Der Abstimmungskampf um die Rentenreform sei ein „Festival von Heuchelei, Irreführungen und Verschleierungen, hüben wie drüben“, war unlängst in der NZZ zu lesen. Wer sich etwas eingehender mit den Argumentationen und Schlagworten zur Abstimmung vom 24. September über die Altersvorsorge 2020 befasst, wird diesen Befund nicht bestreiten.
Nur: so laufen Abstimmungskämpfe eigentlich immer. Die Befürworter und Gegner einer Vorlage trommeln für ihre Interessen und Überzeugungen, die Gegenargumente werden verschwiegen oder einseitig zerpflückt. „That’s Democracy!“, würde man dazu in Amerika sagen. Die Aufgabe des Stimmbürgers ist es, aus dieser Kakophonie von Argumenten eine eigene Entscheidung pro oder contra herauszuschälen.
Persönlichkeiten gewichtiger als Parteiparolen
Doch wer kann schon behaupten, bei einer so komplexen Materie wie der gesetzlichen Regelung der zukünftigen Altersvorsorge, bei der eine Flut von Statistiken und Prognosen ins Feld geführt werden, den vollen Durchblick zu haben? Allein mit rechnerischen Kriterien kann das nicht gelingen. Es geht auch um Gefühle, weltanschauliche Standpunkte und – dies vor allem – um politische Erfahrungen. Und da orientieren sich viele Stimmbürger eben weniger an Partei- oder Verbandsparolen als an Persönlichkeiten, denen sie bei dem zur Debatte stehenden Thema die höhere Glaubwürdigkeit zutrauen.
In diesem Wettbewerb um glaubwürdige Prominente dürfte im Falle der Rentenreform das Ja-Lager über das erheblich stärkere und populärere Personal verfügen. Es sind vor allem drei allgemein bekannte Frauen, die bei dieser sozialpolitischen Entscheidung wohl am meisten Überzeugungskraft ausstrahlen und damit abstimmungspolitisch auch entscheidendes Gewicht auf die Waage bringen: Eveline Widmer-Schlumpf, Ruth Dreifuss und die amtierende Bundespräsidentin Doris Leuthard. Alle drei gelten in der Sache, um die es hier geht, als kompetent, pragmatisch, integer und unideologisch.
Zwei Altbundesrätinnen mit Charisma
Wer Ruth Dreifuss bei ihrem Auftritt unlängst in der „Arena“ zur Rentenreform gesehen und ihren Argumenten zugehört hat, wird sich dem Eindruck kaum entziehen können: da spricht eine Frau, die auf lange Erfahrungen gerade mit diesem Thema als Bundesrätin zurückblickt, die die Details wirklich kennt und die weiss, was vernünftige Kompromisse sind. Sie wies darauf hin, dass sie als Magistratin die letzte AHV-Reform, die bereits 20 Jahre zurückliegt, begleitet und gewonnen hat. Und mit Recht erinnerte sie daran, dass in früheren Jahrzehnten die AHV alle fünf Jahre revidiert und angepasst wurde. Warum sollte das nicht auch in Zukunft möglich sein?
Dies als Antwort auf jene weltfremden Puristen, die argumentieren, man müsse eine Lösung finden, die die Finanzierung des Rentenwerks auf Jahrzehnte hinaus garantieren könne. Als ob man eine solche Lösung in der praktischen Politik ohne weiteres in nützlicher Frist aus dem Boden stampfen könnte!
Noch besser bekannt in der Öffentlichkeit ist Eveline Widmer-Schlumpf als hochkompetente frühere Finanzministerin und unabhängiger politischer Kopf mit beneidenswerter Popularität. Sie hat den am 24. September zur Abstimmung stehenden Rentenkompromiss in einem Interview als „in der Balance“ bezeichnet. Das wiederum hat einige Gegner der Vorlage empört und zu der absurden Forderung verleitet, wahlpolitische Einsätze von Altbundesräten sollten künftig reglementiert werden. Solche wirren Ausbrüche unterstreichen nur, wie stark man das Gewicht und die Glaubwürdigkeit einer Persönlichkeit wie Widmer-Schlumpf auch im gegnerischen Lager einschätzt – und fürchtet.
Lieber den Spatz in der Hand
Die dritte im Bund der schwergewichtigen „Influencerinnen“ (wie ein neues Modewort im PR-Jargon heisst) in diesem Abstimmungskampf ist die amtierende Bundespräsidentin Doris Leuthard. Die rehäugige Magistratin ist die zurzeit wohl landesweit bekannteste und populärste unter den aktiven Politikerinnen. In Sachen „Volksnähe“ steht sie unter ihren sechs Bundesratskollegen ziemlich unbestritten an der Spitze. Auf diesen Platz bringt man es in einer vitalen Demokratie nicht ohne eine gehörige Portion an glaubwürdiger Ausstrahlung. Nicht von ungefähr wird in der laufenden Abstimmungskampagne daran erinnert, dass Doris Leuthard bisher nur zwei von 15 Volksabstimmungen verloren hat, bei denen sie sich als Bundesrätin aktiv engagierte.
Natürlich lässt sich mit solchen Messkriterien der Ausgang des Abstimmungskampfes um die Rentenreform keineswegs zuverlässig voraussagen. Dicke Überraschungen sind bei Volksentscheiden in demokratischen Gesellschaften immer möglich – das weiss man nicht erst seit der Wahl des irrlichternden Donald Trump in Amerika.
Doch es würde verwundern, wenn die Mehrheit der Stimmbürger in der Schweiz, wo Pragmatismus und Glaubwürdigkeit immer noch als hohe politische Tugenden gelten, eine Kompromisslösung ablehnen würde, von der selbst die Gegner einräumen, dass sie „Bewegung in die richtige Richtung“ bringt. Niemand bestreitet im Ernst, dass dieser Kompromiss die Finanzierung der Rentenkassen wenigstens auf mittlere Sicht solider gewährleistet als gar keine Reform. Dennoch will das Nein-Lager diesen schwer errungenen Ausgleich ablehnen mit dem völlig ungesicherten Versprechen auf eine baldige bessere Vorlage.
Also lieber die Taube auf dem Dach als den Spatz in der Hand? Wer für diese Variante stimmt, handelt jedenfalls gegen den Rat und die Erfahrung von drei politischen Praktikerinnen mit hohem Glaubwürdigkeits-Bonus: Eveline Widmer-Schlumpf, Ruth Dreifuss und Doris Leuthard.