Der Sieg einer Protestpartei in Delhi war keine Palastrevolution. Aber es war ein Warnschuss für den Palastverwalter Modi; und vielleicht der Todesschuss für den Kongress.
Narendra Modi ist immer noch Indiens unumstrittener König, aber er ist ein König ohne Hauptstadt. Auch das Zepter hat er nach dem Wahlsieg der ‚Aam Admi Party’ (AAP) im Bundesstaat Delhi abgeben müssen. Nun ist es wieder Arvind Kejriwal und seine ‚Partei des Gewöhnlichen Mannes’, die das Parteisymbol, den Reisbesen, schwingen können. Es ist noch kein Jahr her seit Modis nationalem Wahltriumph, bei dem der BJP auch die sieben Hauptstadtsitze in den Schoss fielen. Kurz darauf schwang Modi für ein ‚Sauberes Indien’ den Besen und stahl Kejriwal dieses potente Symbol des politischen Saubermanns.
Diesmal war es ein anderes Symbol, das an Modis Leib quasi haften blieb wie das Blut an Lady Macbeths Hand: Der Zehntausend-Pfund-Anzug mit den Streifen in Form seines Namens, den er bei Barack Obamas Besuch getragen hatte. Je grösser die Macht, desto virulenter die Hybris, dachten die Wähler für das Regionalparlament von Delhi. Modi ist gut, aber er verdient eine Lektion; umso mehr als er bei seinen Auftritten den Gegner Kejriwal nur mit ‚Naxal’ – sprich: Terrorist – abkanzelte.
Schmach für die siegestrunkene Partei
Die Hauptstadt einer Grossmacht, so ermahnte Modi die Wähler, ist mehr als nur ein Bundesstaat - sie ist ihr Schaustück. Daher sei es wichtig, dass der Hausmeister auch diese Belétage verwaltet. Die Wähler – sechzig Prozent von ihnen arme Migranten – waren anderer Meinung. Es ist die AAP, sagten sie, die das Gesicht der Stadt so zeigt wie es wirklich ist, mit all seinen Warzen hinter dem Make-up des VIP-Kults: Wassernot, Wohnungsnot, Stromausfälle, lange Arbeitswege, Einschüchterung von Minderheiten und ‚Auswärtige’, ein tägliches Spiessrutenlaufen für Frauen.
Sie sagten es mit derartiger Deutlichkeit – die AAP gewann 67 von 70 Sitzen, ein historischer Wahlrekord – dass die ganze Nation aufhorchte. Bei der letzten Regionalwahl war die BJP noch mit 31 Sitzen als stärkste Partei aus dem Rennen gegangen. Drei Sitze waren eine Schmach für die siegestrunkene Partei und deren Idol. König Modi musste den ‚Naxal’ zur Kenntnis nehmen – und lernte rasch dazu. Er lud Kejriwal zum Tee ein.
Die AAP war erledigt
Ebenso erstaunlich wie Modis Einladung war, dass Kejriwal sie annahm. Nach dem Wahltriumph vor zwei Jahren – von 0 auf 29 Mandate – und der Bildung einer AAP-Minderheitsregierung war Kejriwal mit der Arroganz des siegreichen Aussenseiters aufgetreten. Die etablierten Parteien waren kriminelle Organisationen, die Wirtschaft korrupt, Politik ein Sumpf. Statt zu regieren übernachtete er protestierend auf der Strasse, und als die erste Vertrauensabstimmung anstand, warf er das Handtuch.
Die Wähler waren nicht amüsiert. Sie hatten für die AAP gestimmt, weil diese ein alternatives Regieren versprochen hatte, nicht einen permanenten Wahlkampf. Die nationalen Wahlen ein Jahr später servierten ihm die Quittung. Von den 440 AAP-Kandidaten landesweit gewannen gerade vier einen Sitz, alle im Panjab. Die AAP war erledigt. In die Trauer um das Ende einer sauberen Alternativpartei mischte sich der Zorn, dass Kejriwal & Co. der Anti-Korruptionsbewegung einen schlechten Namen verpasst hatten.
Von der dunklen zur hellen Seite des Mondes
Dann geschah das Unerwartete. Statt aufzugeben, fing Kejriwal neu an. Und er tat es mit einem Akt, den die Medien als Selbstmordschreiben taxierten: Er entschuldigte sich – für das Kneifen vor der Regierungsverantwortung, für die selbstgerechte Verteufelung demokratischer Institutionen, für die Inkompetenz seiner Minister. Kejriwal beschloss, die überhastete Aufrüstung zur Nationalen Partei zu bremsen. Stattdessen konzentrierte er sich auf Delhi, dessen politisches DNA auf die AAP zugeschnitten war: eine Mehrheit von jungen Wählern, aus allen Teilen des Landes, sozial ein Spiegel von dessen Armut, aber auch dessen Aspirationen. Sie haben sich von den lokalen Mühlsteinen von Kaste und Regionalchauvinismus befreit und sind voller Verachtung für diese Lockmittel, denen sie so oft auf den Leim gegangen sind.
Kejriwal wusste, dass der Gewinn dieser dunklen Seite des Monds ihm auch den Preis der hellbeleuchteten einbringen würde. Das Machtzentrum eines grossen Landes garantiert einer Lokalregierung die Aufmerksamkeit der politischen Elite – und damit der Medien, die ihr aus der Hand essen. Er nutzte die sozialen Medien als Wahlkampf-Multiplikator und als Sammelpunkt für die Armee junger Freiwilliger. Und er wusste, dass eine mit Handys ausgerüstete Migrantenbevölkerung in den abgelegenen Dörfern und Kleinstädten ein Echo finden würden. Als der Sieg der AAP am letzten Dienstag feststand, gab es Siegesprozessionen, Flashmobs, Politsongs im Bollywood-Stil – nicht nur in Delhi, auch in zahlreichen Städten und Dörfern des Landes.
Erdrutschsieg der AAP
Der wichtigste Wahlhelfer der AAP war aber nicht der gestreifte Anzug von Narendra Modi und die Hybris seines Wahlkampfleiters Amit Shah. Es war ein Mann namens Rahul Gandhi. Als seine Kongresspartei bei der Regionalwahl vor zwei Jahren nur als dritte ins Ziel kam, erklärte Gandhi: „We will come back! It will be beyond your imagination!“. Er hielt Wort. Er machte sich zwei Jahre unsichtbar und organisierte einen derart lahmen Wahlkampf, dass der Kongress keinen einzigen Sitz heimbrachte; es war tatsächlich unglaublich für eine Partei, die die Stadt während 15 der letzten 16 Jahre regiert hatte.
Wie üblich hatte Gandhi einen Kejriwal-Herausforderer nominiert, der bekannt ist für seine Ergebenheit zur Gandhi-Dynastie. Um aus dem Schatten der erfolgreichen lokalen Kongresspolitikerin, Sheila Dixit, zu treten, spielte dieser deren Arbeit von drei Amtszeiten herunter. Die Minderheiten – namentlich die Muslime – strömten zur AAP, ebenso wie die Dalits und die niederen Kasten. Selbst die liberale Elite vergab Kejriwal seine Fehler und eilte unter die AAP-Fahne. Die zunächst zaghafte AAP-Kampagne verwandelte sich in einen Erdrutschsieg.
Möglichkeit einer Alternative
Die meisten Medien sehen in diesem an sich marginalen Urnengang der Gnadenstoss für die ‚Grand Old Party’ Indiens. Rahul Gandhi hat nach seiner Inthronisation vor drei Jahren nun zehn Regionalwahlen und die Parlamentswahl mit katastrophalen Resultaten verloren. In einer Art Nibelungentreue hält die Partei immer noch zur Dynastie. Auch wenn er bröckelt – es ist fast der einzige Kitt, der sie noch zusammenhält.
Bisher hatte noch die Angst vor der rechtsnationalen BJP viele Wähler in die Arme der Kongresspartei getrieben. Nun eröffnet der Sieg der AAP die Möglichkeit einer Alternative. Die ‚Partei des gewöhnlichen Mannes’ ist winzig, arm und unerfahren. Aber ihre Führung ist sozial-liberal, ideologisch wenig fixiert und experimentierfreudig. Mit der Obsession der etablierten Politiker mit Kaste und Ethnie kann sie wenig anfangen. Den beiden Grossen hat sie zwei Dinge voraus: Sie ist eine Nicht-Politiker-Partei, und sie hat eine reine Weste. König Modi tat gut daran, dem ‚Naxal’ Tee zu servieren. Statt des teuren Anzugs trug er eine bescheidene Kurta, wohlwissend, dass Kejriwal mit Pullover und offenem Hemd vorbeikommen würde.