Der Einsturz der alten Morandi-Brücke in Genua mit seinen 43 Toten war ein nationales Drama. Wieder einmal wurden die Italiener und Italienerinnen von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen erfasst. „Wir taugen nichts, wir können nichts, alles ist Schlamperei, Korruption, alles wird der Dividende geopfert.“
Und so war es auch. Der Einsturz der Morandi-Brücke wurde zum Symbol für den Zustand des ganzen Landes.
Doch jetzt, knapp zwei Jahre später, folgt Balsam auf die verletzte Volksseele. Am Dienstag wurde die neue Brücke fertiggestellt. Zumindest im Rohbau. „Wir können es eben doch“, freut sich das Land. Wenn es um den nationalen Stolz geht, werden bürokratische Hindernisse plötzlich schnell überwunden.
Sirenen heulten, Fahnen wehten, die Musik spielte, Ministerpräsident Giuseppe Conte und Infrastrukturministerin Paola De Micheli waren an diesem Dienstagmorgen dabei. Conte sagte: „Eine Wunde ist geheilt.“ In der Nacht soll das neue Bauwerk in der Farben der italienischen Trikolore erstrahlen: grün, weiss, rot.
Nach nur zehn Monaten Bauzeit war das letzte, 44 Meter lange Stück in die knapp 1,2 Kilometer lange Brücke eingefügt worden. Jetzt müssen noch der Bodenbelag aufgetragen, die elektrischen Installationen und die Abschrankungen eingebaut werden. Mitte Juli soll das Bauwerk nach Angaben von Ingenieur Roberto Carpaneto dem Verkehr übergeben werden.
Vertuschte Warnungen, gefälschte Dokumente
Die Brücke überspannt das Tal und das Flüsschen Polcevera. Daher rührt auch der offizielle Namen der eingestürzten Brücke: „Polcevera-Viadukt“. Im Volksmund wurde die Schrägseilbrücke jedoch nach dessen Erbauer, dem Architekten Riccardo Morandi, genannt.
Seine Brücke wurde 1967 eingeweiht und erweckte internationales Aufsehen. Die „International Herald Tribune“ brachte nach der Einweihung ein Foto des Bauwerks auf der ersten Seite.
Kurz nach dem Einsturz begannen Schuldzuweisungen und das Gerangel darüber, wer für den Abbruch und den Wiederaufbau zuständig sein soll. Mehrere Warnungen über den schlechten Zustand der Brücke wurden vertuscht, Dokumente wurden gefälscht, Ingenieure und Manager logen das Blaue vom Himmel.
„Rufmord“
Wenig schmeichelhaft war, was über die Textil- und Mode-Firma Benetton gesagt wurde. Das Unternehmen hält 30 Prozent an der Infrastrukturfirma Atlantina. Diese besitzt den Autobahnbetreiber „Autostrade per l’Italia“, der fast die Hälfte des italienischen Autobahnnetzes managt. Dazu gehörte die eingestürzte Morandi-Brücke.
1,4 Milliarden Euro Gewinn machte die Benetton-Firma pro Jahr und zahlte saftige Dividenden aus. Diese wollte man nicht – so der Vorwurf – mit teuren Unterhaltsarbeiten gefährden. Benetton sprach von Rufmord. Vor allem die italienischen Cinque Stelle wollten nun Benetton nicht nur eine milliardenschwere Busse aufzwingen und die Kosten für die neue Brücke übertragen: Die Fünf Sterne, und später auch Lega-Chef Matteo Salvini, wollten der Firma auch die Konzession für den Autobahnbetrieb entziehen.
Fehler bei der Ernennung des Managements
Dazu wird es wohl nicht kommen. Zahlreiche straf- und zivilrechtliche Prozesse stehen im Raum. Ein Heer von Anwälten ist aufgeboten. Luciano Benetton hat eine Verdoppelung der Investitionen versprochen. Er wies jedoch jede Schuld am Tod der 43 Menschen von sich, gestand aber, er habe bei der Ernennung des Managements Fehler gemacht.
Nach dem Einsturz am 14. August 2018 wurden im Juni 2019 die noch stehenden Pfeiler gesprengt.
Und jetzt steht das neue Bauwerk des italienischen Star-Architekten Renzo Piano.
Er ist in der Schweiz kein Unbekannter. Der heute 83-jährige Genueser Piano baute in Riehen bei Basel die Fondation Beyeler und in Bern das Zentrum Paul Klee.
Zu seinen jüngsten Werken gehört „The Shard“ in London, der höchste Wolkenkratzer Europas, und das „Times Building“ in New York. Staatspräsident Giorgio Napolitano hatte Piano 2013 zum Senator auf Lebenszeiten ernannt.
25 Millionen Autos pro Jahr
Wie die alte, hat auch die neue Brücke grosse wirtschaftliche Bedeutung. Das alte Viadukt wurde jährlich von 25 Millionen Autos befahren. Die Brücke liegt nahe beim Genueser Hafen, von wo täglich Hunderte Lastwagen über das Viadukt Güter ins restliche Italien und in den Norden transportieren.
Gearbeitet an der neuen Brücke wurde Tag und Nacht. Corona hat die Bauarbeiten nur unwesentlich verzögert. Zwar wurde am 27. März bei einem der Arbeiter das Virus diagnostiziert, doch sofort wurden strengste Massnahmen getroffen. Den bis zu 300 auf der Baustelle tätigen Arbeitern wurde regelmässig das Fieber gemessen. Strikte Hygiene-Vorschriften wurden verordnet, und die 23 Kollegen, die mit dem Infizierten in Kontakt waren, wurden in Quarantäne gebracht.
Ponte Renzo Piano?
Wie soll die neue Brücke heissen? Die Gemeinde Genua hat einen Wettbewerb ausgeschrieben – und die Vorschläge purzeln nur so. Soll sie nach einem berühmten Genueser genannt werden, zum Beispiel nach Christoph Kolumbus, der eine Brücke von Europa nach Amerika schlug? Eher phantasielos, sagen die einen.
Soll sie „Renzo-Piano-Brücke“ heissen? Dieser Vorschlag findet viel Zuspruch. Allerdings ist es auch in Italien unüblich, Bauwerke, Strassen und Plätze nach noch lebenden Menschen zu benennen. Auch der in Genua geborene und 1999 verstorbene Liedermacher Fabrizio de André wird oft genannt. Er ist nicht nur in Genua populär.
Ponte Niccolò Paganini?
Oder Giuseppe Mazzini, der 1805 in Genua geborene Freiheitskämpfer. Das Problem: In Italien wimmelt es schon von Mazzini-Plätzen und -Strassen. Sicher nicht in Frage kommen der 1893 in Genua geborene Kommunistenführer Palmiro Togliatti oder Mary Shelly, die Erfinderin von Frankenstein, die lange in Genua gelebt hat. Genannt werden auch Nobelpreisträger Eugenio Montale und der Schauspieler Vittorio Gassman.
Am meisten Stimmen hat offenbar bisher der 1782 in Genua geborene virtuose und legendäre Geiger und Komponist Niccolò Paganini erhalten. Mit ihm identifiziert sich die Stadt noch heute.
Oder soll die Brücke „Ponte Risorgimento“ heissen? Zwar ist die Genueser Brücke jetzt wieder auferstanden, doch von Risorgimento (Wiederauferstehung) ist in Italien zurzeit wenig zu sehen.