Das amerikanisch-russische «New Start»-Abkommen» beschränkt die atomare Rüstung. Putins jetzige Ankündigung, den Vertrag auszusetzen, sollte nicht überbewertet werden. Das Abkommen lag schon seit langem im Sterben. Zudem betrifft es nicht die Atomwaffen, mit denen Putin jetzt immer wieder droht.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges lässt Putin immer wieder durchblicken, dass Russland Atomwaffen einsetzen könnte. Bei diesen Waffen würde es sich um sogenannte «Battlefield Nukes» handeln: also taktische, nicht-strategische Atomwaffen. Sie haben eine geringe Sprengkraft, sollen vor allem lokale gegnerische Ziele treffen und sind nicht für einen grossflächigen Einsatz gedacht. Sie wären vor allem da, um feindliche Offensiven zu unterbinden.
Abgeschossen werden diese «Nukes» unter anderem von Kurzstreckenraketen, Granatwerfern oder neuerdings von Drohnen. Die USA vermuten, dass Russland über etwa 2’000 taktische, nukleare Mini-Waffen verfügt. Bisher wurden noch in keinem Krieg Battlefield Nukes eingesetzt.
Taktische Waffen, strategische Waffen
Bei dem jetzt von Putin sistierten «New Start»-Abkommen geht es nicht um diese taktischen Waffen.
Der «New Start»-Vertrag regelt die Beschränkung von strategischen Waffen: also Langstrecken-Waffen, die zum Beispiel von Russland aus auf die USA abgeschossen werden können – oder umgekehrt.
Strategische Waffen bestehen aus drei Hauptkategorien:
- Mit Atomsprengköpfen bestückte Interkontinental-Raketen, die sich in Silos in Russland oder den USA befinden und von dort aus abgeschossen werden können. Man nennt sie ICBM: «Intercontinental Ballistic Missile».
- Mit Atomsprengköpfen versehene Langstrecken-Raketen, die von Untersee-Booten aus abgefeuert werden, sogenannte SLBM: «Submarine-launched ballistic missiles».
- Bomber, von denen aus weitfliegende mit atomaren Sprengsätzen bestückte Interkontinental-Raketen auf gegnerisches Gebiet abgeschossen werden können.
Russland besitzt vermutlich über 600 Abschussvorrichtungen für atomare Sprengsätze (also ICBM, SLBM und Bomber zusammen). Zur Verfügung stehen den Russen fast 3’000 atomare Sprengköpfe.
Die USA verfügen über 850 Abschussplattformen und über etwa 2’200 atomare Sprengköpfe.
«Start 1», «Start 2», «New Start»
Ziel der «Start»-Verhandlungen («Start 1»), die im Sommer 1982 in Genf begannen, ist es, ein nukleares Gleichgewicht zwischen den USA und der Sowjetunion zu schaffen und die Zahl der Abschussrampen und Sprengsätze kontinuierlich zu verringern. Das Abkommen wurde 1991 in Moskau von den Präsidenten Reagan und Gorbatschow unterzeichnet.
1993 unterschrieben die Präsidenten George H. W. Bush und Boris Jelzin in Moskau ein erweitertes Start-Abkommen, genannt «Start 2». Es bezog unter anderem Mehrfachsprengköpfe, sogenannte MIRVs, mit ein.
2010 unternahm Barack Obama einen Anlauf zur Erweiterung der atomaren Abrüstung. Im August 2010 unterzeichneten Obama und der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew den «New-Start»-Vertrag. Er sah eine weitere Reduzierung und Begrenzung der strategischen, atomaren Angriffswaffen vor. Die Zahl der Sprengköpfe wurde von je 2’200 auf je 1’550 begrenzt. Die Zahl der Trägersysteme wurde von 1’600 auf 800 herabgesetzt.
Dann kam der Ukraine-Krieg
Ende Januar 2021 unterzeichneten Wladimir Putin und die USA eine Vereinbarung über eine fünfjährige Verlängerung des «New Start»-Abkommens.
Alle Start-Abkommen sehen vor, dass sie von Inspektoren aus den USA und Russland überwacht werden.
Dann kam der Ukraine-Krieg. Im August letzten Jahres erklärte Russland, dass wegen der amerikanischen Sanktionen keine russischen Inspektoren in die USA reisen könnten. Deshalb lege Russland das Abkommen aufs Eis.
Zornreaktion?
Zum Schluss seiner über hundertminütigen Rede sagte Putin am Dienstag, er wolle das Abkommen aussetzen. Einige interpretieren das als Zornreaktion auf den Besuch von Präsident Biden in Kiew. Vielleicht drückt die putinsche Reaktion auch die Wut über den nicht nach Plan verlaufenden russischen Überfall auf die Ukraine aus.
Erschüttert hat Putins Ankündigung die amerikanische Seite nicht. Dennoch: Ein Tod des Abkommens könnte das Ende der über 50-jährigen Bemühungen zur Rüstungskontrolle bedeuten. Alles hatte 1969 mit dem Beginn der «Salt 1»-Verhandlungen begonnen. Mehrere hundert Sitzungen und Konferenzen zur Eindämmung des Wettrüstens hatten über die Jahre hinweg in Genf, Helsinki, Wien, Reykjavík, Washington und Moskau stattgefunden. Sogar bei einem Spaziergang in einem Genfer Wald wurde gefeilscht.
Auf dem Sterbebett
Der «New Start»-Vertrag war jetzt das letzte noch gültige amerikanisch-russische Abkommen zur Rüstungsbeschränkung.
Doch das Vertragswerk lag schon lange auf dem Sterbebett. Im vergangenen Monat hatten die USA erklärt, Russland halte sich nicht an den Vertrag und tue, was es wolle. Seit Beginn der Corona-Pandemie sind die Inspektionen ausgesetzt worden.
Unerwünschte Inspektoren
Doch Putin hat den Vertrag, der 2026 ausläuft, in seiner Rede am Dienstag nicht gekündigt. Er drohte auch nicht mit der Stationierung weiterer atomarer Waffen. Aber er machte deutlich, dass er nichts mehr von dem Vertrag hält und dass amerikanische Inspektoren in Russland unerwünscht sind. Er wolle verhindern, dass die Amerikaner die russischen Stützpunkte untersuchten, da sie ihre Erkenntnisse dann den Ukrainern weitergeben könnten, um Angriffe zu starten.
Nicht nur erst seit dem Ukraine-Krieg besteht zwischen den beiden Ländern fast keine Kommunikation und kein Vertrauen mehr. Biden bezeichnete Putin als Kriegsverbrecher, und Putin erklärte am Dienstag, dass die USA ein Aggressor und der Hauptfeind seien.
Die USA nehmen es gelassen
Ist die Sistierung des «New Start»-Vertrags ein schwerer Schlag für die Rüstungskontrolle? Im Pentagon und im amerikanischen Aussenministerium nimmt man Putins Ankündigung gelassen. Faktisch war der Vertrag schon lange nicht mehr in Kraft. Ändern wird sich wohl kurz- und mittelfristig wenig. Putin könnte vielleicht mit einigen Atombombentests provozieren. Und das wär’s dann.
«New Start» hatte zudem einen grossen Makel: Das Abkommen reglementierte nur die amerikanischen und russischen Atomwaffen – nicht jedoch die chinesischen. China ist jedoch dabei, sein Nuklear-Arsenal rasch auszubauen. Doch Peking ist nicht zu einer Beschränkung seiner Atomwaffen bereit. Und ein Abkommen, das eine der drei grossen Atommächte ausklammert, ist sinnlos.
Keine Chance auf ein neues Abkommen
Die USA machen gute Miene zu Putins Spiel. Sie erklären, sie wünschten sich einen neuen Rüstungsvertrag. Doch alle wissen, dass ein solcher zur Zeit nicht möglich ist.
Selbst wenn bald einmal ein neues Abkommen ausgehandelt werden könnte, ist es kaum vorstellbar, dass der amerikanische Kongress einem solchen zustimmt. Die Republikaner haben schon lange klar gemacht, dass sie wenig von Verträgen zur Rüstungsbegrenzung halten. Donald Trump hatte 2018 den INF-Vertrag gekündigt: das Abkommen über die Beschränkung atomarer Mittelstreckenraketen. Auch die Demokraten äussern sich mehr und mehr kritisch gegenüber solchen Vertragswerken.