Haftar hatte im vergangenen Mai einen «Feldzug gegen die Islamisten» ausgelöst, den er «Karama» (Ehre) nennt. Dabei hatte er Unterstützung durch einige der wenigen einsatzfähigen Einheiten der libyschen Armee gefunden, besonders der noch rudimentären Luftwaffe. Seither spielen sich zwischen diesen und den bewaffneten Islamisten in der Cyrenaika rund um deren Hauptstadt Benghazi regelmässig Kämpfe ab. Gegenwärtig scheinen die Islamisten in der Offensive zu stehen, nachdem sie anfänglich von den pro-Hafter Truppen, meist aus der Luft, angegriffen worden waren.
Am 22. Juli fand ein Selbstmordanschlag auf ein Armeelager statt, das auf der Seite Hafters steht. Er forderte vier Todesopfer unter den Soldaten. Schon zuvor hatte es einen Bombenanschlag auf den Kommandositz Haftars gegeben, der einen der Leibwächter das Leben kostete.
Islamisten gegen säkulare Milizen in Tripolis
In der Hauptstadt Tripolis, über tausend Kilometer von der Cyrenaika entfernt, fand der Haftar-Feldzug weniger Unterstützung als in der Cyrenaika, der Heimat des Generals. Doch dort griffen nun die pro-islamistischen Milizen aus Misrata, die in Tripolis stehen, den Flughafen an, der sich seit dem Sturz Ghaddafis in der Macht der Milizen aus Zeidan, der Stadt westlich von Tripolis, befindet. Die Zeidan-Kämpfer gelten als Feinde der Islamisten und Sympathisanten Haftars.
Sie haben den Flugplatz bisher zu halten vermocht. Doch die Kämpfe gehen weiter. Der Flughafen ist geschlossen und zwölf der dort stationierten Flugzeuge wurden zerstört. Auch Treibstofftanks brannten lichterloh. Die Kämpfe in der Hauptstadt haben dazu geführt, dass die Vereinten Nationen ihre Mitarbeiter aus Libyen abzogen.
Üppig bestückte Arsenale
Die Kämpfe werden offenbar aus der Distanz ausgefochten, vermittels Granaten und Raketen. Dies erklärt ihre lange Dauer. Die Artillerie- und Raketenangriffe zerstören viel, doch sie bewirken keine Entscheidungen, bis der einen oder der anderen Seite die Geschosse ausgehen. Dieser jedoch gibt es viele. Sie stammen aus den Arsenalen Ghaddafis, und sie waren Ghaddafi – gegen Erdöl – in beliebigen Mengen von den westlichen Industriestaaten verkauft worden.
Auch die zum Flugplatz führende Strasse ist umkämpft. Unter den Kämpfen leiden nicht nur die Milizionäre, sondern auch und wahrscheinlich mehr die Zivilbevölkerung, die in der Nähe des Flugplatzes lebt.
General Haftar, der in Beghazi kämpft, wird von der Regierung in Tripolis als eine Rebellenfigur klassifiziert, die versuche, eine Diktatur zu errichten. Doch die libysche Regierung ist nur noch als Übergangsregierung an der Macht. Ein neues Parlament wurde am 25. Juni gewählt und soll demnächst eine neue Regierung ernennen. Wie diese sich zu dem General und zu seinem Feldzug gegen die Islamisten stellen wird, bleibt abzuwarten.
Wahlniederlage der Muslimbrüder?
Die Wahlen seien, nach dem Befinden der Kenner, sehr zu Ungunsten der Islamisten abgelaufen. Die Muslimbrüder, so sagen sie, hätten sie spektakulär verloren. Man muss sich auf die lokalen Beobachter verlassen, weil diese Wahlen unter Parteiverbot durchgeführt wurden. Alle Kandidaten waren offiziell parteilos. Nur die Eingeweihten wissen, welche von ihnen den Muslimbrüdern nahestehen oder zu ihnen gehören und welche zu deren «säkularen» Gegnern und Feinden.
Manche der libyschen Beobachter meinen, die politische Niederlage in den Wahlen habe zu verstärkter Aggressivität der pro-islamistischen Milizen geführt. Diese versuchten zurzeit vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor die kommende neue Regierung Massnahmen treffen kann, um ihre Macht einzuschränken.
Dass die Milizen Libyens einander bekämpfen, ist neu. Bisher hatten sie sich damit begnügt, die Regierung durch Waffendrohungen und Schiessereien unter Druck zu setzen. Manchmal war es der Regierung gelungen, Gegenmilizen zu ihrem Schutz aufzurufen. Das hatte dann gelegentlich während Stunden zu verschärften Schiessereien geführt, doch ohne dass es zu längeren kriegerischen Handlungen gekommen wäre. Andere Male hatte sich die Regierung einfach dem Druck der Milizen gefügt. Sie hatte meistens auch Gelder fliessen lassen. Die Bewaffneten hatten sich dann wieder in ihre Kasernen zurückgezogen.
Nostalgie der verlorenen Grösse
Doch nun ist eine neue Phase eingetreten. Die Milizen sind gegeneinander zu längeren Kriegen angetreten. Diese neue Phase geht einher mit der zunehmenden Frontenbildung zwischen «Islamisten» und «Säkularisten» im politischen Bereich und auch in dem der Milizen. Sie ist vergleichbar den Spaltungen, sie sich in Tunesien und in Ägypten in den Jahren nach dem Sturz der alten Regime herausgebildet hatten.
Die islamistische Ideologie pflegt in der arabischen – und möglicherweise auch in der weiteren islamischen – Welt die Nachfolge des Nationalismus anzutreten, wenn dieser bedeutungslos wird und zusammenbricht. Das islamische Zusammengehörigkeitsgefühl kann Gemeinschaften bilden, wenn das nationale unglaubwürdig wird. Es handelt sich oft um nostlagische Gemeinschaften. Das heisst solche, die vergangener Grösse und Selbstgewissheit nachtrauern und versuchen, diese zurückzugewinnen, indem sie die Rückkehr zum wahren Glauben ausrufen, so wie ihn (in ihren Augen) die frühen Gläubigen lebten.
Säkularisten für eine Konsum-Moderne
Ihnen treten jedoch die «Säkularisten» entgegen. Sie sind der Ansicht, der «wahre Islam» sei Religion und solle möglichst wenig mit Politik und Gesellschaftsordnung zu tun haben. Sie wollen nicht auf ein «modernes» Leben verzichten, das auf der Höhe der heutigen Zeit ist, und sie sind der Ansicht, dies lasse sich mit einem «richtig verstandenen Islam» durchaus vereinbaren.
Die nostalgischen Islamisten pflegen Minderheiten zu sein; doch ihre Ideologie ist schärfer ausgeprägt. Sie kann fanatische Züge annehmen. Jene ihrer säkularen Gegenspieler ist schwächer. Der Begriff eines modernen Lebens erweist sich als schwammiger, vieldeutiger und weniger fest umrissen als die Vorstellungen vom «wahren Islam, so wie unsere grossen Vorfahren und Glaubensmodelle ihn lebten».
Attraktiv für die Armen
Dazu kommen Klassenunterschiede: Ein «islamisches Leben, so wie die Vorväter» kann man auch als bitter armes Individuum und wenig bemittelte Gemeinschaft führen. An der «Moderne» hingegen hat nur teil, wer sich zum Mittel- oder Oberstand zählen kann oder Hoffnung hegt, dorthin aufzusteigen. Denn zur «Moderne» gehört der Konsum.
Diese Klassenunterschiede bewirken, dass eine Gesellschaft, je ärmer sie wird, umso mehr Islamisten, genauer gesagt Gefolgsleute der islamistischen Ideologen, hervorbringt. Wenn die Gesellschaft weitgehend zusammenbricht und dementsprechend verarmt, kann dies das bisherige Verhältnis zwischen Islamisten und Säkularisten umkehren. Unter solchen Umständen können die Islamisten zur Mehrheit werden.
Gescheiterter Nationalstaat
In Libyen war der Nationalstaat mehr Projekt und Forderung geblieben als Wirklichkeit geworden. Die Tyrannei Ghaddafis hatte seinen Aufbau verhindert. Ghaddafi alleine war der Staat gewesen. Nach dem Sturz des langjährigen Machthabers war es auch nicht zur Staatenbildung gekommen. Die Vielzahl der bewaffneten Gruppen hatte dies verhindert.
Geraume Zeit – drei Jahre lang – hatten machtlose Regierungen und eine Vielzahl von über die Waffengewalt verfügenden Milizen nebeneinander gelebt. Der Umstand, dass der Staat viel Geld besass, hatte diese Koexistenz gestützt. Der Staat versuchte die Waffenträger durch Geldzahlungen ruhig zu halten, und er zog sie sogar als bezahlte Bundesgenossen und Stützen bei, wenn eine der Milizen sich zu selbstherrlich zeigte.
Doch diese Zeit scheint sich zum Ende zu neigen. Nicht wegen Geldmangels, es gibt noch Reserven an Erdölgeldern, obgleich das Erdöleinkommen rapide zurückgeht. Vielmehr wegen der Bildung von ideologischen Fronten.
Ideologische Verhärtung
Je gefestigter diese Fronten werden, umso mehr suchen die Bewaffneten beider Seiten sich und ihre Ideologie durchzusetzen. Sie treten nun nicht mehr als Kampfgruppen regionaler und stammesmässiger Interessen auf, sondern mehr und mehr als Vertreter einer Ideologie, die sie dem ganzen Lande auferlegen wollen, oder die sie – im Gegenfalle – für das gesamte Land zu vermeiden streben. Dies lässt schärfere, länger andauernde Kämpfe und weiter gespannte Fronten erwarten und befürchten. Es droht der Übergang vom Staat zwischen tausend Milizen zum Bürgerkrieg zwischen zwei Fronten.