Wenn auch Sie zu den Menschen gehören, die grossen Stimmen am liebsten nachreisen würden von Festival zu Festival, müssen Sie derzeit nicht weit reisen. Am Theater Basel erschüttern zwei mächtige Bassstimmen das Publikum in der Realisierung von Modest Mussorgski’s grosser Oper „Chowanschtschina“: Zwei Protagonisten waren Teil des unerbittlichen Machtgeschiebes um den Zarenthron während der Jahre 1682 bis 1689, das grausame Morde, ja, Hinschlachtereien unbequemer Widersacher zur Tagesordnung machte. Das Volk wurde ununterbrochen hin- und hergerissen zwischen den Anhängern der Regentin Zarewna Sofia und den Truppen des Zaren Peters I im Kampf um die Thronnachfolge. Dazu kam es zu einem heftigen Streit zwischen der offiziellen Kirche und den sogenannten Altgläubigen, den „Raskolnikis“, welche eine Kirchenreform Peters I. nicht anerkennen wollten, sich auf die Seite der Zarewna stellten und deshalb von der Kirche ausgeschlossen und verfolgt wurden.
Grosse russische Bässe
Dossifei , der Anführer dieser Altgläubigen, wird in Basel durch Dmitry Ulyanov verkörpert. Dieser liess bei seinen Auftritten geradezu das Theater erbeben – eine gewaltige Stimme, grösser sogar als der legendäre Bass Schaljapins und ebenso edel geführt – ein Erlebnis! Der zweite grosse Bass dieser Aufführung gehört , wie könnte es auch anders sein, ebenfalls einem Russen: Vladimir Matorin verkörpert Iwan Chowanski, den Anführer der Palastgarde, der „Strelitzen“, und damit der Anhänger der Zarewna. Matorin verfügt neben seiner grossen Stimme aber auch noch über eine unbändige Spielfreude, welche das Publikum sofort für ihn einnahm.
Orchesterfassung von Schostakowitsch
Alles an dieser Produktion ist riesig, auch das Orchester in der Orchesterfassung von Dmitri Schostakowitsch, zu der man sich in Basel entschlossen hatte. Mussorgski, welcher neun Jahre lang und oft mühevoll an dieser Oper gearbeitet hatte, hinterliess leider nur eine nicht ganz vollendete Klavierfassung. Die allererste Orchesterfassung erstellte Nikolai Rimski-Korsakow für die Uraufführung von 1886, eine zweite Orchestrierung von Maurice Ravel und Igor Strawinsky wurde 1913 in Paris erstaufgeführt. Im Auftrag der UdSSR erarbeitete schliesslich 1960 Schostakowitsch die vorliegende, in starken Farben glühende Fassung. In Basel wurde lediglich in der Schlussszene die sublimere Bearbeitung Strawinskys vorgezogen, ansonsten liess der ukrainische Gastdirigent Kirill Karabits dem Werk seinen gestischen, weit ausgreifenden Charakter, sozusagen eine Essenz der vielzitierten „russischen Seele“, in die auch das Sinfonieorchester Basel mächtig eintauchte.
Ein Volk in Bahnhofshallen
Darin folgte ihm stilistisch auch der junge russische Regisseur Vasily Barkhatov, der die komplizierte und vielschichtige Handlung nur in Bahnhöfen und auf Gleisfeldern spielen lässt, selbstverständlich im leise rieselnden Schnee, wohl als pars pro toto für die Ausgesetztheit von herumgetriebenen Menschen. Es ist Winter in den Seelen, und über die Steppen bläst ein rauer Wind. Barkhatov arrangiert mit seinem Bühnenbildner Zinovy Margolin sehr starke Bilder dieser überall auf dem Boden oder auf ihren Koffern herumsitzenden Menschen, die uns Heutige direkt berühren und uns die Bilder der vielen derzeit real flüchtenden Menschen in und vor Bahnhofshallen in Erinnerung rufen. „The russia spirit“ wollte der Regisseur nach seinen eigenen Aussagen lebendig werden lassen, und dies in Zusammenarbeit – Treppenhauswitz der Geschichte – mit einem ukrainischen Dirigenten!
Riesig ist in Basel vor allem auch das Aufgebot an Chor und Statisterie, die in dieser Oper die Hauptrolle spielen: das russische Volk. „Das Volk möchte ich darstellen. Schlafe ich, so träume ich davon; esse ich, so denke ich daran; trinke ich, so erscheint es vor meinen Augen. Das Volk allein ist unverfälscht, gross und ohne Tünche und Flitter“ schreibt Mussorgski in einem Brief von 1873. Ein Volk in den Wartesälen der Geschichte, immer im Ungewissen über den nächsten Schicksalsschlag, den Launen und Geschicken der sich bekämpfenden Parteien praktisch hilflos ausgeliefert.
Die Liebenden
In dieser Ausgeliefertheit bewegt sich auch das unglückliche Liebespaar innerhalb einer Dreieckskonstellation. Andrei Chowanski (Rolf Romei), der Sohn Iwan Chowanskis, verliebt sich in die Lutheranerin Emma (Betsy Horne) und lässt seine bisherige Geliebte Marfa (Jordanka Milkova) fallen. Die beiden Frauen sind ganz wie im Tschaikowsky-Schema als dunkler und als heller „Schwan“ gezeichnet, nur mit dem Unterschied, dass Emma von Andrei nichts wissen will, Marfa ihn jedoch unerschütterlich weiter liebt und mit ihm in den Tod gehen will. Dies alles führt zu nichts Gutem, wie man sich denken kann. Hier im Extremfall zu dem von Marfa initiierten Massenselbstmord der Altgläubigen, dem sie und Andrei als erste zum Oper fallen.
Massenselbstmord als Ausweg
Der gemeinsame Tod der Altgläubigen, welche die Rache für die Affaire Chowanski, für die „Chowanschtschina“, durch Zar Peters Truppen fürchten, ist musikalisch eine der eindrucksvollsten Szenen der Oper: Eine Anrufung Gottes, während eine alte Welt versinkt und eine grausame neue heraufzieht. Trotzdem erklingt, als Erinnerung oder Verheissung, das Lichtthema der grossartigen Ouverture wieder an: Jeder Tag birgt einen neuen Morgen.
Durchwegs alle Protagonisten boten einen eindrucksvollen Opernabend auf hohem Niveau. Das Publikum bedankte sich mit nicht enden wollendem Beifall. Die Basler Saison ist erfolgreich eröffnet.
Spielplan siehe www.theater-basel.ch