1976 regelte der Bund in einer Verordnung das Lehrlingsturnen und erklärte dessen Umsetzung, für welche die Kantone verantwortlich gemacht wurden, als obligatorisch. Bis heute investierten die Kantone erhebliche finanzielle Mittel in dieses Projekt.
Zwei Vorbemerkungen: Erstens – es ist erwiesen, dass körperliche Bewegung und damit auch sinnvolle sportliche Betätigung für alle Altersgruppen gesundheitsfördernd sind. Deshalb unterstützt die öffentliche Hand entsprechende Einrichtungen, die von jedermann benützt werden können: Wander- und Radwege sowie Schwimmbäder stehen dabei im Vordergrund.
Zweitens – das Lehrlingsturnen wurde stets von Turn- und Sportlehrern erteilt, die mit grosser Begeisterung und bewundernswertem Engagement an der Arbeit waren. Sie verdienen unsere Anerkennung. – Dies darf die Verantwortlichen nicht hindern, das Erreichte zu analysieren und zu überlegen, ob die vorgegebenen Ziele nicht einfacher und kostengünstiger erreicht werden könnten.
Sind die formulierten Ziele von 1976 heute noch zutreffend?
Bei der Einführung des Lehrlingsturnens liess sich der Gesetzgeber von den folgenden Zielvorstellungen leiten:
„Die Unterstützung der körperlichen Entwicklung und Entfaltung der Berufsschülerinnen und -schüler im Sinne einer ausgewogenen Bildung; - die Förderung des partnerschaftlichen Verhaltens innerhalb der Schulgemeinschaft;
- die Förderung eines gesundheitsfördernden Lebensstils mit genügender lebenslanger Bewegungsaktivität.“
Dahinter verbarg sich ein viertes (vielleicht sogar ein fünftes), aber nicht ausdrücklich genanntes Ziel: Die Lehrlinge sollten was der Turn- und Sportunterricht anbetraf den Mittelschülern gleich gestellt werden. Und wahrscheinlich bestanden 1976 immer noch Anklänge an den seinerzeitigen „ Militärischen Vorunterricht“, mit dem angehende Armeeangehörige zumindest körperlich auf ihre militärischen Aufgaben vorbereitet wurden.
Man wird die genannten Ziele von 1976 mit der Realität von 2013 vergleichen müssen. Zumindest zur Zielsetzung, das „partnerschaftliche Verhalten innerhalb der Schulgemeinschaft“ wird man grosse Fragezeichen setzen. Und was die Förderung eines „gesundheitsfördernden Lebensstils“ mit sogar höchst anspruchsvoller nicht nur „genügender“, sondern gar „lebenslanger Bewegungsaktivität“ anbetrifft, dürfte die Erwartung kaum erfüllbar sein.
Ein riesiges Angebot
Verglichen mit dem Freizeit- und Sportangebot für alle Altersgruppen von 1976 stehen Bewegungsinteressierte heute vor einem reichen, fast schon überreichen Angebot. Wer Sport treiben will, ist heute nicht auf die aktive Mitwirkung des Staates angewiesen, sondern kann die für ihn geeignete sportliche Tätigkeit auswählen.
Gleichzeitig besteht nach wie vor das umfangreiche und gut organisierte Angebot von Jugend + Sport. Im Kanton Solothurn beispielsweise kommen bereits Fünfjährige in den Genuss von J+S-Unterstützung. Man darf ohne weiteres behaupten, wer heute Sport und Bewegung sucht, muss nicht weit gehen, um aus einem reichen Angebot auswählen zu können.
Trotzdem müssen noch immer Lehrlinge und Lehrtöchter, die in ihrer Freizeit Sport treiben den obligatorischen Lehrlingssport besuchen. Hier kommen sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen zusammen, die mit Sport nichts am Hute haben, nicht selten den Unterricht stören und erreichen, dass sich auch die Sportlerinnen und Sportler langweilen. In solchen Fällen wird das „partnerschaftliche Verhalten“ in der Schulgemeinschaft empfindlich gestört.
Weshalb eigentlich ein Obligatorium?
Man gelangt heute zur Auffassung, dass an Stelle von Obligatorien die Selbstverantwortung treten muss. Diese soll zum Abbau von administrativen Massnahmen und damit zu Einsparungen führen.
Dies trifft auch in Bezug auf das Lehrlingsturnen (und gleichzeitig auch auf das Turnen in den Mittelschulen) zu: In den neun obligatorischen Schuljahren sollen die Jugendlichen in einem abwechslungsreichen Turn- und Sportunterricht befähigt werden, selber darüber zu entscheiden, ob sie überhaupt Sport treiben wollen und wenn ja, welche Sportart sie bevorzugen. Mit 16 hört damit die sportliche Bevormundung durch den Staat auf.
In allen Fällen aber, an der Mittelschule so gut wie in Berufsschulen, kann im Rahmen der Freifächer auch das Fach „Sport“ angeboten werden. Es darf nicht vergessen werden, dass Jugendliche, die weder eine Berufslehre absolvieren noch eine Mittelschule besuchen keinen staatlich verordneten Sportunterricht geniessen.
Eine Privatisierung des Lehrlingsturnens
Es kann sin, dass die oben skizzierte strikteste Lösung nicht behagt. In diesem Fall käme eine Privatisierung des Lehrlingsturnens in Frage. Der Bund erklärt, dass das Lehrlingsturnen zukünftig von den Sportvereinen durchgeführt wird. Für jeden Lehrling, welche die Vereine betreuen, erhalten diese eine noch festzulegende Summe. Dieses Geld würde es den Vereinen erlauben, vermehrt interessierte Trainer ausbilden zu lassen. Wahrscheinlich gelingt es den Vereinen Sportmuffel besser zu motivieren, als dies ein staatliches Obligatorium mit Strafandrohung zu tun vermag. Diese Lösung hätte den Vorteil, dass die beteiligten Vereine sich um die jungen Leute bemühten und das wahrscheinlich mit grossem Einsatz.
Zugegeben – es geht auch um das liebe Geld
Die Kantone, welche das Lehrlingsturnen umzusetzen hatten, bauten entweder eigene zusätzliche Turnanlagen oder mieteten sich in private Unternehmen ein. Dabei waren vielleicht die Mietzinse etwas höher, doch hatte man auf zahlreiche Probleme verzichtet. Mit der Zeit entstanden zahlreiche Sportanlagen, die dank des Lehrlingsturnens in seiner obligatoristen Form wirtschaftlich überleben konnten. Für diese Sport-Einrichtungen, die auf die wirtschaftliche Synergie mit dem Lehrlingsturnen angewiesen sind, käme ein Paradigmawechsel sehr unwillkommen.
Gemeinden (und Private), die für die nächste Zeit den Bau von Mehrzweckhallen aller Art planen, tun sehr gut und sogar klug daran, wenn sie sich bei der Diskussion um die wirtschaftliche Zukunft dieserAnlagen nicht auf das Standbein „Lehrlingsturnen“ verlassen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber hier – sei es um zu sparen, sei es, um ein ungeliebtes Obligatorium als alten Zopf abzuschneiden – auf die Selbstverantwortung auch im Sportbereich pochen wird. - Das gilt es zu bedenken, denn der obligatorische Sportunterricht ist selbst in der Schweiz nicht in Stein gemeisselt.