Über zwanzig Jahre lang dominierte er die italienische Politik. Jetzt erleidet „der Kaiman“ die schlimmste Niederlage in seiner langen Karriere.
Kurz vor 18.00 Uhr kündigt die linksliberale Zeitung "La Repubblica" mit grossen Lettern an. "Ore 17,43: Berlusconi fuori dal Parlamento, sì del Senato." Fast 500 Medienvertreter verfolgten die Abstimmung in Rom.
Seit Monaten geht es nur noch bergab. Doch der jetzige Ausschluss aus dem Senat ist eine tiefe Zäsur. Ein Spitzenpolitiker, der im Parlament keine Bühne hat, ist eine lame duck.
"Berlusconi, Gefangener der Roten Brigaden"
Am Tag seiner schlimmsten Demütigung stand seine Bühne in der Via del Plebiscito im Zentrum von Rom. Dort, vor seiner Römer Villa, dem Palazzo Grazioli, versammelten sich kurz vor der Abstimmung im Senat Tausende seiner Anhänger. Mit Autobussen liess sie Berlusconi hierher karren. Wieder werden "die Linken und die Kommunisten" beschuldigt, Berlusconi zu stürzen. Auf einem Transparent heisst es, "Berlusconi, ein politischer Gefangener der Roten Brigaden. Schnell zirkulierten Verschwörungstheorien: Die Polizei habe versucht, die Manifestation zu verhindern. Autobusse seien gehindert worden zu parkieren. Die Billet-Automaten der Metro seien abgeschaltet worden.
Nach der Demonstration marschierten seine Getreuen in einem Protestzug zum Quirinal-Palast, dem Sitz von Staatspräsident Napolitano. Dort versammelten sie sich, angeführt von Spitzenpolitikern seiner Partei, zu einem sit-in. Es gehe nicht um ihn, sagte Berlusconi, es gehe um die Demokratie, die jetzt "tödlich verletzt" sei.
Der Abstimmung im Senat, der im Palazzo Madama hinter der Piazza Navona tagt, blieb er fern. Die Senatorinnen seiner Partei waren ganz in Schwarz zur Abstimmung erschienen - als Zeichen der Trauer.
Geplant war, dass Berlusconi am Abend in der Fernsehsendung Porta a Porta auftritt und dort Gift und Galle über seine Gegner ausschütten kann. Doch seine Tochter Marina und vor allem sein Leibarzt rieten ihm, in seine Villa Arcore bei Mailand zurückzukehren. Der Arzt wollte den 77-Jährigen nicht noch weiterem Stress aussetzen.
"Das Ende eines banalen Mannes"
Dass der Senat für eine Verbannung Berlusconis stimmen würde, stand seit langem fest. Die sozialdemokratische Linke von Ministerpräsident Letta und die Protestbewegung „5 stelle“ von Beppe Grillo hatten sich klar für einen Ausschluss ausgesprochen. Zusammen verfügen die beiden Formationen über eine Mehrheit im Senat. Beppe Grillo bezeichnete den tiefen Fall Berlusconis als „das Ende eines banalen Mannes“.
Die Rechtslage ist klar: Berlusconi wurde vom höchsten italienischen Gericht wegen Steuerbetrugs zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Ein Gesetz sieht vor, dass ein Politiker, der zu mehr als zwei Jahren verurteilt wurde, seinen Sitz im Parlament verliert.
Letta gewinnt Vertrauensabstimmung
Auch wenige Stunden vor seinem Ausschluss aus dem Senat hatte Berlusconi eine deftige Niederlage einstecken müssen. Mit 171 : 135 Stimmen hatte der Senat der Regierung von Enrico Letta das Vertrauen ausgesprochen und das Stabilitätsgesetz gutgeheissen. Berlusconi hatte sich energisch gegen das Gesetz gewandt. Schlimm für ihn: das Gesetz wurde gutgeheissen, weil fast 30 seiner einst eigenen Senatoren gegen ihn und für das Gesetz gestimmt haben.
Ministerpräsident Letta beglückwünscht sich zu dem 171-Stimmen-Resultat. Das sei ein besseres Ergebnis, als Berlusconi fast immer in Vertrauensabstimmungen erzielt habe. Tatsächlich: einzig 2008 erhielt Berlusconi in einer Vertrauensabstimmung zwei Stimmen mehr als jetzt Letta, also 173. Letta erklärte, das gute Ergebnis werde ihm helfen, die nötigen Reformen voranzutreiben.
Berlusconi in der Opposition
Der linke Ministerpräsident kann jetzt also ohne Berlusconi regieren. Das war bis vor kurzem noch nicht möglich. Der sozialdemokratische „Partito Democratico“ (PD) von Enrico Letta verfügt zwar in der grossen Kammer, im Abgeordnetenhaus, über eine klare Mehrheit – nicht aber im Senat, der kleinen Kammer. Um Gesetze zu verabschieden, braucht es die Zustimmung beider Kammern. Letta war also im Senat auf Koalitionspartner angewiesen.
Sieben Monate lang hatte Berlusconi die Regierung Letta unterstützt. Ein Putschversuch im vergangenen Oktober war kläglich gescheitert. Jetzt, am Dienstag, erklärte Berlusconi, er unterstütze die Regierung nicht mehr und gehe mit seiner neugegründeten, einst erfolgreichen Partei Forza Italia (FI) in die Opposition. Diese ersetzt weitgehend sein bisheriges Mitte-Rechts-Bündnis „Popolo della Libertà" (PdL).
Parteispaltung
Doch 29 einst Berlusconi-treue Senatoren folgen ihm nicht mehr und haben eine eigene Mitte-Rechts-Formation gegründet: den "Nuovo centro destra" (Ncd). Angeführt wird diese Bewegung vom einstigen Ziehsohn Berlusconis, von Angelino Alfano. Die italienischen Zeitungen nennen deshalb die Anhänger dieser neuen Bewegung „Alfiani“ – im Gegensatz zu den „Berlusconiani“.
Faktisch bedeutet dies eine Spaltung des Berlusconi-Lagers. Der jetzige Ausschluss aus dem Parlament mag für den „Kaiman“ (so nannte ihn Nanni Moretti) ein schlimmer Schlag sein: das Auseinanderbrechen seiner Partei ist fast ebenso schlimm.
"Verräter" Alfano
Seine abtrünnigen Senatoren waren es, die Enrico Letta das Vertrauen aussprachen. Alfano argumentierte: “Es ist falsch, die Regierung jetzt zu sabotieren und Neuwahlen anzustreben. Wir fahren weiter fort, für Italien zu arbeiten”. Berlusconi-Treue bezeichnen den einstigen Berlusconi-Vize als “Verräter”.
Doch alle Brücken zur Forza Italia wollen sie nicht abreissen. So haben die Alfiani denn auch gegen den Ausschluss Berlusconis aus dem Senat gestimmt – wohl wissend, dass der Ausschluss auch ohne ihre Stimmen zustande kommt. Ziel des Nuovo centro destra ist es, weitere Berlusconi-Anhänger zu ködern.
Sein Freund Putin ist "skandalisiert"
Berlusconi wirkte in den letzten Tagen zunehmend nervös. Er sprach von einem „Staatsstreich gegen ihn“. Das Urteil des höchsten italienischen Gerichts bezeichnete er als „kriminell“. Sogar sein Freund Wladimir Putin, der ihn kürzlich in Rom besuchte, sei „skandalisiert“ wie er, Berlusconi, behandelt würde. Später erklärte er, die Senatoren, die gegen ihn stimmten, würden „vor ihren Kindern, ihren Wählern und allen Italienern mit Schande überhäuft“.
Mit arroganten Worten verlangte er von Staatspräsident Napolitano seine Begnadigung – ohne ein formelles Begnadigungsgesuch einzureichen. Das sei unter seiner Würde. Napolitano wies die Bitte ab und erinnerte ihn an einige Anstandsregeln. „Seine Worte werden zunehmend brutaler“, kommentierte ein linker Senator. Er werde eine „Gefahr für den Staat und die Institutionen“.
Bis er die Strafe antritt dauert es Monate
Am Tag vor der Abstimmung zauberte er plötzlich „neue Beweismittel“ aus dem Hut, die deutlich machen sollten, dass er unschuldig sei. Er sprach von „mindestens sieben neuen Beweisstücken“ der amerikanischen Steuerverwaltung, die ihn entlasteten. Deshalb fordere er einen neuen Prozess.
Das Oberste Gericht hatte ihn am 1. August verurteilt. Dank einem früheren Amnestiegesetz wurde die vierjährige Strafe sofort um drei Jahre gekürzt. Da er älter als 70 Jahre ist, kann er das verbleibende Jahr unter Hausarrest oder im Sozialdienst verbüssen. Er hat bereits einen Antrag auf Sozialdienst gestellt. Bis er die Strafe antritt, wird es noch Monate dauern.
Kein Paradies in Sicht
Peinlich für Berlusconi ist, dass er das Gesetz, das seinen jetzigen Ausschluss aus dem Parlament besiegelt, selbst unterstützt hat. Das Gesetz war im letzten Herbst von der damaligen Justizministerin Paola Severino ausgearbeitet und von Berlusconi und seiner Partei gutgeheissen worden.
Berlusconi argumentiert, das Gesetz Severino könne nicht rückwirkend für ihn angewandt werden. Die ihm zur Last gelegten Vergehen liegen um Jahre zurück.
Berlusconi wäre nicht Berlusconi, wenn er sich jetzt zurücklehnte. Er wird weiter poltern. Doch seine Mittel sind jetzt begrenzt. Seine letzte Hoffnung sind jetzt Neuwahlen. Wenn er dann von Millionen gewählt wird, kann er sich wieder auf das Volks-Verdikt berufen.
Aber wird er von Millionen gewählt? Und Neuwahlen stehen im Moment nicht zur Diskussion. Wenn die Regierung Letta einen einigermassen ordentlichen Job macht, hat Berlusconi endgültig ausgedient. Die Zeit arbeitet gegen ihn. Doch niemand soll glauben, dass ohne Berlusconi das Paradies über Italien hereinbricht.