die Zugehörigkeit oder mindestens Sympathien annehmen lassen. So wie die Dinge heute stehen, ist anzunehmen, dass die türkischen Geheimdienste sich bemühen, solche Indizien zu sammeln, um Listen der vermutlichen Hizmet-Mitglieder zusammenzustellen.
Vom Gehilfen zum Hauptfeind
Die Organisation, eine Art von islamischem Opus Dei, war geraume Zeit ein wichtiger Verbündeter Erdogans. Sie half entscheidend mit, die Macht der türkischen Offiziere zu brechen, als diese mit Erdogan einen Kampf um die politische Ausrichtung der Türkei führten.
Hizmet besass damals viele Mitglieder und Sympathisanten, die Posten in den Führungsrängen der Polizei und des Innenministeriums sowie Positionen im Gerichtswesen bekleideten. Sie waren wichtige Instrumente bei der Vorbereitung und Durchführung der Grossprozesse (2007-2013), durch die Hunderte von Offizieren verfolgt und verurteilt wurden, und die bewirkten, dass Erdogan das Ringen mit den Militärs entscheidend gewann.
Bleiben die Richter unabhängig?
Als die Fehde Erdogans gegen Hizmet im Dezember 2013 akut wurde (es geht um angebliche Korruptionsvorwürfe gegen führende Mitarbeiter und Minister Erdogans, die der Ministerpräsident als eine Verschwörung von Hizmet gegen seine Herrschaft einstuft), hat Erdogan dafür gesorgt, dass Hunderte der vermutlichen Mitglieder der Hizmet-Organisation, die er nun als «Staat im Staate» verfolgt, aus ihren Polizeipositionen und gerichtlichen Stellen entfernt wurden. Dies geschah teils durch Entlassungen, teils durch Versetzungen aus den Hauptstädten in die Provinz.
Um auch gegen Richter und Staatsanwälte vorgehen zu können, veränderte die AK-Partei im Februar 2014 die Bestimmungen, nach denen Richter und Staatsanwälte eingestellt und befördert werden. Die oberste Behörde, die diese Aufgaben bisher wahrnahm, war ein Hoher Richterlicher Rat (tükisch abgekürzt HSYK), dessen Vorsitzende und Mehrheit durch innere Wahlen unter den Richtern selbst bestimmt wurden.
In dem neuen Gesetz blieb dieser Rat bestehen. Seine wichtigsten Mitglieder jedoch sollten nun vom Justizminister eingesetzt werden. Dadurch hätte die Regierung eine Aufsichtsfunktion über die Richter erhalten. Doch die Richter wehrten sich. Das Oberste Gericht hat am 11. April beschlossen, dass das neue Gesetz gegen die Verfassung verstosse, weil es die in der Verfassung verankerte Unabhängigkeit der Richter in Frage stelle. Das Gesetz wurde an das Parlament zur Überarbeitung zurückgewiesen.
Die Kommentare Erdogans und seiner Minister waren sauersüss. Ihr Grundton war: «Wir sind mit dem richterlichen Entscheid nicht einverstanden, aber natürlich werden wir uns an die Entscheidung der Richter halten.» Doch die Beobachter merkten an, dass die AK-Partei ihre wichtigsten Nahziele bereits erreicht hatte. Sie entsandte nach dem Inkrafttreten der neuen, nun vom Gericht zurückgewiesenen Regeln sofort ihr genehme Vertreter in den Obersten Gerichtsrat.
Wird der Geheimdienst unantastbar?
Ein weiterer Gesetzesvorschlag wurde dem Parlament vorgelegt, der den türkischen Geheimdienst betrifft. Der Geheimdienst MIT soll nach diesem Vorschlag der Mehrheitspartei weitgehende Straffreiheit und grosse Unabhängigkeit für seine Aktionen erhalten. Klage gegen seine Agenten kann, wenn der Vorschlag Gesetz wird, nur vor dem Obersten Gerichtshof angestrengt werden, und dieser muss die Bewilligung des Ministerpräsidenten einholen, bevor eine Verhandlung stattfinden kann.
Die Organisation soll direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt werden. Sie soll auch, was ihr bisher verboten war, die Möglichkeit erhalten, ausserhalb der Türkei aktiv zu werden. Dies letzte kann man als einen Wink an Gülen verstehen, der heutzutage von Erdogan als ein Staatsfeind eingestuft wird, aber im Ausland, in Michigan, lebt. MIT wird bereits heute geleitet von Fidan Hakan, der als einer der engsten Vertrauten Erdogans gilt.
Die oppositionellen Abgeordneten, in erster Linie jene der Republikanischen Volkspartei (CHP), bekämpfen den Gesetzesvorschlag nach Kräften. Sie weisen darauf hin, dass die Türkei unter ihm Gefahr laufe, ein Polizeistaat zu werden. «Unter diesem Gesetz wird es unmöglich werden, Nachforschungen über illegale Aktivitäten des Geheimdienstes durchzuführen», erklärte einer von ihnen dem Parlament. «Die Türkei würde zu einem 'Geheimdienststaat' .» Doch ausser empörte Reden zu halten, können die Leute der Opposition nicht viel tun. Sie sind in der Minderheit.
Meinungsäusserung kontrolliert oder frei?
Zu den Rahmenbedingungen, welche die AK-Partei zu verändern sucht, gehört auch die Meinungsfreiheit. Noch gibt es neben Regierungsblättern und Regierungsfernsehen Zeitungen, sogar Qualitätszeitungen, welche Hizmet und den Oppositionsparteien nahestehen. Sie verfehlen nicht, auf die negativen Folgen hinzuweisen, welche die gegenwärtigen Schritte der Mehrheitspartei zeitigen dürften. Sie unterstreichen die Gefahren, die eine Abkehr von demokratischen Grundregeln für das Ansehen der Türkei und für ihre Stellung als Aspirant auf Mitgliedschaft der EU mit sich bringen, sowie auch für die weltweit vernetzte türkische Wirtschaft.
Die türkische Wirtschaft ist durch hohe Auslandschulden belastet, und die türkische Lira hat über das vergangene Jahr einen bedeutenden Teil, beinahe ein Drittel, ihres Wertes verloren. Dies droht den Schuldendienst vieler türkischer Firmen stark zu erschweren. Soeben hat die Ratingagentur Moody die Kreditwürdigkeit der Türkei herabgestuft. Sie gilt neuerdings nicht mehr als ein Land, in dem Geldanlagen zu empfehlen seien. Als Grund gibt sie an: mögliche politische Instabilität. Die Regierung reagierte unwirsch. Sie weist auf das Wahlresultat in den Lokalwahlen hin, auf die bevorstehenden Präsidialwahlen, welche die AKP ebenfalls zu gewinnen verspricht, und sie fragt: Wo ist die Instabilität? Das Land ist stabiler als die meisten anderen!
Kämpfe um Internetzugang
Allerdings zeigen die – vorläufig wenig erfolgreichen – Versuche der Regierungspartei, das Internet zu kontrollieren, dass die regierenden Mächte wohl wissen, dass oppositionelle Kräfte bestehen. Das viele Tränengas gegen die Strassenproteste, die im vergangenen Sommer aufflammten und immer noch motten, spricht die gleiche Sprache. Es ist eine Minderheit, die protestiert, doch es sind viele der bestausgebildeten Jugendlichen, die mitmachen oder zustimmen, wenn es darum geht, den Anspruch auf eine weniger autoritäre Führung zu unterstreichen, der den Kern der Proteste ausmacht.
Die Distanz zwischen der protestierenden Jugend und der herrschenden Schicht kann man an dem Vorschlag ermessen, der den Berichten nach in der Mehrheitspartei diskutiert wird. Sie erwäge, so heisst es, die Möglichkeit, die Türkei vom weltweiten Internet www abzuschneiden und ein eigenes Internet ttt einzurichten.