Zur Jahrtausendwende hatten sich die 192 Mitgliedstaaten der UNO feierlich zum Ziel gesetzt, bis 2015 die Zahl der Analphabeten zu halbieren und allen Kindern kostenlosen Zugang zu den Grundschulen zu gewährleisten. «Bildung für alle» lautete das Motto. Zwar ist die Zahl der erwachsenen Analphabeten in den vergangenen zwanzig Jahren weltweit von 881 auf 775 Millionen gesunken. Aber 61 Millionen Kinder haben weiterhin keinen Zugang zu einer Grundschule.
Drei Jahre vor Ablauf der Frist wird klar, dass die Aufgabe nicht zu schaffen ist. Der jüngste «Weltbildungsbericht» der UNO-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) stellt fest, dass die Bemühungen um «Bildung für alle» nach anfänglichen Erfolgen stagnieren. «Rund um den Erdball existiert eine verlorene Generation von 200 Millionen Jugendlichen, die die Schule verlassen, ohne die für ihr Berufsleben notwendigen Kenntnisse erworben zu haben,» heisst es in dem Bericht. «Diese Menschen müssen eine zweite Chance erhalten, um ihr Potenzial zu entfalten.»
Stagnation, Rückschritte – und einzelne Erfolge
Auf zehn Länder entfallen drei Viertel aller erwachsenen Analphabeten: Indien, China, Pakistan, Bangladesch, Nigeria, Äthiopien, Ägypten, Brasilien, Indonesien und die Demokratische Republik Kongo. In Indien können weiterhin fast 290 Millionen Erwachsene nicht schreiben und lesen. China hingegen verzeichnet ein bemerkenswertes Ergebnis: Im Reich der Mitte ist die Zahl der erwachsenen Analphabeten in zwei Jahrzehnten von 183 auf 62 Millionen zurückgegangen.
Mit 49,5 Millionen Analphabeten über dem Alter von 15 Jahren liegt Pakistan an dritter Stelle. Die Regierung in Islamabad hätschelt das Militär und baut ihr Atomwaffenarsenal weiter aus, doch die Bildungsausgaben wurden in den vergangenen zehn Jahren von 2,6 auf 2,3 Prozent des Bruttosozialprodukts gekürzt. Die Folge davon ist, dass 5,1 Millionen Kinder keine Schule mehr besuchen. Die Unesco sagt voraus, dass die Zahl der über 15-jährigen Analphabeten in Pakistan im Jahre 2015 auf 51 Millionen ansteigen wird.
Die Schlusslichter und die Musterschüler
Absoluter Versager im Bildungswesen ist Nigeria, der bevölkerungsreichste Staat Afrikas. Trotz der hohen Einkünfte aus den Ölexporten ist in dem 162-Millionen-Staat das Heer der Analphabeten in den letzten zwei Jahrzehnten um zehn Millionen auf 35 Millionen angeschwollen. 10,5 Millionen Jugendliche gehen auf keine Schule.
Prozentual stehen zehn Länder Afrikas – Niger, Burkina Faso, Mali, Tschad, Äthiopien, Guinea, Sierra Leone, Benin, Senegal und Gambia – sowie Haiti noch schlechter da. Dort ist weniger als die Hälfte der Bevölkerung des Lesens und Schreibens kundig. Hingegen lobt der Unesco-Bericht Guatemala, Laos und Sambia, die eine fast 100-prozentige Alpabetisierung erreicht haben.
Defizite in der arabischen Welt
In den arabischen Staaten beenden 20 Prozent der Jugendlichen nicht die Grundschule. «Der Arabische Frühling hat die Aufmerksamkeit der Welt auf den Frust von Universitätsabsolventen gelenkt, die keine Arbeit finden,» erklärt die Direktorin des Berichts, Pauline Rose. «Millionen anderer junger Menschen in der Region schaffen es aber nicht einmal bis zur Sekundarschule. Auf sie warten nur unterbezahlte und unstabile Jobs.»
Neben Ländern südlich der Sahara weisen die arabischen Staaten das grösste Bildungsgefälle zwischen den Geschlechtern auf. In Jemen zum Beispiel gehen nur 49 Prozent der Mädchen aus armen Familien zur Schule, gegen 72 Prozent der Jungen aus der gleichen sozialen Gruppe. Selbst in der Türkei, die als Land mit mittlerem Einkommen gilt, haben 85 Prozent der jungen Frauen keine abgeschlossene Sekundarbildung, gegen 36 Prozent der Männer. Insgesamt schwindet jedoch die Benachteiligung der Mädchen, stellt der Unesco-Bericht fest. Die Ausnahme ist Afghanistan.
Benachteiligte Gruppen in Europa und USA
In Europa und Nordamerika mangelt es vor allem Angehörigen ethnischer Minderheiten an der für einen Beruf notwendigen Bildung. So sind etwa in Rumänien nur sieben Prozent der Roma-Kinder zwischen 14 und 18 Jahren in Sekundarschulen eingeschrieben. Die Unesco schätzt auf der Basis von Erhebungen der OECD, dass in den Industriestaaten 160 Millionen Erwachsene nicht fähig sind, einen einfachen Zeitungsartikel zu verstehen oder eine Stellenbewerbung zu schreiben.
In Deutschland hat jeder Sechste, in Grossbritannien jeder Fünfte und in Italien jeder Zweite Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Die Experten der Unesco sehen im Bildungsdefizit eine der Ursachen der hohen Jugendarbeitslosigkeit in einigen europäischen Ländern. «Schon vor der Finanzkrise mussten mehr als 40 Prozent der jungen Griechen und Italiener nach der Schule fünf Jahre auf einen Arbeitsplatz warten,» stellt ihr Bericht fest.
Die Schweiz steht im Ranking der Staaten mit dem höchsten Bildungsniveau hinter Japan, Schweden, Norwegen, Grossbritannien und Island auf dem sechsten Platz.