Süditalien vor bald 130 Jahren. Unser englischer Schriftsteller liebt Kalabrien über alles. Er schwärmt von den stolzen, höflichen und ehrlichen Menschen. Er liebt das Licht, die Wärme, die Kunst und den Wein. Die Landschaften betäuben ihn fast. „Ich lebe in einer Art Halbverrücktheit“, schreibt er seiner Schwester nach England, „und es wird lange dauern, ehe ich wieder zusammenhängend schreiben kann“. Das war 1888.
Mehrere Monate lang streift George Gissing durch den tiefen italienischen Süden. Da steigt er eines Tages in einem Hotel in Catanzaro ab, einer damals ramponierten Stadt im Absatz des Stiefels. „Um ins Postamt zu gelangen, musste man über Stein- und Gipshaufen klettern“.
Nicht amüsant, aber doch besser
Das Hotel ist bescheiden, doch es ist immerhin besser als jenes in Cotrone, wo man ihn bei schlampiger Bedienung in ein schmutziges Zimmer steckte und Essen servierte, das nur „Ekel erregt“. Und wo der Wirt die Gäste übers Ohr haut und pro Abendessen vier Liter Wein pro Person berechnet.
Nein, in Catanzaro ist es zwar wenig amüsant, aber doch besser. Das Essen ist korrekt „und der Landwein war so gut, dass er viele etwaige Mängel der Küche hätte aufwiegen können“. Doch der Wirt kämpft ums wirtschaftliche Überleben. Vor allem ist er enttäuscht, dass einige seiner Hotelgäste nicht in seinem Restaurant speisen, sondern auswärts.
Eine Unterschrift macht Karriere
So findet denn unser englischer Schriftsteller in seinem Zimmer einen Hinweis an alle Gäste. Der Hotelier, so ist zu lesen, habe mit „ausserordentlichem Bedauern erfahren, dass es Reisende gebe, die unter seinem Dach schliefen, ihre Mahlzeiten jedoch in andern Restaurationsbetrieben einzunehmen pflegten“. Diese Praxis, so schreibt der Hotelier, verletze ihn nicht nur, sie schade auch dem Ruf seines Hauses. Schliesslich versprach er, sein Möglichstes zu tun, „um die Qualität der Küche auf einem hohen Niveau zu halten“. Anschliessend bittet er die Gäste, doch bitte in seinem Lokal zu speisen.
Dann setzte er die Unterschrift unter seinen Hinweis. Und diese Unterschrift machte Weltkarriere und dringt in den Wortschatz vieler Sprachen ein. Der Hotelier heisst Corliano Paparazzo.
Auf der Suche nach den Schönen und Reichen
Auch Federico Fellini wird auf den Hotelier aufmerksam. Als der Regisseur seinen Film „La dolce vita“ vorbereitet, liest er den Reisebericht von George Grissin. Und der Name Paparazzo fasziniert ihn so, dass er den Fotografen in seinem Film so benennt.
So ziehen denn der aufdringliche Boulevard-Fotograf Paparazzo (gespielt von Walter Santesso) und der ebenso aufdringliche Boulevard-Journalist Marcello Rubini (gespielt von Marcello Mastroianni) auf der Suche nach den Schönen und Reichen durch Rom.
44 Millionen Einträge auf Google
Der Paparazzo und die Paparazzi waren geboren. Der bescheidene Corliano Paparazzo im fernen Catanzaro hätte sich nicht erträumen lassen, dass er siebzig Jahre später zum Symbol skrupelloser Boulevard-Fotografen wird. Und dass man auf Google seinen Namen über 44 Millionen Mal findet.
In Italien ist der Name Paparazzo zwar selten, doch es gibt ihn auch heute noch. Im italienischen Telefonbuch stehen 96 Einträge. Und die meisten Paparazzi leben noch immer - in Catanzaro.
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„Am Ionischen Meer“ heisst die deutsche Ausgabe des Reiseberichts von George Gissing. Das Buch ist vergriffen; man findet es noch antiquarisch. Die nach wie vor erhältliche englische Ausgabe „By the Ionian Sea“ wurde erstmals 1901 in London publiziert.
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George Gissing, der mit 41 Jahren starb, wird als Schriftsteller unterschätzt. Sein Reiseführer „By the Ionian Sea“ ist für jene, die Süditalien lieben und kennen, eine Fundgrube. Er beschreibt, ganz ohne Klischees und mit viel Einfühlungsvermögen und Enthusiasmus einen Menschenschlag, der eigentlich heute noch der gleiche ist. Sein Süditalien der 1880er Jahre gleicht frappant dem Süditalien von heute. Gissing ist nicht nur ein Schwärmer. Schon damals verdammt er „die Regierenden, die sich anmassen, das politische Leben Italiens zu bestimmen“ und Italien ausbeuten. Doch „man lausche einem kalabresischen Bauern, der singend in der Ackerfurche seinem Ochsen nachschreitet“.
Gissing benutzt das Buch immer wieder, um England und seinen Engländern, die er als hässlich empfindet, ans Bein zu treten: „Ist es wirklich so sicher, dass ein Menschenschlag, der inmitten des Hässlichen zu leben vermag, ohne es als hässlich zu empfinden, der überlegene ist?“ Und: „Es ist besser in einer elenden Hütte am Ionischen Meer zu sterben als in einem Kellerloch im Londoner Stadtteil Shorditch.“ „Alle Fehler sind den italienischen Menschen verziehen, sobald unter Italiens Himmel ihre Musik erklingt“.