Empörung war zunächst ein letztes Mittel oder eine letzte Ausdrucksform der Selbstbehauptung, wie die Sozialgeschichte lehrt: Am Anfang stand der noch vage Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmt, dann wuchsen Zweifel und Nachfrage, und am Ende brach die Empörung aus. Das galt für den Einzelnen ebenso wie für Gruppen. In dem Masse, wie sie gegen Missstände antraten, schärften sich die Konturen der Gegner und damit die eigene Identität.
Der Stoff der Revolution
So verliefen Revolutionen: Lange Zeit hungerte das Volk und dann empörte es sich gegen den Hunger. Was ursprünglich wie ein gottgewolltes Schicksal erschien, wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt als eine Willkür der Mächtigen identifiziert, für die es keinerlei Rechtfertigung gab und die es schlicht und einfach zu beseitigen galt. So entstanden jene Umwälzungen, auf die Europa bis heute stolz ist.
Empörung steht also am Ende einer Eskalationsspirale. Ein gutes Beispiel dafür bietet auch heute noch die katholische Kirche. Am Anfang stehen die Gläubigen, die dem Dogma und der Hierarchie folgen. Irgendwann kommen sie an den Punkt, von dem an ihnen die Regeln und Handlungsweisen der Bischöfe und Priester nicht mehr einleuchten. Es entstehen Zweifel. Und wenn die Zweifel nicht beseitigt werden können oder der Klerus eklatant und unabweisbar versagt, kommt Empörung ins Spiel. In ihr ballen sich Glaubenszweifel mit existentieller Wut.
Nimbus des Edlen
Wir meinen entsprechend gelernt zu haben, dass diejenigen, die sich empören, im Recht sind. In weiten Teilen der Geschichte ist das völlig klar: Wer aufgrund ungerechter Herrschaft hungert oder von gewissenlosen Eliten in Kriegen verheizt wird, tut gut daran, sich dagegen zu empören und in der Folge dagegen anzugehen. Herz und Verstand weisen den richtigen Weg.
Dem Modus der Empörung haftet bis heute dieser Nimbus an. Alles aber wandelt sich im Laufe der Zeiten. So auch die Empörung. Nach und nach wird sie zu einer ganz alltäglichen Emotion, die keinerlei Entwicklung oder Begründung mehr bedarf. Umso mehr lässt sich mit ihr Zustimmung erzielen und Geld verdienen. PR-Leute, Journalisten, Werber und Politiker wissen das ebenso gut wie marktorientierte Künstler.
Wem es heutzutage gelingt, die Empörungsbereitschaft der Zuhörer oder Konsumenten zu mobilisieren, hat gewonnen. „Emotion“ und „emotional“ sind zu grossen Schlagworten in der Werbung geworden. Und Medien können ihre Resonanz beziehungsweise ihre Erfolge an dem Mass bemessen, in dem sie Empörungsbereitschaft mobilisieren. Politiker, die mit „Argumenten“ überzeugen wollen, ernten vor diesem Hintergrund bestenfalls ein dünnes Lächeln.
Argument und Emotion
Wer Empörung mobilisiert, gewinnt, und wer sich empört, hat recht. Niemand, der sich empört, muss von der Sache etwas verstehen, denn die Empörung beglaubigt sich selbst. Kein Argument reicht an die emotionale Tiefe einer Empörung. Man kann das für sich selbst an vielen Themen ausprobieren: Jedes Mal, wenn man versucht, Erklärungen für die beklagenswerten Zustände unserer Welt und die Schwierigkeiten ihrer Überwindung zu finden, sieht man die sich senkenden Daumen und spürt die emotionale Ablehnung: schon verloren!
Früher haben Literaten, Maler, Regisseure und andere Künstler wunderbar mit Sexualität provozieren können: Schon empörte sich das Bürgertum. Die Auslöser für Empörung sind heute anders. Da genügt es, dass sich Professoren mit Themen beschäftigen, von denen ihre friedliebenden Studenten nichts hören wollen: Konflikte, Krieg, militärische Bündnisse oder ethnologische Forschungen, die nicht zum derzeitigen Gender-Mainstream passen.
Empörende Diskurse
Damit hat sich die Empörung selbst gewandelt: Sie richtet sich nicht mehr gegen unzumutbare Lebensbedingungen, sondern gegen Diskurse, die als unpassend empfunden werden. Die Empfindlichkeit hat zugenommen, und das Spiessertum erscheint in neuer Gestalt. Die heutigen Spiesser empören sich über alles, was nicht in ihre Schemata passt. Am meisten empören sie sich gegen die Zumutungen des Denkens.
Denn die Zumutung des Denkens zielt darauf, dass der Denkende noch nicht alles weiss und sich im Zuge seines Denkens verändern muss. Damit aber stehen seine Überzeugungen zur Disposition. Dagegen richtet sich der heute nicht nur im Internet grassierende Empörungsmodus. Denn da steht die Überzeugung fest und die darauf basierende Empörung auch. Es gibt nichts Heiligeres als die eigene unhinterfragbare Überzeugung. Wer es wagte, daran zu rühren, weckt keine Zweifel, sondern nur neue Empörung: Wir werden nicht ernst genommen!
Die Instrumentalisierung
Der Kulturbruch durch den modernen Empörungsmodus ist viel gravierender, als die meisten Intellektuellen ahnen. Empörung läuft heute nicht mehr wie früher über die Stufen der Zweifel, Nachfrage und der anschliessenden Rebellion. Jetzt steht die Empörung ganz am Anfang. Damit bezieht sie ihre Energie aus einer Überzeugung, die sich durch keinerlei Information irgendwie verändern würde. Die Zeit der intellektuellen Diskurse ist vorbei. Das ist kein Grund zur Empörung. Das ist eher zum Verzweifeln.
Denn inzwischen sehen wir auch, wie Politiker, denen nur an der Zementierung ihrer Macht und der Vermehrung des Reichtums ihrer im Hintergrund agierenden Klientel gelegen ist, den Empörungsmodus instrumentaliseren. Sie nehmen die Emotionen unterprivilegierter Gruppen auf und verleihen ihnen die Tonart der Empörung. Die Empörten glauben, in ihnen ihre Fürsprecher gefunden zu haben. Und sie haben kein Mittel dagegen.