Wie bei allen französischen Wahlen im Lauf der letzten 15 Jahre – ausgenommen den wichtigsten, den Präsidentschaftswahlen – musste man seit dem ersten Durchgang dieser Regionalwahlen schon wieder die alte Leier hören: «Die Partei der Nichtwähler ist die mit Abstand die stärkste Partei in Frankreich.»
Ein Schock
Nur dass diesmal das Wehklagen über das mutmassliche Desinteresse der Bevölkerung an der Politik und das angeschlagene Vertrauen der Franzosen in ihre Politiker und die repräsentative Demokratie noch um ein Vieles lauter war, als in den letzten Jahren.
Und das mit gutem Grund. Denn es ist einfach erschütternd, wenn nur noch einer von drei Wahlberechtigten an die Urnen geht, wie im Mutterland der Aufklärung und der Revolution gerade geschehen.
Man schreibe sich diese Zahlen hinter die Ohren: 33% Wahlbeteiligung im ersten Durchgang und – trotz aller Beschwörungen und pathetischer Appelle in der vergangenen Woche – gerade mal 34% in der gestrigen Stichwahl. Nur ein einziges Mal hatte in den letzten Jahrzehnten die Beteiligung bei französischen Wahlen knapp unter 50% gelegen – immer noch 16% mehr als jetzt.
Dieses Regionalwahlergebnis ist schlicht eine Ohrfeige für Frankreichs Politiker und das System. Das Erschreckendste: In der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen sind diesmal doch tatsächlich nur rund 18% in die Wahllokale gegangen. Es ist so, als hätten die Kandidaten sämtlicher Parteien mittlerweile schlicht nichts mehr im Angebot.
Diese katastrophal niedrige Wahlbeteiligung ist eine Art stummer Schrei des Wahlvolkes, der ausdrücken dürfte, dass man die herkömmlichen Politiker endgültig für unfähig hält, in dieser Gesellschaft irgendetwas zu bewegen oder zum Positiven zu wenden. Vielleicht auch eine Reaktion auf die immer schwerer zu vertuschende Tatsache, dass die eigentliche Macht eben nicht mehr bei der Politik liegt, sondern bei der weltweit vernetzten Grossfinanz und den Grossindustriellen und sich zusehends der Eindruck breit macht, dass die Politiker letztlich nur noch so tun, als könnten sie etwas beeinflussen.
Nichts mehr damit am Hut
Einer der besten Analytiker des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Frankreich, Jérôme Fourquet, die Nummer zwei des Meinungsforschungsinstitutes IPSOS, hat 2017 ein Buch geschrieben unter dem Titel: «Plus rien à faire, plus rien à foutre, la vrai crise de la démocratie» (Nichts mehr damit am Hut haben – Die wahre Krise der Demokratie) und darin überzeugend dargelegt, wie sich in Frankreich seit rund 15 Jahren eine Partei der Nichtwähler herausgebildet hat, die für das System der repräsentativen Demokratie eine echte Gefahr darstellt. Eine diffuse Strömung, eine Mischung aus Wurstigkeit und Wut, eine nicht klar zu definierende, meist schweigende Mehrheit, die von der Politik überhaupt nichts mehr erwartet – was dazu führen würde, dass die französische Demokratie über kurz oder lang ein echtes Problem bekommt.
Die Ergebnisse dieser Regionalwahlen mit der historisch hohen Verweigerung, seiner Bürgerpflicht in einer repräsentativen Demokratie nachzukommen, haben die Befürchtungen des Politologen knallhart bestätigt.
Die zwei Verlierer
Das Paradoxe beim Ergebnis dieser Regionalwahlen: Die beiden Parteien, die den Wahlkampf beherrscht haben und auch den kommenden Präsidentschaftswahlkampf beherrschen dürften, müssen eine gewaltige Schlappe einstecken: Marine Le Pens «Rassemblement National» (RN) und Emmanuel Macrons «La République en Marche» (LREM).
Nach den letzten Regionalwahlen vor fünf Jahren durfte Marine Le Pen noch zurecht tönen, dass das RN die stärkste Partei Frankreichs geworden war. Landesweit hatte sie damals im ersten Durchgang über 28% der Stimmen erzielt. Diesmal waren es gerade einmal 18%.
Besonders bemerkenswert dabei: Bislang war eine niedrige Wahlbeteiligung der extremen Rechten stets zu Gute gekommen, jetzt sind erstmals auch die Wähler des «Rassemblement National» massiv zu Hause geblieben.
Die zweite Ohrfeige für Marine Le Pen bei diesen Regionalwahlen: Sie hat es nicht geschafft, die südostfranzösische Region Provence-Alpes-Côte d’Azur (PACA) zu erobern, geschweige denn zwei weitere Regionen, ein Ziel, das sie über Monate hin herausposaunt hatte.
In der Region am Mittelmeer unterlag ihr Kandidat gestern mit 43% dem bisherigen Regionspräsidenten, der 14% mehr verbuchen konnte. Allerdings: Die Liste der Linken war dort, wie bereits vor fünf Jahren, im zweiten Wahlgang gar nicht mehr angetreten, obwohl sie sich dafür qualifiziert hatte, um einen Sieg der extremen Rechten zu verhindern. Die so genannte und oft beschworene Republikanische Front gegen Le Pen hat noch einmal funktioniert.
Macrons Partei – ganz unten
Fünf Jahre nach ihrer Gründung ist die Präsidentenpartei LREM immer noch nicht auf dem Boden Frankreichs angekommen, praktisch nirgendwo im Land vor Ort wirklich verankert. Die Ergebnisse dieser Regionalwahlen sind für sie geradezu katastrophal. In nur 8 von 13 Regionen hat sie es überhaupt in die gestrige Stichwahl geschafft. In der nordfranzösischen Region «Hauts de France», wo Macron, ganz im Stil der alten Politik, schnell noch ein paar Minister gezwungen hatte, auf der LREM-Liste zu kandidieren, hatte diese im ersten Durchgang erbärmliche 9,2% erzielt und war ausgeschieden.
Und in den acht Regionen, in denen ihre Kandidaten im zweiten Wahlgang noch einmal angetreten sind, haben sie es meistens nicht einmal auf 10% gebracht, landeten oft an allerletzter Stelle und bekamen häufig weniger Stimmen als im ersten Durchgang.
Der Präsident schweigt
Und was tut Macron? Er tut alles, um als derjenige zu erscheinen, der diesem Wahlergebnis und vor allem der extrem niedrigen Wahlbeteiligung so gut wie keine Beachtung schenkt, so als wäre an diesen letzten Wahlsonntagen im Land nichts Besonderes und schon gar nichts Besorgniserregendes geschehen.
Am Tag nach dem ersten Wahlgang feierte der Präsident das Fest der Musik und liess sich im Élyséepalast mit einem gewissen Justin Bieber ablichten. Als Botschaft sollte wohl rüberkommen: Ich bin an der Seite der Jugend, lasst uns optimistisch in die Zukunft blicken und nach der Pandemie auch endlich mal wieder feiern. Als wären die historisch niedrige Wahlbeteiligung und die Schlappe seiner Partei nichts mehr als Peanuts. Was jucken einen Jupiter schon die Untiefen von Regionalwahlen.
Deutliche Kritik bekam Macron für seine Haltung gestern vom Chef des Koalitionspartners seiner Partei, dem alten Haudegen der französischen Zentristen, François Bayrou. Das Ergebnis dieser Regionalwahlen sei nicht nur ein Warnschuss für die Demokratie, sondern auch für die amtierende Mehrheit des Präsidenten, so Bayrou, der eindringlich davor warnte, über dieses Wahlergebnis einfach hinwegzugehen. Präsident Macron wird das vielleicht zur Kenntnis nehmen, sich aber nicht sonderlich darum scheren.
Noch zehn Monate
Sicher ist: Mit dem heutigen Tag hat der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich definitiv begonnen. Zwar kann bis Ende April 2022 in der Tat noch einiges passieren, doch ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass es am Ende nicht erneut auf ein Duell zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen hinauslaufen wird, auch wenn das Ergebnis dieser Regionalwahlen auf den ersten Blick eher gegen diese Konstellation sprechen würde und eine Art Renaissance der Altparteien vermuten liesse.
Denn schliesslich haben die Vertreter der bürgerlichen Partei «Les Republicains» (LR) 7 von 12 Regionen des Landes souverän verteidigt und selbst die Linke aus Sozialisten und Grünen, wie bisher, die Präsidentschaft in 5 anderen Regionen behalten können.
Xavier Bertrand, der bisherige rechtsbürgerliche Präsident der nordfranzösischen Region «Hauts de France», brachte sich prompt noch gestern Abend als Präsidentschaftskandidat der Konservativen für das kommende Jahr offiziell in Stellung. Schliesslich hat er in seiner Region, die eigentlich eine Hochburg der Le-Pen-Partei «Rassemblement National» ist, mehr als deutlich mit 53% der Stimmen gewonnen und den Kandidaten der extremen Rechten, der nur 25% erzielte, meilenweit hinter sich gelassen.
Doch es wäre verfehlt, daraus zu schliessen, dass ihm das auch auf nationaler Ebene gelingen und er im kommenden Jahr Marine Le Pens Einzug in die entscheidende Stichwahl verhindern könnte.
Angesichts der erschreckend niedrigen Wahlbeteiligung sollte man sich absolut davor hüten, diese Regionalwahlen als Stimmungstest für die kommenden Präsidentschaftswahlen zu interpretieren. Leider ist es so, wie Marine Le Pen es schon nach ihrer gehörigen Schlappe im ersten Wahlgang formuliert hatte: Das Ergebnis dieser Regionalwahlen spiegelt nicht die politischen Kräfteverhältnisse im Land wieder.