Rechtzeitig zu Beginn des jährlich einmal in Peking stattfindenen grossen Powwows der roten Mandarine trübte sich der Himmel ein. Nach zwei Monaten relativ guter Luftwerte sank die Sicht auf wenige hundert Meter, wenn überhaupt. Peking hatte seinen Smog wieder. Die PM-2,5-Feinstaubwerte stiegen zeitweise auf fast 500 an. Die Behörden zogen die gelbe Warnungs-Karte. Obwohl nur wenige der rund 3000 Delegierten eine Atemschutzmaske beim Eintreffen in der Grossen Halle des Volkes am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen trugen, wird kaum jemandem der Ernst der Lage entgangen sein. Denn Umweltschutz und Nachhaltigkeit ist auch ein Punkt im neuen 13. Fünf-Jahresplan (2016-2020), der bei den Beratungen sowohl des Nationalen Volkskongresses als auch der beratenden Poltischen Konsultativkonferenz diskutiert werden wird.
„Schwatzbude“?
Das chinesische Parlament hat unter Auslandkorrespondenten keinen besonders guten Ruf und wird seit Jahren regelmässig als „Schwatzbude“ und als „Kopfnicker-Parlament“ abqualifiziert. Das greift zu kurz. Denn diskutiert wird sehr wohl. Nicht selten auch kontrovers. Bei Abstimmungen allerdings gilt dann wieder die Parteidisziplin. Abweichende Stimmen kommen zwar vor, aber in geringer Zahl und selten. Dennoch sind die Beratungen des Volkskolngresses und der Konsultativkonferenz – kurz auch als die „Zwei Sessionen“ bekannt – ein Gradmesser für den Zustand der Nation.
Premierminister Li Kejiang machte das gleich zu Beginn in seinem Rechenschaftsbericht klar: „China steht in diesem Jahr vor mehr und schwierigeren Problemen und Herausforderungen in seiner Entwicklung“. Seit Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping nämlich an der Macht ist, steht das Reich der Mitte in einer kritischen Phase der Umstrukturierung der Volkswirtschaft. Nach 37 Reformjahren hat das alte Modell mit hoher Exportabhängigkeit, hohen Infrastruktur-Investionen und hohen Schulden ausgedient. Das alte Modell soll basierend auf Binnennachfrage, Konsum, Dienstleistungen, vor allem aber durch Innovation und Nachhaltigkeit ersetzt werden. Die Zeiten billiger Arbeitskräfte, billigen Kapitals und billigen Landes sind endgültig vorbei. Nur mit dem neuen Wirtschaftsmodell kann Xi seinen „Chinesischen Traum“, einer Wiederbelebung der Nation, erfüllen.
Tiefwasserzone
Die letzten drei Jahre haben sinkende Wachstumszahlen gebracht. Im vergangenen Jahr wuchs das Brutto-Inlandprodukt (BIP) „nur“ noch um 6,9 Prozent, der tiefste Wert seit 25 Jahren. Ausländische Kommentatoren, insbesondere aus dem Westen, stellten hyperventilierend bereits eine „Krise“ und eine „Gefahr für die Weltwirtschaft“ fest. Premier Li bemerkte dazu vor einiger Zeit nüchtern, Chinas Wirtschaft habe die „Tiefwasserzone des Ozeans“ erreicht und berief sich dabei auf ein Diktum des Reform-Übervaters Deng Xiaoping, der anfangs der 1980er-Jahre sagte, bei der Reform müsse man sachte vorgehen und beim „Überschreiten des Flusses die Steine an den Fusssohlen spüren“. Parteichef Xi wiederum nennt die jetzt eingeleitete Wirtschaftsphase das „Neue Normale“.
Am Volkskongress nun gab Premier Li nach Massgabe des neuen Fünf-Jahresplanes für 2016 ein BIP-Wachstum von 6,5 Prozent vor. Und in dieser Grössenordnung soll es bis 2020 weitergehen, also kein Wachstum mehr um jeden Preis, wie das bis vor drei Jahren der Fall war. Der Plan setzt Dutzende von weiteren, zum Teil recht ehrgeizigen Zielen. Die Armut soll entschieden weiter bekämpft und die Kluft zwischen Arm und Reich sowie Stadt und Land verringert werden. Vor allem aber geht es um strukturelle, schmerzhafte Reformen. Das gilt besonders für den Finanz- und Bankenbereich sowie für die Staatsbetriebe. Erste Schritte sind bereits getan. Kurz vor dem Kongress wurde ein einschneidender Abbau von Überkapazitäten mit dem Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen bekanntgegeben.
Im Fokus: 19. Parteitag
Die Fünf-Jahrespläne sind nicht mehr wie früher ein planwirtschaftlich verbindliches Programm, sondern wirtschaftsstrategische Leitplanken. Wie schwierig der Übergang in einer komplexen Wirtschaft ist, zeigte kürzlich ein Kommentar in der Tageszeitung „Global Times“, einem Ableger des Sprachrohrs der Partei „Renmin Ribao“ (Volkszeitung): „Die Gesellschaft sollte sich bewusst sein, dass nicht alle Probleme sofort gelöst werden können“.
Die rund 3000 Delegierten aus 24 Provinzen, sechs Autonomen Regionen und aus vier der Pekinger Zentrale direkt unterstellten Städten werden gewiss dem Rechenschaftsbericht von Premier Li und dem neuen Fünf-Jahresplan zustimmen. Der Blick auf die politische Agenda geht aber bereits heute weiter als auf die „Zwei Sitzungen“ vom kommenden Jahr. Vielmehr steht 2017 der alle fünf Jahre stattfindende Parteitag bevor, wo die Macht verteilt und die ultimativen Personalentscheide getroffen werden. Für Parteichef Xi steht viel auf dem Spiel.
Xi Jinping im Zentrum
Die Medien wurden von Xi bereits strikt auf die Parteilinie verpflichtet (s. Kolumne vom 29. Februar). Aber auch innerhalb der Partei wird die Schraube angezogen. Vorbei die Zeiten, als Xi’s Vorgänger Hu Jintao sich noch für die Ausweitung der innerparteilichen Demokratie stark machte. In einer Rede, die kürzlich veröffentlicht wurde, verbittet sich Xi „unangemessene Diskussionen“ über Politik vor allem aber auch die „Ausstreuung von Gerüchten“ über soziale Medien. Seit Januar gelten neue Disziplinarvorschriften für alle 88 Millionen Parteimitglieder. Ideologische Disziplin und Gehorsam werden ebenso verlangt, wie Warnungen vor Amtsmissbrauch und Korruption. In einer Rede ermahnte Xi anfangs Jahr die 25 Mitglieder des Politbüros, die Überzeugung des Kommunismus, Marxismus und Sozialismus, kurz die korrekte ideologische Richtung zu festigen. Bereits kurz nach Machtantritt Xis im Frühjahr 2013 wurde in einem vertraulichen Papier der zentralen Parteileitung die Richtung vorgegeben und vor sieben „falschen ideologischen“ Konzepten und Trends gewarnt: Westlicher Verfassungsstaat, universelle Werte, Bürgerbeteiligung, Neoliberalismus, Prinzip des westlichen Journalismus, historischer Nihilismus, Hinterfragung der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik.
Um seinen „Chinesischen Traum“ für China zu erfüllen, hat sich Xi mit seinen Reformen viele Feinde geschaffen. Alteingesessene Privilegien stehen auf dem Spiel. Um am Parteitag 2017 – nach der Hälfte seiner 10jährigen Amtszeit – alles im Griff zu haben, hat Xi auch das Machtgefüge umgestaltet. Galt bis zu Xi’s Machtantritt im November 2012 die von Reformer Deng Xiaoping durchgesetzte „kollektive Führung“, heisst es nun neu die „kollektive Führung mit Xi Jinping im Zentrum“. Von allen Parteimitgliedern wird „absolute Loyalität“ gefordert. Das ist am 19. Parteitag im Herbst 2017 von entscheidender Bedeutung, denn dann wird mit Ausnahme von Xi und Premier Li aus Altersgründen weit über die Hälfte der Führung – Ständiger Ausschuss des Politbüros, Poliitbüro und Zentralkomitee – ausgewechselt. Parteichef Xi hat mittlerweile nach Ansicht vieler chinesischer wie ausländischer Beobachter soviel Macht auf sich vereinigt wie zuvor nur Deng Xiaoping und Mao Dsedong. Zhang Ming, Professor für politische Wissenschaften an der Pekinger Volksuniversität, meint sogar, dass niemand seit dem Tod von Mao soviel Macht auf sich vereinigt habe wie Xi.
Hilfe von den Princelings
Die härtere Gangart des Parteichefs zeigt jedoch auch, dass er noch viel Widerstand auch innerhalb der Partei überwinden muss. Da ist Sukkurs auch von befreundeter Seite willkommen. Im Februar versammelte sich im Staatlichen Gästehaus in Peking die „Freundschafts Assoziation der Kinder von Yanan“ zum Jahrestreffen. Es sind Nachkommen alter Revolutionäre, die nach dem Langen Marsch von Mitte der 1930er- bis Mitte der 1945er-Jahre im nordchinesischen Stützpunkt Yanan mit Mao gegen Japaner und Nationalisten kämpften. Die Vorsitzende Hu Muying forderte die Kinder und Kindeskinder – auch als die neue Elite der Princelings in China bekannt – dazu auf, in einer „komplexen und fluktuierenden Situation“ die Ruhe und den Glauben an die Partei zu bewahren. Der Kampf sei nicht einfach, aber die zentrale Führung unter Xi werde das schaffen.
Der Vater der Rednerin Hu war unter Mao einst verantwortlich für Propaganda und langjähriger Sekretär des „Grossen Steuermanns“. Xi Jinping wiederum ist Sohn von Xi Zhongxun, Weggefährte Maos und zu Beginn der Reform Vizepremier. Sowohl Hu als auch Xi gehören also der neuen Elite der kleinen Prinzen an. Chen Yun, Mitkämpfer von Mao Dsedong und bis in die Reformjahre für Wirtschaft verantwortlich, sagte einst prophetisch: „Das Land unter dem Himmel sollte eines Tages den Princelings übergeben werden. Den Princelings können wir vertrauen, dass sie nicht das Grab für die Partei Schaufeln werden“.