Nach etlichem Warten tritt er auf. Stolpert ungeschickt auf die Bühne; gebückt, den Kopf nach vorne, den Körper widerstrebend nachgezogen, verbeugt er sich kurz, mit gesenkten Augen, schlurft zum Klavier, setzt sich und sammelt sich. Dann taucht er ein.
Sein Körper entspannt sich, seine Miene wird beseelt. Er ist zu Hause. Was er zu spielen gedenkt erfahren Zuhörer und Veranstalter immer erst kurz vorher. Vielleicht spielt der Pianist das, was ihn gerade besonders beschäftigt. Bach ist es diesmal. Und Schumann. Gespielt mit einer Innigkeit und Intensität, die anrührt. Die Zuhörer nehmen dieses auf; sie sitzen meist mit geschlossenen Augen da und lauschen mit dem ganzen Körper. Dann das Ende des Stücks. Die Zuhörer öffnen langsam die Augen, sammeln sich, applaudieren. Der Pianist erwacht aus seiner Trance, erhebt sich ruckartig, stösst die Hüfte am Klavier, den Fuss am Klaviersessel und flüchtet sich verwirrt in die Garderobe. Man hat ihn abrupt aus seiner Verzauberung gerissen.
Jetzt spielte Sokolow in der Kirche San Francesco in Locarno anlässlich der 66. Settimane Musicali von Ascona.
Was er spielen würde, wusste man vor der Kirche noch nicht. Dass es Bach und Brahms sein sollte, erfuhr man erst von hastig auf die Stühle gelegten rosa Zetteln im Innern. Dieses hatte sich in der zweijährigen Renovation sehr verändert. Die Fresken und Stukaturen wirken wie frisch gefertigt. Die altbeige Hartplastik-Wohnwand im Chor, die angeblich die bekannt schlechte Akustik der Kirche verbessern soll, stört an dieser prominenten Stelle immer noch das ästhetische Empfinden der Konzertbesucher.
Sokolows Konzerte sind in der Carnegiehall in New York innerhalb einer halben Stunden ausverkauft. In Locarno füllt er kaum die halbe Kirche. Vielleicht kommt er deshalb erst nach einiger Wartezeit und beginnt mit Bach.
Das gleiche Programm wie in Basel, dort war es ein Gebet. Hier beginnt mit den Klavierklängen ein durchdringendes zwitscherndes Geräusch, ähnlich dem Begrüssungszwitschern eines sich formierenden Schwarms von Zugvögeln. Sokolow ist irritiert, vergreift sich - das erste Mal - bei den Tönen, fällt aus dem Rhythmus. Das Zwitschern wird stärker, übertönt den Bach. Das Publikum ist damit beschäftigt den Übeltäter zu orten. Das dauert. Sokolow spielt wie in der Warteschleife. Religiöse Ergriffenheit will dabei nicht aufkommen. Es zwitschert weiter. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit und dem halben Bachprogramm wird das Zwitschern gedämmt. Doch Sokolow findet nicht zu seiner gewohnten Intensität zurück. Er spielt zu Ende und verschwindet in die Pause.
Das Klavier wird nun gestimmt.
Nach der Pause, bei Brahms’ Variationen über ein Thema von Händel, ist Sokolow ganz der Alte. Fast im rechten Winkel über den Flügel gebeugt, das Grogg ähnliche Profil mit der Halbglatze fast auf den Tasten, lebt er die Brahmsschen Emotionen mit dem ganzen Körper und singt lautlos dazu.
Ein solch grosser Meister, dass er sich um seine Technik nicht zu sorgen braucht, wirft er seine Arme senkrecht in die Höhe, um dann die entspannt pendelnden Hände, wie im Adlerflug, auf die Klaviatur fallen zu lassen. Auch die Beine folgen dem rasenden Tempo der Musik. Das Publikum verfolgt fasziniert, ob es ihn wohl auf dem Klaviersessel halten wird. Der Brahms, so ausgelebt, wird stürmisch gefeiert. Sokolow reagiert zwar mit runtergezogenen Mundwinkeln und schlaff hängenden Gesichtszügen, belohnt aber die Begeisterung mit Zugaben. Er spielt auch den Bach vom Anfang; so wie er ihn zu spielen gewohnt ist: Magie pur. Sokolow bietet Mystik, nonverbal, dafür umso beredter.