«Nennen wir es ein Unentschieden, aber wir wollten mehr», erklärte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski nach den mehrstündigen Gesprächen im Elysée-Palast vom Montag, bei denen es um den Konflikt mit Russland um die beiden separatistischen Provinzen im Donbass ging. Das dürfte eine passable Zusammenfassung dieser hochrangigen Veranstaltung sein, zu der der französische Präsident Macron neben Selenski den russischen Staatschef Putin und die deutsche Bundeskanzlerin nach Paris geladen hatte. In einem grösseren Zusammenhang und ohne Rücksichten auf diplomatische Empfindlichkeiten betrachtet, könnte man sogar von einem vorläufigen Erfolg für den jungen ukrainischen Präsidenten sprechen.
Rückkehr mit gestärkter Autorität
Denn die Ausgangslage für dieses Treffen auf höchster Ebene zu dem seit mehr als fünf Jahren andauernden hybriden Krieg im Donbass, bei dem das militärisch überlegene Putin-Regime die entscheidenden Fäden zieht, schien zunächst für Selenski nicht besonders günstig. Zwar hatte sich der junge Präsident, der im Mai mit einem Traumresultat von über 70 Prozent in sein Amt gewählt worden war, seit längerem um eine solche Begegnung bemüht. Doch vor allem von oppositioneller Seite im eigenen Land gab es lautstarke Befürchtungen, dass der noch wenig erfahrene Neuling auf dem politischen Parkett von dem mit allen Wassern gewaschenen Machthaber im Kreml mit Leichtigkeit über den Tisch gezogen werden könnte.
Zudem schien auch das Verhältnis Selenskis zum französischen Präsidenten und zur deutschen Kanzlerin nicht ungetrübt, nachdem die Öffentlichkeit erfahren hatte, wie undankbar und opportunistisch er sich bei dem berüchtigten Telefongespräch mit US-Präsident Trump über die beiden europäischen Regierungschefs geäussert hatte.
Trotz solcher Vorbelastungen kehrt der ukrainische Präsident nach der Pariser Gipfelrunde mit gestärkter Autorität nach Kiew zurück. Er kann auf mehrere Vereinbarungen verweisen, die zur Entschärfung der Kriegsleiden unterzeichnet wurden. Dazu gehört ein vollständiger Waffenstillstand im Donbass und ein Austausch sämtlicher Kriegsgefangener bis zum Ende dieses Monats, eine grundsätzliche Zustimmung zur Durchführung von Wahlen in den beiden umstrittenen ostukrainischen Provinzen Donezk und Lugansk sowie das Versprechen, in vier Monaten ein neues Treffen Selenski-Putin mit den beiden Vermittlern Macron-Merkel zur Lösung des Ostukraine-Konflikts durchzuführen.
Ungelöste Hauptfragen
Gewiss, derartige Waffenstillstands-Zusagen sind schon ungezählte Male zu Papier gebracht, aber bisher nie vollständig verwirklicht worden. Dennoch sind die Hoffnungen, dass es diesmal nicht bei leeren Absichtserklärungen bleibt, nicht ganz unbegründet. Immerhin sind in den letzten Wochen schon ein grösserer Gefangenenaustausch sowie lokale Truppenentflechtungen in Taten umgesetzt worden. Für die von diesen Massnahmen betroffenen Menschen sind das wesentliche Erleichterungen.
In den Hauptfragen zur Lösung des Donbass-Konflikts hat sich in Paris noch kein Durchbruch abgezeichnet. Es geht um die Durchführung von Wahlen in den beiden abtrünnigen Provinzen sowie um die Kontrolle der ukrainischen Staatsgrenze in diesem Gebiet. Selenski will, nicht zuletzt unter Druck innenpolitischer Kritiker, solche regionalen Wahlen erst abhalten, wenn die Ukraine ihre Aussengrenze zu Russland wieder vollständig kontrollieren kann. Putin beharrt demgegenüber darauf, dass dieser Zustand und der Abzug aller russisch gelenkten Truppen erst nach der Durchführung solcher Wahlen hergestellt werden könne. Er beruft sich dabei offenbar auf die sogenannte Steinmeier-Formel, die der frühere deutsche Aussenminister zu einem früheren Zeitpunkt in die Diskussion gebracht hatte.
Erinnerung an das Krim-Referendum
Hier geht es tatsächlich um die Knackpunkte für eine ernsthafte Lösung im Donbass. Solange russische Streitkräfte und die von ihnen gelenkten separatistischen Kämpfer im Donbass agieren und die ukrainische Regierung die dortige Grenze zu Russland nicht kontrollieren kann, wird ein glaubwürdiger Wahlprozess in den beiden separatistischen Provinzen schwerlich stattfinden können. Unter solchen Bedingungen dürfte auch die neutrale OSZE nicht in der Lage sein, einen solchen Prozess als fair und frei zu zertifizieren.
Das Beispiel auf der Krim, wo unter russischer Besetzung im März 2014 ein Referendum über den «Anschluss» der Halbinsel an Russland ein sowjetisches Ergebnis (95 Prozent Ja) erbrachte, wird in Kiew mit guten Gründen als unakzeptables Muster eingestuft.
Einem solchen Wahlverfahren im Donbass, wie Putin es anstrebt, hat Selenski in Paris eine deutliche Absage erteilt, was selbst seine innenpolitischen Kritiker mit Befriedigung registriert haben. Diese nehmen sogar für sich in Anspruch, es sei nur ihren lautstarken Kiewer Demonstrationen im Vorfeld des Treffens zu verdanken, dass der junge Präsident sich von dem gerissenen Kremlchef nicht habe übertölpeln lassen.
Russland-Sanktionen als Hebel
Wie dem auch sei, der frühere TV-Entertainer Selenski kann nach seiner ersten direkten Begegnung mit dem Machthaber des expansiven Nachbarlandes einige positive Bewegungen im verlustreichen Kampf um die separatistischen Donbass-Provinzen in Aussicht stellen. Weitere Fortschritte und eine akzeptable Lösung dieses Konflikts werden indessen nur zustande kommen, wenn auch Putin sein bisher nur zögerliches Interesse an solchen Fortschritten nicht wieder aufgibt. Lange Zeit war ihm offenkundig die politische und wirtschaftliche Destabilisierung der Ukraine, die sich dem russischen Machtbereich zu entziehen versucht, wichtiger als eine Beilegung des Donbass-Konflikts.
Die sich nach dem Pariser Gipfel vorsichtig abzeichnende kompromissbereitere Haltung des Kremls dürfte mit den anhaltenden westlichen Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland und einer Reihe von Magnaten in Putins Umfeld zu tun haben. Diese Sanktionen beeinträchtigen offenbar die Interessen und Ziele der Moskauer Machtelite härter, als die Kreml-Propagandisten und ihre Mitläufer im Westen zuzugeben bereit sind.
Selenski kann deshalb nur dann auf wirkliche Bewegungen auf russischer Seite zur Lösung des Donbass-Konflikts hoffen, wenn die westlichen Verbündeten den Sanktionsdruck auf das Putin-Regime vorläufig aufrechterhalten. Die deutsche Bundeskanzlerin scheint dazu entschlossen – weil sie die Zusammenhänge und Triebkräfte auf diesem Schachbrett besser durchschaut als ihr europäischer Kollege Macron oder der Egomane Trump im Weissen Haus.