Schon am Gate am Flughafen in Zürich ist zu hören, dass Chicago kein klassisches Touristenziel ist. Die Passagiere, die auf Flug LX 008 der Swiss - im Code-Sharing mit United Airlines - warten, sprechen überwiegend Englisch, teils mit Akzent. Und auch im Flugzeug selbst sind während des fast zehnstündigen Fluges nach O’Hare Airport allerlei Sprachen zu hören, nur nicht Schweizerdeutsch.
Noch blubbert der amerikanische Schmelztiegel, obwohl längst nicht mehr so heiss wie noch zu jenen Zeiten, als Einwanderer unterschiedlichster Herkunft in grosser Zahl nach Chicago kamen, um hier ihr Glück zu versuchen und ihre Spuren zu hinterlassen, sei es im Stadtbild, in der Gastronomie oder im Geschäftsleben. Heute werden in Chicago angeblich 130 Sprachen gesprochen, und es heisst, wer in die Stadt komme, könne „die Welt sehen“.
Chicago Blues
Trotzdem ist Chicago eine uramerikanische Stadt geblieben, nüchterner als New York, bodenständiger als Los Angeles, seriöser als Miami - „die Stadt mit den breiten Schultern“, wie der Dichter Carl Sandburg sie beschrieben hat. Chicago, nicht peripher an einer der beiden Küsten gelegen und nicht in Gefahr abzudriften, verbindet den Osten mit dem Westen und hält das Zentrum zusammen: den Mittleren Westen, Amerikas „Heartland“, wo Einkommen noch überwiegend dem Boden, der eigenen Hände Arbeit abgetrotzt wird, in einer realen, Wind und Wetter ausgesetzten Welt und nicht in Traumsphären wie Wall Street, Hollywood oder South Beach.
In Amerikas Zentrum sind die Winter unerbittlich hart und treffen die eisigen Winde ungebremst vom Lake Michigan her auf eine Stadt, deren aufregende Skyline kaum Schutz vor Kälte bietet. Wer hier lebt, vergisst nie, dass der Alltag nicht eitel Sonnenschein ist. Ausdruck dafür ist der Chicago Blues, den schwarze Musiker wie Muddy Waters, Howlin’ Wolf oder B. B. King, einst aus dem Delta des Mississippi in die Industriestädte des Nordens, „das verheissene Land“, brachten, wo sie hofften, ohne Diskriminierung leben zu können: „Sweet Home Chicago“. Es ist, als pulsierten die Rhythmen des Blues noch heute in den Strassen von Chicago, eine ansteckende Vitalität, „Rock Me, Baby“, geschwächt durch Melancholie, „How Blue Can You Get“.
Upton Sinclair und die Schlachthöfe
In Chicago standen früher die riesigen Schlachthöfe, die Union Stock Yards, in denen Millionen von Tieren getötet wurden, deren Fleisch dank eines damals noch feingliedrigen Eisenbahnnetzes ins ganz Land hinaus transportiert wurde. „Hog Butcher to the World“, hiess die Stadt damals: der Welt grösste Schweinemetzgerei. Upton Sinclairs Roman „The Jungle“, „den Arbeitern Amerikas“ gewidmet, hat 1906 am Beispiel litauischer Einwanderer die korrupten, lebensgefährlichen und menschenunwürdigen Zustände in den Fleischfabriken Chicagos beschrieben. Die lärmigen, stinkenden Schlachthöfe sind längst verschwunden. Geblieben aber ist in Chicago die „Mercantile Exchange“, „The Merc“, eine Warenbörse, wo Terminkontrakte und Optionen auf Agrarprodukte wie Schweinebäuche, Milch, Butter, Eier oder Holz gehandelt werden.
Heute ist es, als strebe Chicago, seiner Bodenständigkeit zum Trotz, erneut nach Höherem. Seine spektakuläre Skyline ist Ausdruck einer ungehemmten Verehrung des Vertikalen, die erst vor drei Jahren einen Dämpfer erhalten hat, als die Arbeiten am „Chicago Spire“ wegen Finanzierungsproblemen eingestellt werden mussten. Der spiralförmige Wolkenkratzer des spanischen Architekten Santiago Calatrava hätte 610 Meter hoch werden sollen. Er wäre das höchste Gebäude Amerikas geworden, ja der westlichen Hemisphäre, und hätte Chicagos andere Riesen wie den 442 Meter hohen Willis Tower (den früheren Sears Tower) oder das 343 Meter hohe John Hancock Building („Big John“) deutlich überragt. Chicagos – und der Welt – erster Wolkenkratzer war 1885 gebaut worden, das zehn Stockwerke hohe Home Insurance Building, eine Stahlkonstruktion.
Die Weltausstellung von 1893
Das Gebäude entstand in der Folge des Grossen Feuers von Chicago, das am 8. Oktober 1871 ausbrach und innert zweier Tage 17 500 meist aus Holz gebaute Häuser vernichtete, inklusive des majestätischen Palmer House Hotel, das erst 13 Tage vor Brandausbruch eröffnet worden war. 300 Menschen starben, Tausende wurden obdachlos, und rund 190 Kilometer hölzerner Gehsteige verbrannten. Danach startete die Stadt, ungebrochen und vital, ein riesiges Wiederaufbauprojekt, das Architekten, Ingenieure und Arbeitskräfte aus aller Welt anzog und Chicago sein späteres Gesicht, mit Wolkenkratzern, breiten Strassen sowie grosszügigen Pärken und Grünanlagen geben sollte.
Schon 22 Jahre nach dem Grossen Feuer beherbergte die Stadt 1893 stolz die Weltausstellung, ein Schaufenster des Wiederaufbaus und ein Grossanlass, der damals 27 Millionen Besucher anzog, für Schwarze aber lediglich an einem einzigen Tag, dem „Negro Day“, zugänglich war. Hauptattraktion des „World’s Fair“ war ein rund 70 Meter hohes Riesenrad, dessen 36 Kabinen je 60 Personen Platz boten. Noch heute steht auf dem Navy Pier, Chicagos Vergnügungsmeile und grösste Attraktion des Staates Illinois, der in den Lake Michigan hinausragt und einen Blick zurück auf die Stadt erlaubt, ein kleineres „Ferris wheel“.
Zwar wäre auch Santiago Calatravas „Spire“, wie viele Wolkenkratzer in Chicago, auf seine Art unverwechselbar und einzigartig geworden. Doch er hätte als Teil der Skyline wohl etwas zu abgehoben, ja fast grossspurig gewirkt. Wie jenes an eine gigantische Zwiebel erinnernde Gebilde auf einem Gebäude der North Side, das einst als Anlegestelle für Zeppeline gedacht war, seine Funktion aber nie aufnahm, nachdem 1937 die deutsche „Hindenburg“ in Lakehurst (New Jersey) so spektakulär in Flammen aufgegangen und explodiert war. Es war das Ende des transatlantischen Zeppelinverkehrs.
Rupert Murdoch, "the Alien"
Dafür steht am Lakeshore East, in der Nähe des Lake Michigan, seit zwei Jahren ein 86-stöckiger Wolkenkratzer namens „Aqua“, den die 49-jährige amerikanische Architektin Jeanne Gang entworfen hat und dessen unterschiedlich gerundeten Balkone den Eindruck erwecken, als würden eine Welle langsam über das Gebäude rollen. Das 262 Meter hohe „Aqua“ ist das höchste Gebäude der Welt, das eine Architektin je gebaut hat, und zu Recht preisgekrönt.
„Weltbekannt“ nennt sich indes auch eine Speise, welche die Angestellten eines Lokals im Untergrund Chicagos lauthals und unermüdlich anpreisen: der „Cheeseborger“ in der 1934 eröffneten Journalistenkneipe „Billy Goat Tavern & Grill“, die unter dem gotisch anmutenden Turm der „Chicago Tribune“ liegt. Die legendäre Spelunke war Heimat für Generationen von Presseleuten, unter ihnen der Kolumnist Mike Royko, der während 34 Jahren für die „Daily News„, nach deren Untergang für die“ Sun-Times“ und schliesslich für die „Tribune“ schrieb, nachdem der australische Verleger Rupert Murdoch, den er „the Alien“ nannte“, 1984 die „Sun-Times“ gekauft hatte. Kein Fisch, meinte Royko, der etwas auf sich hielt, würde sich in Papier einer Murdoch-Zeitung einwickeln lassen. Mike Royko, der Sohn eines Milchmannes, war im Polenquartier im Nordwesten der Stadt aufgewachsen und hatte in einer Kegelbahn, einer Fabrik und einem Warenhaus gearbeitet, bevor er Journalist wurde – angeblich, weil ihm die Füsse beim Schreiben nicht weh taten.
Die Feinheiten der Demokratie
Lieblingsziel des Kolumnisten, der nie ein Blatt vor den Mund nahm, war Chicagos berühmt-berüchtigter Bürgermeister Richard J. Daley (1902-1976), ein Demokrat irisch-katholischer Herkunft,, der als letzter der Big City Bosse Chicago während 21 Jahren und mit Hilfe seiner „Machine“ - eines Systems, das Einschüchterung mit Günstlingswirtschaft paarte - mit eiserner Faust regierte. Immerhin gelang es Daley, im Falle Chicagos den Niedergang aufzuhalten, der andere Städte des amerikanischen „Rostgürtels“ wie Buffalo, Cleveland oder Detroit heimsuchen sollte. „Im Stadthaus ist kürzlich das Thema der Wiedereingliederung von Verbrechern diskutiert worden“, berichtete Royko in einer seiner Kolumnen: „Es ist ein geeigneter Platz für diese Art von Diskussion, denn die Stadt hat seit jeher viele Ex-Gauner und künftige Kriminelle beschäftigt.“
In seinem Nachruf aber zeigte sich Amerikas wohl populärster Kolumnist, den am Ende landesweit 600 Zeitungen nachdruckten, „Boss“ Daley gegenüber nachsichtig und fast versöhnlich: Der Machtmissbrauch des Bürgermeisters, schrieb Royko, habe jene nicht gestört, die viel Schlimmeres gewohnt waren: „Die Leute, die zu Lebzeiten Daleys hierher (nach Chicago) gekommen sind, kannten alle jemanden, der seine Macht zeigte, als ob er eine Keule schwingen würde, sei es ein Zar, ein Kaiser, ein König oder ein lokaler Sheriff. Die Feinheiten der Demokratie waren nicht Teil der Erfahrung dieser Einwanderer. Wenn also ‚the Machine’ mit harter Hand einigen Leute wehgetan hat, so ist sie vielen mehr wie alte Zeiten vorgekommen.“
"Occupy Chicago"
Chicagos politische „Machine“ läuft inzwischen leiser, sauberer und weicher, ist aber immer noch eine Macht. Immerhin hat sie mit Barack Obama den 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten hervorgebracht, einen Bewohner der Stadt, der einst an der juristischen Fakultät der University of Chicago im Hyde Park gelehrt hat. Und seit Mai regiert Rahm Emanuel, einst Obamas Stabschef im Weissen Haus, als 55. Bürgermeister die 2,7-Millionen-Stadt. Er hat jüngst ein drastisches Sparprogramm verkündet, das ärmere Bevölkerungsschichten härter treffen dürfte als Wohlhabende in ihren Apartments am Lake Shore Drive.
So wird auch Chicago heute nicht von den Protesten verschont, wie sie in andern Städten Amerikas, vor allem in New Yorks Wall Street, und in Übersee laut geworden sind. In den schattigen Strassenschluchten des Finanzdistrikts, wo „Batman“-Filme gedreht worden sind, trommeln die Anhänger von „Occupy Chicago“, skandieren ihre Slogans und recken ihre Transparente in die Höhe: „Wir sind die 99 Prozent“. Derweil ist in den Fenstern einer Bank in trotzigen Grossbuchstaben zu lesen: „WIR SIND DAS EINE PROZENT.“
Winter, Kälte, Schnee
Auch Präsident Barack Obama, obzwar ein Sohn der Stadt, dürfte in Chicago nicht mehr so beliebt sein, wie er es war, als er am 4. November 2008 im Grant Park kurz vor Mitternacht mit seiner Familie die Bühne betrat, um zusammen mit Hunderttausenden begeisterter Anhänger seinen Wahlsieg zu feiern. Noch zündete seine Rhetorik und noch schien es möglich, dass nach acht Jahren der Misswirtschaft von George W. Bush unter Amerikas erstem schwarzen Präsidenten alles besser oder zumindest erträglicher werden würde. “Falls es jemanden unter euch gibt, der immer noch zweifelt, dass Amerika ein Platz ist, wo alles möglich ist, der zweifelt, ob der Traum unserer Gründerväter heute noch lebt; falls es noch jemanden gibt, der an der Macht unserer Demokratie zweifelt, er hat heute Nacht seine Antwort bekommen“, rief Obama in die bewegte Menge: „Heute Nacht hat sich Amerika verändert.“
Barack Obamas hoch fliegende Rhetorik, "Yes we can“, hat sich inzwischen verflüchtigt. Sie ist der politischen Polarisierung des Landes, den erdrückenden Sachzwängen in Washington DC und der Demagogie einzelner Medien zum Opfer gefallen. Es ist, als wäre sie der Sonne zu nahe gekommen, die in diesen Herbsttagen noch immer warm über Chicagos Grant Park scheint, der bis auf ein paar wenige Jogger und Radfahrer leer ist. Die fallenden Blätter und eine gelegentlich aufkommende leichte Brise lassen den kommenden Winter erahnen, die Kälte und den Schnee, die niemanden verschonen, der in Chicago überleben will.