Auf der Basis neuen Quellenmaterials hat der deutsche Zeithistoriker Norbert Frei eine aufschlussreiche Geschichte über die ersten sechs Bundespräsidenten und ihr Amts- und Geschichtsverständnis geschrieben. Deutsche Nachkriegsgeschichte von einer neuen Warte aus betrachtet, nicht zuletzt einer der Sprache.
Deutschland hat mit Frank-Walter Steinmeier gegenwärtig einen Bundespräsidenten, der sein Amt ersichtlich ernst nimmt, sein Wort gern und oft an die Öffentlichkeit richtet, durchaus wohlüberlegt und wohlgesetzt, dem Anlass angemessen. Nur lässt sich nicht sagen, eine seiner vielen Reden hätte einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Heuss, Lübke, Heinemann, Scheel, Carstens, Weizsäcker
Und da liest ein Minister einen seiner regelmässigen «talks» vom Teleprompter, und ganz Deutschland spricht von «der Rede»! Es waren des Wirtschaftsministers Robert Habeck klare Apostrophierungen entfesselter Antisemiten – ob diese nun aus dem «biodeutschen» linken oder dem immigrantischen Milieu heraustraten –, die dem Publikum bewusst machten, was Rede vermag. Das eindringliche, das treffende Wort im richtigen Augenblick – elementare oder schon kunstvolle Politik?
Es gibt für das akkurate Wort etwelche Beispiele in der bundesrepublikanischen Geschichte, wenn auch nicht allzu viele. Sie finden sich in der neusten Studie des Zeithistorikers Norbert Frei, der wie kein anderer die deutsche Nachkriegsgeschichte entschlüsselt hat. Zuletzt federführend beim grossen Sammelband über das Auswärtige Amt und seine Haltung während und nach der NS-Zeit.
War seinerzeit der grüne Aussenminister Joschka Fischer der Auftraggeber, so war es nun Frank-Walter Steinmeier, der den emeritierten Jenaer Universitätslehrer Frei mit der Aufgabe betraute, Rolle und Amtsverständnis der ersten sechs Bundespräsidenten der Bundesrepublik zu untersuchen. Es sind jene sechs, welche die NS-Zeit noch als Erwachsene erlebt haben: Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens und Richard von Weizsäcker, über die nun auch Archivmaterial freigegeben wurde.
Einzige Macht: die Rede
Man mag sich zunächst fragen, was das Thema «Bundespräsidenten» denn hergeben könne: institutionelle «Dekors» der Republik. Norbert Freis aufschlussreicher und, wie stets, trefflich formulierter Text lässt keine solcher Fragen offen. Der Autor erschliesst dem Leser neue Aspekte der Nachkriegsgeschichte, doch eben aus dem Blickwinkel der Bonner Villa Hammerschmidt, dem früheren Amtssitz.
Das Grundgesetz hat nach der Erfahrung der Weimarer Republik dem Bundespräsidenten keine politische Macht verliehen. Vielmehr sollte er die Einheit des Volkes repräsentieren und vor allem geistig-moralisch wirken, sollte nun, in der Nach-NS-Zeit, die fundamentale Wende hin zu einer neuen demokratischen Ordnung begleiten und sich zugleich der Vergangenheit stellen.
Wie also haben die Amtsinhaber sich «gestellt»? In welcher Absicht, mit welcher Wirkung? In einer Zeit, in der die Erinnerung ebenso bedrängend wie «verdrängungsbedürftig» war – und wo eine Mehrheit am liebsten nur nach vorne schaute, des «Wirtschaftswunders» sich erfreuend?
Welche Instrumente standen den Bundespräsidenten überhaupt zu Verfügung, wo deren «Macht» nur die geistige sein konnte? Einfluss also, bestenfalls! Es ist an allererster Stelle die Rede, wie Norbert Frei ausführt: «…was er sagt und wie er es sagt» – in Ansprachen, Interviews und Aufsätzen, im öffentlichen Gespräch und in traulichem Kreise. Welcher Sprache, welcher «Sprachregelung» bedienten oder verweigerten sie sich? So lässt sich das Buch als politisch-moralischen Lernprozess eines ganzen Landes verfolgen, wie er sich in der Sprache der Bundespräsidenten spiegeln konnte.
Frei fragt: Standen sie ein für die Anerkennung der einstigen Regimegegner, in einem Land wohlgemerkt, das diese grossenteils immer noch als «Verräter» denunzierte? Wie gedachten sie der Opfer? Wie dachten sie über die inhaftierten Kriegsverbrecher und die Forderung aus der Öffentlichkeit, sie als «Opfer der Siegerjustiz» freizulassen? Dann freilich auch: Wen nahmen sie in ihren Stab auf, welchen Einfluss hatten diese Berater und Referenten, die zu guten Teilen wie allenthalben eine Parteivergangenheit hatten; wen empfahlen diese für Auszeichnungen und Ordensverleihungen? All dies spiegelte sehr gut die Stimmungslage der frühen Bundesrepublik, welcher die Bundespräsidenten oft genug Tribut zollten, ihr gelegentlich aber auch widersprachen.
«Kollektivscham» statt «Kollektivschuld»
So blieb von Theodor Heuss vor allem seine berühmte Rede zu Beginn seiner Amtszeit 1949 in Erinnerung, in der er eine Kollektivschuld in Abrede stellte und stattdessen von «Kollektivscham» sprach. Er nahm vorweg, was auch seine Nachfolger in ähnlichen Formulierungen vertraten. Mit diesem Begriff erschien die Schuld abstrakter. Damals war in der Öffentlichkeit schon durchaus Druck zu verspüren, das «Schuldbuch» nunmehr zu schliessen: Man sah sich in erster Linie als Opfer einer verbrecherischen Clique an der Spitze des NS-Staats, von alliierten Bombardements, von Vertreibung aus dem Osten, von Vergewaltigungen, von Verlust einstigen Besitzes.
Solcher Ent-Schuldung kamen die ersten Bundespräsidenten sprachlich durchweg entgegen, wenn sie sagten, Verbrechen seien «im Namen von Deutschen», dem «missbrauchten» Volk, begangen worden, nicht von Deutschen, von der Führung und nicht von Millionen Wählern, Mitläufern, Mittätern (was auch ins Strafrecht eingegangen war). So sprach selbst der erste Sozialdemokrat im Amt, Gustav Heinemann, der sich im übrigen lieber dem 19. Jahrhundert zuwandte.
Das Motiv, das repräsentierte Volk nicht vor den Kopf zu stossen, stand hinter den Forderungen, die sie alle in der einen oder anderen Form und mitunter energisch vorbrachten: Dass die inhaftierten Kriegsverbrecher, oft als «sogenannte» bezeichnet, freizulassen wären; sie hätten nun genug gebüsst, ob in Nürnberg, in Berlin, in Frankreich oder in Italien. So sprach auch Theodor Heuss und formte gewissermassen das Schema. Er war andererseits auch der erste, der 1954, zum zehnten Jahrestag des 20. Juli, die Widerstandskämpfer mit einer Rede ehrte und ihnen den Ruch der «Verräter» nahm.
40 Jahre nach dem Krieg: die wirkungsvollste Rede
Sozusagen am «interessantesten» ist Richard von Weizsäcker, der sicher die wirkungsvollste Rede aller Präsidenten hielt, als er 1985 zum Gedenken an das Kriegsende im Bundestag davon sprach, die Deutschen seien 1945 «befreit» worden. (Dass sein Vorgänger Walter Scheel diesen Begriff zehn Jahre vorher verwendet hatte, war erstaunlicherweise resonanzlos untergegangen. Die beiden beschäftigten übrigens denselben Redenschreiber.) «Befreiung», wohlverstanden nur bedingt zutreffend, zumal Deutschland von den Nazis nicht besetzt gewesen war. Die deutsche Sprachregelung für den Mai 1945 war diejenige von «Zusammenbruch» oder Niederlage. Durch seine Rede erschien Weizsäcker aber als der erste im Amt, der sich klar zur Schuld der Deutschen bekannte.
Und er selber? Über die eigene Biografie schwieg er über weite Strecken, wie auch seine Vorgänger. Nur für das Andenken an seinen Vater setzte er sich vehement ein. Er war einst dessen Hilfs-Verteidiger im Nürnberger Prozess gewesen. Ernst von Weizsäcker, im NS-Staat Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Diplomat im Aussendienst, war von den Alliierten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden, unter anderem, weil er in Paris den Deportationsbefehl für Juden unterzeichnet hatte. Von der Familie und besonders auch von seinem Sohn wurde er jedoch zu einem Widerstandskämpfer stilisiert, der im Amt blieb, um das «Schlimmste zu verhüten». Die Öffentlichkeit folgte dieser Legende willig. Erst mit der Untersuchung über das Auswärtige Amt aus der Feder Freis und anderer Historiker von 2010 wurde sie nunmehr öffentlichkeitswirksam kassiert.
Lübkes widersprüchliches Bild
Die Reisen zeigten ebenso, welche Zeichen die Bundespräsidenten setzen wollten. Welche Ziele wählten sie, in einem Europa, das zu grossen Teilen unter der deutschen Gewaltherrschaft gelitten hatte? So besuchte Theodor Heuss Griechenland, das besonders grausam gelitten hatte, Gustav Heinemann machte «Versöhnungsbesuche» in Westeuropa und Skandinavien, Richard von Weizsäcker besuchte als erster Israel.
Auch die Verleihung von Verdienstorden hatte viel mit Vergangenheitspolitik zu tun. «Natürlich» kamen zahlreiche Bürger mit belasteter Vergangenheit zu Ehren, ausgewählt und vorgeschlagen von einem Stab mit ähnlichem Hintergrund. Wie wäre es auch anders möglich gewesen? Stets wurden Verdienste gewürdigt, die in die unproblematische Nachkriegszeit zurückreichten.
Heinemanns schwierige Frage an sich selbst
Auch Erkenntnisse, die gängige Urteile widerlegen, bietet Norbert Frei in seinem Werk. So war Heinrich Lübke, der Nachfolger von Theordor Heuss, nicht einfach nur der KZ-Baumeister, als der er nach einer Kampagne aus der DDR gemeinhin galt. Er war zu Beginn der NS-Zeit mehrere Male inhaftiert und durchaus kein begeisterter Nazi, hat dann aber nach Freis Urteil im System der deutschen Kriegs- und Rüstungswirtschaft, das für Millionen Leid und Tod gebracht hatte, «umstandslos funktioniert». Lübke bot später im höchsten Amt ein widersprüchliches Bild. So sagte er etwa zum Thema Restitution und Entschädigung, die Deutschen erhofften sich als «Beitrag der Juden zur Wiedergutmachung», «dass sie unseren guten Willen nicht ohne Antwort lassen». Handkehrum nahm er wieder sein Prüfrecht ernst, indem er Belasteten Ehrungen und Ernennungen verweigerte – freilich auch das nicht konsequent. Dieses Schwanken war nicht nur für ihn charakteristisch.
Sein Nachfolger wurde 1969, zu Beginn der ersten sozialliberalen Koalition, der SPD-Mann Gustav Heinemann. Das Dritte Reich, so sagte er, habe er «kontra oder abseits» durchlebt. Er war tatsächlich in der Bekennenden Kirche, teilte aber den Antibolschewismus des Regimes. Insgesamt arrangierte er sich, «nicht mehr, aber auch nicht weniger», so Frei. Als Konzernjurist und Bergwerksdirektor bei der Rheinstahl AG hat er innerhalb der Rüstungswirtschaft funktioniert und war über den Einsatz von Zwangsarbeitern im Bild. Später, im Amt, verwendete auch er die entlastende Sprache. Immerhin bekannte er: «Mich lässt die Frage nicht los, warum ich im Dritten Reich nicht mehr widerstanden habe». Frei führt aus, dass Heinemann solche Sätze dann selber wieder abschwächte und im übrigen Reflexion über die NS-Zeit eher als lästige Pflicht betrachtete und deshalb oft das angemessene Wort verfehlte.
Scheels verblasste Biografie, Carstens konservative Trendwende
1974 folgte der gutgelaunte Walter Scheel, Mitarchitekt der Ostpolitik von Willy Brandt. Er hatte im Krieg in der Luftwaffe gedient und war ab 1941 Parteigenosse. Viel mehr ist nicht bekannt, auch weil bis heute eine Biografie fehlt und er selber nicht über jene Zeit sprach. Vielmehr pflegte er das Selbstbild des «irgendwie Unbeteiligten» (Frei). Der bedeutendste Anlass für eine Rede zur Vergangenheit war der 30. Jahrestag des Kriegsendes. Er sprach als erster von der «Befreiung» und betonte, dass sie von aussen kam und nicht aus Deutschland. Anders als zehn Jahre später bei Richard von Weizsäcker ist diese Rede aber resonanzlos untergegangen. Ebenso sagte er, die «deutsche Tragödie» habe 1933, nicht 1945 begonnen. «Schuld» blieb auch bei ihm im Ungefähren. Wichtig war ihm vor allem, ein neues Deutschland zu präsentieren, das die Vergangenheit verblassen liess.
Seiner Vergangenheit wegen kam besonders Scheels konservativer Nachfolger Karl Carstens (CDU) in die Kritik; mit seiner Kandidatur 1978 wurde seine einstige Mitgliedschaft in der NSDAP bekannt. Inzwischen, zehn Jahre nach ’68, sprach der Zeitgeist gegen Carstens. Er wurde schliesslich zum Repräsentanten einer konservativen Tendenzwende, die sich besonders mit Helmut Kohl im Kanzleramt festigte. Die folgenden zwei Jahrzehnte blieb das Präsidialamt in Händen der CDU.
Und wovon sprach Carstens, als er sein Amt antrat? Welche Worte richtete er an die Öffentlichkeit? Er kündigte eine Wanderung durch Deutschland an. Und in der Tat, das Bild, das von ihm hängengeblieben ist, ist das des deutschen Wanderers, mit Rucksack und Kniebundhosen, «bildungsbürgerliche Affirmation» suchend und bekommend, wie Frei notiert. Später immerhin, zum 40. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, fand er Worte zu den Millionen Toten und zu deutscher Schuld, ebenso zu den Soldaten, deren inneren Kampf die Jugend nicht zu würdigen wisse. Die Presse nahm es mit Ausnahme der «Zeit» gleichgültig hin. Mit dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982 folgte dann unter Kanzler Kohl jene geschichtspolitische Wende, wie sie ganz im Sinne von Carstens war. Was er, das ehemalige Parteimitglied, nicht konnte und wollte, das war 1983, dem 50. Jahrestag von 1933, an einer hochklassigen internationalen Konferenz aufzutreten. Auch sonst mied er Gedenkveranstaltungen.
Weizsäckers vehementer Einsatz für seinen Vater
Das war bei seinem Nachfolger Richard von Weizsäcker, der 1984 ins Amt kam, bekanntermassen anders. Er war wohl, was Freis Fragestellung anbelangt, sicher der «interessanteste» der Bundespräsidenten. Er jedenfalls hielt von allen die wirkungsvollste Rede, als er 1985 zum Gedenken an das Kriegsende im Bundestag davon sprach, die Deutschen seien 1945 «befreit» worden. «Befreiung» war wohlverstanden nur bedingt zutreffend, zumal Deutschland von den Nazis nicht besetzt gewesen war. Die geltende deutsche Sprachregelung für den Mai 1945 war diejenige von «Zusammenbruch» oder Niederlage. Durch seine Rede erschien Weizsäcker aber als der erste im Amt, der sich klar zur Schuld der Deutschen bekannte.
Und er selber? Über die eigene Biografie schwieg er über weite Strecken, wie auch seine Vorgänger. Nur für das Andenken an seinen Vater setzte er sich vehement ein. Er war einst dessen Hilfs-Verteidiger im Nürnberger Prozess gewesen. Ernst von Weizsäcker war im NS-Staat Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Diplomat im Aussendienst, von 1933 bis 1936 Botschafter in Bern. Dort ging Richard von Weizsäcker ins Gymnasium Kirchenfeld und leitete die Hitlerjugend (was in den Memoiren unerwähnt blieb). Nach dem Krieg wurde sein Vater von den Alliierten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Von der Familie und besonders auch von seinem Sohn wurde er jedoch zu einem Widerstandskämpfer stilisiert, der im Amt blieb, um das «Schlimmste zu verhüten». Die Öffentlichkeit folgte dieser Legende willig. Erst mit der Untersuchung über das Auswärtige Amt aus der Feder Freis und anderer Historiker von 2010 wurde sie nunmehr öffentlichkeitswirksam kassiert.
Er selber war von 1938 bis 1945 Soldat gewesen, unter anderem, wie Helmuth Schmidt, an der Belagerung von Leningrad beteiligt. Darüber sprach er öffentlich nicht, vielmehr wusste er sich als jemand zu präsentieren, der dem Widerstand nahestand, wie eben auch sein Vater, der im Amt geblieben sei, um «kriegsverhütend auf den Kurs des Dritten Reiches einzuwirken», wie er sagte. Wie Frei meint, sei Weizsäcker spätestens seit 1949, als sein Vater verurteilt wurde, der Überzeugung gewesen, dass Amerikaner in der Frage von Krieg und Schuld der Deutschen nicht das letzte Wort behalten dürften.
Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede vom 8. Mai 1985 zwar die Zeitzeugenschaft beansprucht, seine Erfahrungen aber weitestgehend beschwiegen, nicht anders als seine Vorgänger. Er sprach auch ähnlich wie sie, Nicht-Wissen beanspruchend. Und auch er sah am Ende Deutsche als Opfer Hitlers. So wie er in der ganzen Rede zwar das Leid verschiedener Opfergruppen hervorhob, diesem aber jeweils das der Deutschen folgen liess. Der Kern dieser Botschaft, so interpretiert sie Frei, war die Aussicht auf Versöhnung als Lohn für die Bereitschaft zur Erinnerung.
Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit. C. H. Beck Verlag, 2023, 377 S., Fr. 41.90, ebook Fr. 21