Die Agence France Presse hat in 37 Ländern 1885 Städte gezählt, die an diesem dritten Sonntag im September autofreie Zonen einrichten. Aber ein totales Fahrverbot auf dem ganzen Territorium gibt es nur in der Region Brüssel, einer der drei autonomen und bis auf den letzten Quadratmeter voneinander abgegrenzten Regionen Belgiens.
Das gibt’s in der ganzen Welt nicht mehr. Allen privaten Motorfahrzeugen, vom Auto und Töff bis zum Moped, ist das Fahren auf 160 Quadratkilometern verboten, sie liegen zehn Stunden lang wie verendete Tiere den Trottoirs entlang. Alles was man sich bewegen sieht sind Trams, die Metro, Busse, Taxis, Ambulanzen, Feuerwehr und Polizei, gelegentlich ein Arzt mit einer Sonderbewilligung. Und sie schleichen unnatürlich langsam auf den leeren Strassen, denn ausser in Notfällen muss sich sogar die Polizei an die Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern halten. An den Aussengrenzen der Region, manchmal mitten im Wald, werden nichtsahnende Touristen und andere Fremdlinge von der Polizei gestoppt und müssen Brüssel weiträumig umfahren oder per öffentlichen Verkehr erreichen.
Am Rond-Point Montgomery
Wie jedes Jahr sitze ich an diesem dritten Septembersonntagmorgen auf einer Bank am Rond-Point Montgomery neben der Statue, mit der die Brüsseler dem britischen Feldmarschall huldigen, dessen Armee im Herbst 1944 die Deutschen aus Brüssel vertrieb. Vor mir das weite Grasrondell, in seiner Mitte die sechs Fontänen, die ihr Wasser gegen den zentralen Springbrunnen spritzen. Im Kreisel um das Rondell herum vier konzentrische Fahrbahnen voll von einem Dutzend ringsum kreisenden Autos, 364 Tage im Jahr von morgens bis Mitternacht.
Heute Sonntag sind es weniger, aber auch sie werden jetzt verschwinden, denn es ist neun Uhr und Polizisten riegeln die fünf Zufahrtstrassen zum Montgomery mit Gittern und Schranken ab. Und jetzt füllt sich der Platz innert Minuten mit einer Unmenge von Velofahrern, die ein Jahr lang auf diesen Moment gewartet zu haben scheinen. Immer mehr, einzeln, zu zweit, viele Eltern mit ihren Kindern im Rücksitz oder auf ihren kleinen Tret- und Trampvelölis, viele mit Wimpeln und Ballönchen, an einer Schnur steigen zehn vielfarbige Ballone in die Luft. Und immer wieder ganze Veloclubs, von denen es in Belgien wimmelt, fünf oder fünfzig Mitglieder in ihren Klubleibchen und –hosen in langer Schlange hintereinander. Manchmal flitzen sie so schnell wie wenn sie ein Mannschaftszeitfahren gewinnen wollten - aber sie bremsen, wenn sie auf die vielen langsameren Velozipedisten und Fussgänger Rücksicht nehmen müssen. Ich habe in zwei Stunden keinen Zusammenstoss, nicht einmal ein hastiges Ausweichen gesehen.
Erlösung vom Lärm
Das ist eins der Erlebnisse dieses autofreien Tages: Unter allen seinen Geniessern herrscht eine im Vergleich mit den anderen 364 Tagen des Jahres selbstverständlichere Rücksicht auf den anderen. Und die zwei Stunden am Montgomery sind eine Erlösung vom pausenlosen Hintergrundrauschen der Autos auf meinem Boulevard und vom Tosen von Motorradfahrern, die ihre Maschinen auch nachts um drei Uhr auf infernalischen Lärm hinaufschrauben, wenn sie hundert Meter freie Fahrt vor sich sehen.
Eine kleine Minderheit von meist jungen Fahrern, aber ein einziger genügt, um hunderte von Anwohnern aus dem Schlaf zu reissen. Was für ein seliger Kontrast, diese Ruhe, die über dem Montgomery liegt! Ich empfinde sie nicht als Leere, nicht als Abwesenheit von Lärm, sie ist eine wohlige Atmosphäre um mich herum. Nur alle zehn Minuten höre ich ein Kreischen des Trams in der Kurve, hoch in der Luft manchmal ein Flugzeug. Einmal eine Polizeisirene.
Im 19. oder im 22.Jahrhundert?
Wohin ich auch an diesem Tag noch gehe: Zehn Stunden lang sehe ich vor meinen Augen Velos vorbeifahren, es müssen in der ganzen Stadt an die hunderttausend sein. Aber das Velo ist nur die kommunste der Fortbewegungsarten an diesem Tag. Vor meinem Bänkchen füllt sich der Montgomery mit Fussgängern, rucksackbewehrten Wanderern, Joggern, einmal mit Pferden und Reitern, mit Trottinetts, Rollschuhen und Rollbrettern, mit Rollstühlen mit und ohne Invalide, mit hand- oder fussgetriebenen Liege-Velos, eines fährt drei Runden um den Platz. Ein Glacéverkäufer hat seinen handgestossenen Karren zum Kinderwagen umfunktioniert. Apropos Kinderwagen: da wird einer im Lauftempo vom rollschuhfahrenden Vater gestossen! Und dort einer ebenso schnell vom Haushund gezogen!
Ein einzigartiges Erlebnis. Und wie fast alle Jahre ein herrlich milder Nachsommertag. Eigentlich ein Anlass, um Schweizer zu animieren, nächstes Jahr auf den 15.September ein Brüsseler Wochenende zu planen. Eine Stimmung wie an keinem anderen Tag im Jahr, man wird in ein anderes Zeitalter entführt. Früher fühlte ich mich zehn Stunden lang ins 19.Jahrhundert vor der Erfindung des Autos versetzt, in den Gassen der Innenstadt bin ich einmal einer Kutsche, ein andermal einem vierspännigen Bauernfuhrwerk begegnet. Ich spüre auch Anklänge an einen Festtag im Mittelalter, spazierendes Volk in allen Gassen und an speisebeladenen Tafeln wie bei Breughel. Doch dieses Jahr schiebt sich ein neuer Eindruck vor diese Reminiszenzen: Ich sehe die Brüsseler einen utopischen Tag in der Zukunft spielen. Eine Zukunft nicht ohne Autos, sie haben ja fast alle eines wie ich auch. Aber eine Zukunft, die sich vom Auto nicht überschwemmen und total vereinnahmen lässt! Für einen autolosen Tag erknübeln sie die ausgefallensten nichtmotorischen Fortbewegungsmittel.
Ein brutales Ende
Zum ersten Mal seit elf Jahren fahre ich abends nicht zum Montgomery zurück. Das brutale Ende dieses Tages kann ich mir nicht mehr antun. Um neunzehn Uhr räumen die Polizisten die Schranken weg. Innert Minuten rast eine wilde Automeute herein, wie wenn sie sich rächen wollten. Das wird nun 464 Tage lang so bleiben. Ich bin am Marché du Poisson geblieben, einem 500 Meter langen ruhigen Platz in der Innenstadt, in den noch bis 1900 die Fischer ihre Fische auf einem Kanal vom Meer brachten und verkauften und wo heute ein teures Fisch-Restaurant neben dem anderen steht. Ich trinke gegenüber zwei Bier und schreibe diesen Artikel. Ich schaue auf, zwei Meter vor mir schiebt sich ein Auto in einen freien Parkplatz. Es ist zwei Minuten nach sieben Uhr, der glücklichste Tag vom Jahr ist zu Ende.