Im „Caffè della Pace“ hinter der Römer Piazza Navona wird an diesem Sonntagvormittag wild gestikuliert. Berlusconi hin, Berlusconi her. Alles dreht sich um ihn. Er, der an diesem 29. September 77 Jahre alt geworden ist, hat einmal mehr gezeigt: ohne ihn geht gar nichts. Oder doch?
Die Stimmung im „Pace-Caffè“ ist gedrückt. „Werden wir diesen Klumpen am Bein denn niemals los?“, sagt eine junge Frau. Ihr Freund liest „La Repubblica“, die grösste italienische Zeitung, und schüttelt lange, lange den Kopf. „Krise“ titelt das Blatt, „Berlusconi zieht seine Minister zurück“. Viele hier haben längst resigniert. Eigentlich hat das ganze Land schon resigniert.
Da wird einer des Steuerbetrugs überführt und zu vier Jahren Haft verurteilt. Doch statt ins Gefängnis zu gehen, spottet er über die Gerichte, über den Staatspräsidenten und beschert dem Land eine neue Krise. Das gibt es nur in Italien. Berlusconi, den man jetzt einen Kriminellen nennen darf, will die Regierung stürzen. Und möglicherweise hat er Erfolg dabei.
„Jetzt hat euer Stalingrad begonnen“
Doch seine Strategie könnte sich diesmal als Bumerang erweisen. Viele Kommentatoren bezeichnen sein Vorprellen als Verzweiflungsakt. “Arme Berlusconianer”, schreibt ein Blogger in der “Repubblica”, “jetzt hat euer Stalingrad begonnen”. Der bürgerliche Mailänder "Corriere della sera" spricht von einem "Chaos" innerhalb Berlusconis Partei.
Bricht seine eben neu gegründete Partei “Forza Italia” auseinander? Drei der fünf Minister, die er am Tag vor seinem Geburtstag aus der Regierung zurückzog, haben sich von ihm distanziert.
Die Wahlen im vergangenen Februar hatten ein politisches Patt gebracht. In der Folge rauften sich die Linke, die Rechte und ein Zentrumsbündnis zusammen und bildeten eine grosse Koalitionsregierung. Ministerpräsident wurde der Sozialdemokrat Enrico Letta.
Vor dem Ausschluss aus dem Senat?
Doch dann wurde Berlusconi des Steuerbetrugs für schuldig befunden und zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Wegen einer früheren Amnestie wurde die Strafe auf ein Jahr reduziert. Da Berlusconi über 70 Jahre alt ist, kann er die Strafe entweder unter Hausarrest verbüssen – oder er leistet ein Jahr lang Sozialarbeit.
Diese Verurteilung könnte Berlusconi wegstecken, wenn da nicht noch ein anderes Gesetz wäre. Dieses verbietet einem Parlamentarier, ein politisches Amt auszuüben, wenn er zu mehr als zwei Jahren verurteilt wurde. Dieses Gesetz – das ist die Ironie der Geschichte – wurde damals von Berlusconi und seiner Partei gutgeheissen.
Berlusconi müsste jetzt also seinen Sitz im Senat, der kleinen italienischen Kammer, räumen. Eine Senatskommission wird demnächst entscheiden, ob er aus dem Parlament verbannt wird. In dieser Kommission haben die Gegner von Berlusconi die Mehrheit. Ein Ausschluss ist also wahrscheinlich. Zudem wird demnächst ein Gericht entscheiden, ob Berlusconi grundsätzlich mit einem Polit-Verbot belegt werden soll. Auch da sieht es schlecht aus für den verletzten Kaiman.
„Verrückte Geste“
Seine Partei hat seit Sommer damit gedroht, die Regierung von Ministerpräsident Letta zu stürzen, wenn Berlusconi aus dem Senat ausgeschlossen wird.
Jetzt, kurz vor dem Entscheid der Senatskommission, zog Berlusconi seine drei Minister und zwei Ministerinnen aus der Regierung zurück. Das bedeutet: die Koalitionsregierung ist zerbrochen. Berlusconis Partei „Forza Italia“ ist aus der Regierung ausgetreten.
Ministerpräsident Letta bezeichnete Berlusconis Schritt als „verrückte Geste“, die er einzig „aus persönlichen Gründen“ getroffen habe. Privat soll Letta von einem „Manöver von Banditen“ gesprochen haben.
Ministerpräsident Berlusconi?
Berlusconi hatte die Diskussion um die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum Vorwand für den Bruch mit der Regierung genommen. Um den Staatshaushalt zumindest ein wenig in den Griff zu bekommen, hatte die Regierung Letta eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein oder zwei Prozent verlangt. Berlusconi, der wesentlich zur horrenden Staatsschuld beigetragen hatte, wehrt sich seit jeher gegen alle Steuererhöhungen.
Er weiss: Die Wählerinnen und Wähler werden ihm dies bei den nächsten Wahlen danken. Und an die nächsten Wahlen denkt er seit langem – Haftstrafe hin oder her. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Berlusconi darauf hinarbeitet, erneut Ministerpräsident zu werden. Eindringlich forderte er am Sonntag Neuwahlen. Staatspräsident Giorgio Napolitano erklärte, Neuwahlen werde es erst geben, „wenn es wirklich keine andere Lösung gibt“.
Einige haben das Spiel Berlusconis satt
Doch wird die Regierung Letta jetzt stürzen? Berlusconis Manöver ist zumindest riskant. Ministerpräsident Letta könnte versuchen, eine Regierung ohne Berlusconis „Forza Italia“ zu bilden. Dafür allerdings bräuchte er die Unterstützung einiger Abtrünnigen aus der Berlusconi-Partei.
Gibt es solche Rebellen? Sicher gibt es einige, die das persönliche Spiel Berlusconis satt haben. Doch schon mehrmals wurde spekuliert, die Berlusconi-Partei könnte zerbrechen. Und am Schluss standen sie alle geschlossen hinter ihrer Vaterfigur. Wird es diesmal anders sein?
Natürlich denken auch die Parlamentarier zunächst an sich selbst und ihre in Italien noch immer horrenden Einkünfte. Die meisten Abgeordneten stellen sich die Frage, welches Bündnis hat die grösseren Chancen, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Und alle wissen: Berlusconi hat durchaus Chancen. Also bleibt man ihm treu – und sichert so seinen Sitz im Parlament und seine Diäten.
Zusammenarbeit mit den Grillini?
Doch selbst wenn einige Parlamentarier der Berlusconi-Partei absprängen, würde das für eine Regierungsmehrheit wohl nicht genügen. Ministerpräsident Letta wäre auch auf die Unterstützung einiger Abgeordneten des „Movimento 5 stelle“ des einstigen Komikers Beppe Grillo angewiesen.
Die „5 Sterne-Bewegung“ hat gezeigt, dass sie im Parlament sehr heterogen und sehr unberechenbar ist. Eine Regierungszusammenarbeit mit den „Grillini“, den Abgeordneten der Grillo-Bewegung, wünschen Ministerpräsident Letta nicht alle.
Kritik an Berlusconi innerhalb seiner Partei
Dennoch: Berlusconis Entscheid, die Regierung zu stürzen, wird innerhalb seiner eigenen „Forza-Italia“-Partei mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Ein solch wichtiger Schritt müsse von der gesamten Parteiführung getragen werden, sagen „Forza Italia“-Spitzenpolitiker.
Zu den drei Ministern, die sich von Berlusconi distanziert haben, gehört Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin. Berlusconi propagiere jetzt “eine radikale Rechtspartei, in der ich mich nicht wiedererkenne”, erklärte Lorenzin am Sonntag – und trat zurück.
Neben ihr hat sich auch Gaetano Quagliariello, der Minister für Verfassungsreformen, von Berlusconi losgesagt . Er war offenbar überrascht, dass er jetzt nicht mehr Minister ist. In Piacenza erklärte er vor Journalisten: “Rücktritte? Ich hatte keine Zeit, das Rücktrittsschreiben zu unterzeichnen. Ich werde es tun, wenn ich zurück in Rom bin.” Später sagte er, er hoffe, dass Berlusconi seine Haltung ändern werde.
Transportminister Maurizio Lupi sagte: "So geht es nicht. Die Partei kann keine extremistische Bewegung in den Händen einiger Extremisten sein."
Und Fabrizio Cichitto, der Fraktionschef von "Forza Italia" in der Abgeordnetenkammer, sagte: "Basta Extremisten". Zu den Extremisten gehört die laute Daniela Santanchè, eine glühende Verehrerin und aufdringliche, radikale Einflüstererin Berlusconis. Sie hatte zusammen mit den "Falken" Sandro Bondi und Denis Verdini vier Stunden lang in Berlusconis Villa in Arcore bei Mailand konferiert. Bei diesem Treffen hat das "Kriegskabinett" die künftige Strategie festgelegt und den Rücktritt ihrer Minister beschlossen.
Negative Konsequenzen für die Wirtschaft
Italien braucht jetzt dringend eine stabile Regierung. Die Regierung Letta war zwar – zwangsläufig – ein humpelndes Kabinett. Doch sie ist in Meinungsumfragen beliebter als fast alle Vorgänger-Regierungen. Und vor allem ist sie besser als keine Regierung.
Berlusconis “verrückte Geste” wird negative Konsequenzen auf die Wirtschaft haben. In Wirtschafts- und Regierungskreisen fürchtet man, dass die Börse am Montag einbrechen wird. Italien könnte erneut von den Rating-Agenturen herabgestuft werden. Der Spread wird wohl steigen.
All das wird man jetzt Berlusconi in die Schuhe schieben. Einmal mehr wird er als “Totengräber Italiens” bezeichnet.
Eine neue Rechte – ohne Berlusconi?
Ungeachtet der Ereignisse wird Ministerpräsident Letta am Dienstag sein Wirtschaftsprogramm vorstellen. Bei der Abstimmung darüber wird sich zeigen, ob die Regierung stürzt – oder ob doch einige “Forza Italia”-Moderate für Letta stimmen werden.
Journalisten in Rom spekulieren, ob Berlusconis “Manöver von Banditen” doch ein Weckruf sein könnte: die Geburtsstunde einer neuen, moderaten Mitte-rechts-Partei ohne Berlusconi. Dabei wären Ferrari-Chef Montezemolo, der frühere Ministerpräsident Monti, der Zentrumsführer Casini und mehrere Abtrünnige der Berlusconi-Partei.
Schon oft hat man eine neue rechte Mitte ohne Berlusconi beschworen – und immer wurde nichts daraus. Wird es diesmal anders sein? Man weiss es nicht. In Italien weiss man es nie.