Das Thema: Mind: The Essence of Humanity. Gastgeber und Triebfeder der Initiative ist der bekannte Mailänder Onkologe Umberto Veronesi. In Italien vergeht kaum ein Tag, da nicht irgendwo Kolumnen von Umberto Veronesi, Aussagen über Veronesi oder Kommentare zu einem seiner Anliegen erscheinen.
Veronesi liest man vor allem im Corriere della Sera, seinem Hausorgan, für das er auch eine seitenschwere Gesundheitsbeilage zu verfassen pflegt. Auch die RAI widmet dem weltbekannten Onkologen, Wissenschaftler, Senatoren und Ex- Gesundheitsminister ganze Interviewserien: Sein Cäsarenkopf ist einfach zu telegen, seine Manieren sind zu herrschaftlich, seine Plaudereien zu charmant, sein Lächeln ist zu liebenswürdig.
"Das biologische Alter des Menschen liegt bei 120 Jahren"
Dabei vertritt Umberto Veronesi auf denkbar entspannte Weise die heissesten Ansichten. Doch er kann anscheinend nichts falsch machen. Seine Anerkennung in der italienischen Öffentlichkeit ist universal und geht durch alle Schichten. Seine Glaubwürdigkeit ist so gross, dass er im Corriere verlauten liess, das biologische Alter des Menschen sei 120 Jahre, vorausgesetzt man beachte die entsprechende Hygiene und Ernährung.
Silvio Berlusconi nahm dies unbesehen zum Anlass und verkündete, er habe beschlossen, mit Hilfe Veronesis 120 zu werden. Nicht etwa um seiner selbst willen. Nein, er könne die Italiener einfach nicht ohne seinen väterlichen Schutz alleine lassen. Berlusconi hat allerdings den Nachsatz übersehen, dass erst den heute Geborenen alle notwenigen Hilfsmittel zur Verfügung stünden, um das hohe Alter zu erreichen.
Doch woher kommt das Vertrauen in Veronesis Aussagen? Erst einmal ist er ein weltbekannter Onkologe. Er entwickelte die Methode, wonach bei Brustkrebs nur die unbedingt notwendigen Brustteile entfernt werden müssen. Die Frauen danken es ihm mit Solidarität. Die über 100’000 Frauen, die er – nun mit Hilfe von Sohn Paolo - in seiner Mailänder Klinik schon behandelt hat, und deren Angehörige bilden das Rückgrat seiner Fangemeinde.
Seine hohe, sehnige Gestalt und seine aristokratische Erscheinung in elegant konservativer Kleidung erzeugen Vertrauen. Das berühmt liebenswürdige Lächeln strahlt jene Wärme und jenes Verständnis aus, die sich jede Frau an ihrem Krankenlager wünscht.
Doch nicht nur Frauen wollen wissen, was der Onkologe ausser über Krebs sonst noch denkt. Zum Beispiel über in-Vitro-Besamung (dafür), Abtreibung (dafür, wenn nicht anders möglich ), Vivisektion (absolut dagegen), vegetarische Ernährung, (eine soziale, ethische, ökologische und gesundheitliche Notwendigkeit), Stammzellenforschung (unumgänglich).
Dezidierte Meinungen hat Veronesi auch zum neuen Feminismus (passionierter Verfechter), zur Euthanasie (jeder sollte über lebensverlängernde Massnahmen selbst bestimmen), zu genetisch veränderten Pflanzen (wir müssen den Hunger bekämpfen!), zur Ausbildung an Schulen und Universitäten und zur Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft, um nur die wichtigsten seiner Themen zu nennen. Einige Themen befinden sich ausserhalb seines eigentlichen Fachbereichs, was Vertreter der jeweiligen Disziplinen masslos ärgert. So wurde Veronesi ohne fachspezifische Qualifikation zum Leiter der italienischen Atomkomission bestimmt.
Vermenschlichung der Medizin
Umberto Veronesis oberstes Anliegen ist aber die Freiheit des Menschen, seine Selbstbestimmun. Irgendwie erreicht er damit jeden Italiener. Trotz teilweise sehr umstrittener Positionen ist er fast zu einer moralischen Instanz geworden. Der Journalist Guglielmo Pepe sagt: "Er hat viel getan für die Vermenschlichung der Medizin und für das Verständnis von Zusammenhängen und Vorgängen. Dies in einer allgemein verständlichen Sprache und in den Massenmedien. Weil er es als Menschenrecht sieht, dass jeder über seinen Körper selbst bestimmt. Damit hat er sich die Verehrung der Italiener gesichert."
Wir treffen Umberto Veronesi in der Fondazione Cini auf S.Giorgio, der dem Markusplatz von Venedig vorgelagerten Insel. Dort findet jeden Herbst unter seinem Patronat ‘The Future of Science’ statt, eine Konferenz von internationalen Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen, unter ihnen mehrere Nobelpreisträger, Politiker und Interessensvertreter. Die Themen sind allgemein gehalten: “Science and Society” (2005), “Evolution” (2006), “The Energy Challenge” (2007). Dieses Jahr steht das Gehirn im Mittelpunkt.
Die Fondazione Cini mit ihrer Abgeschiedenheit, den hohen Räumen des ehemaligen Klosters und den weiten Parkanlagen ist eine ausserordentliche Kulisse für interaktive Begegnungen und interdisziplinäre Gespräche - aber nicht für konzentrierte Interviews. Denn Veronesi springt wiederholt wie eine Feder auf, um Freunde und Bekannte zu begrüssen, zu umarmen und sich in Gespräche verwickeln zu lassen. Er ist ja erst 86 Jahre alt.
Journal21: Umberto Veronesi, sehen Sie sich denn als Autorität in Italien?
Umberto Veronesi: "Autorität, nein. Ich hoffe, dass ich mir eine gewisse Glaubwürdigkeit verschafft habe. Ich bin im Grunde anarchisch und kann Autoritäten selbst nur schwer ertragen. Speziell seit dem Faschismus, den ich als junger Mann als Partisan bekämpft habe. Damals wurde ich verwundet und konnte mich gerade noch vor der Erschiessung retten. Seither richte ich mein Leben nach drei grossen menschlichen Werten aus: Freiheit, Solidarität und Toleranz."
Sie wurden mit 17 Partisan und traten mit 18 auf eine Mine, die Sie fast das Leben kostete. Hat die lange Zeit in Spitälern und haben die vielen Operationen, die Sie dann durchlitten haben, Sie dazu gebracht, Arzt zu werden?
Umberto Veronesi: "Eigentlich ja,wenn ich mir’s richtig überlege. Der Wunsch entsprang der Faszination an diesen Ärzten, die Tag und Nacht arbeiteten, Arme und Beine amputierten und versuchten, der verwirrten Menschheit beizustehen. Vor allem aber wollte ich den Ursprung für die Gewalt, für das Böse finden, das diese Kriege möglich macht, und hoffte, als Psychiater in die Gehirne und Seelen der Menschen blicken zu können. Doch dann fand ich ein fast noch grösseres Übel, den Krebs, und seither habe ich jeden Tag meines Lebens an der Überwindung dieser Krankheit gearbeitet."
Seit 2003 existiert auch eine Stiftung ‘Fondazione Umberto Veronesi’ für den Fortschritt der Wissenschaft, die mit über sechs Millionen Euro jährlich dotiert ist. 50 Prozent davon werden als Projektstipendien für Krebsforschung ausgegeben, die andere Hälfte für Konferenzen, die vor allem der Verbreitung neuer Erkenntnisse dienen. Finanziert wird die Stiftung durch Sponsorengelder und den Erträgen der Formel "5 per 1000", eine Idee von Finanzminister Giulio Tremonti: Jeder Italiener kann bestimmen, ob er fünf Promille seiner Steuerrechnung der Wissenschaft zur Verfügung stellen will und - falls ja - welcher Institution. Die Fondazione Umberto Veronesi ist eine der Nutzniesserinnen. Ausserdem gehen sämtliche Speakerhonorare und Geldpreise von Auszeichnungen für Veronesi an die Stiftung.
Journal21: Ihre Spezialität ist Brustkrebs. Wie kam es dazu?
Umberto Veronesi: "Ja, das hat sich so ergeben. Wahrscheinlich, weil ich der Welt der Frauen immer sehr verbunden war. Mein Vater starb, als ich fünf Jahre alt war, und meine Mutter wurde alles für mich: auch Vater, Schwester, Freundin, Beraterin, eben alles. Sie hat mich gelehrt, tolerant und verständnisvoll zu sein."
Viele seiner Überzeugungen haben ihren Ursprung in der Kindheit. Umberto Veronesi wurde am 28. November 1925 in die Feudalfamilie eines Agrarguts, einer Cascina, in der weiten Fläche der Poebene vor den Toren Mailands geboren. Die Abhängigkeit von der Natur, die enge Beziehung zu den Tieren und das gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein in der starren Sozialstruktur, die jedoch auch jeden in die Pflicht nahm, sich des Schwächeren anzunehmen – das alles hat ihn geprägt.
"Es war eine Atmosphäre genau wie in Olmis Film ‘L’albero degli Zoccoli’ ‘, einem Film über den harten Überlebenskampf bergamaskischer Pächter", meint der bekennende Filmfan, der jede Woche ins Kino geht und schon mal in seinen Kolomnen auch über Film schreibt.
Nicht übernommen hat er jedoch die tiefe Religiosität, die dort herrschte. "Jeden Abend kam man im Salotto zusammen, frisch gewaschen, sauber angezogen, die Haare streng gescheitelt und betete nach dem langen Arbeitstag gemeinsam den Rosenkranz."
Umberto aber entschloss sich zum grossen Leidwesen seiner Mutter für den Atheismus und hat auch keines seiner sieben Kinder taufen lassen. Und das nicht, weil sie durch ihre Mutter jüdische Wurzeln haben. Suzy Razon Veronesi, eine elegante, lebhafte Brünette und würdige Dame der Mailänder Gesellschaft, reicht trotz steiler Stilettos ihrem hochgeschossenen Gatten kaum bis zur Schulter. Sie ist gekommen, um der Abendunterhaltung für die Teilnehmer des Kongresses beizuwohnen.
Sohn Alberto, eine junge und fröhliche Ausgabe Riccardo Mutis, Dirigent an der Mailänder Scala, wird für die Gäste seiner Eltern ein Konzert geben: Wagner und Mozart. Dies in der Scuola Grande di San Rocco, dem schönsten Konzertsaal Venedigs, ausgemalt von Tintoretto, wo die Besucher in der Pause gemessenen Schrittes, grosse Spiegel vor sich hertragend, umhergehen, um auch die Deckengemälde ohne Nackenstarre betrachten zu können.
Eine Gelegenheit Luca Cavalli Sforza und Pier Paolo Di Fiore, langjährige Weggefährten Veronesis, nach ihrem Freund zu fragen. Hat dieser ‚Gott’ denn überhaupt keine Schwächen? Antwort: "E goloso, ein grosses Leckermaul, nichts Süsses ist vor ihm sicher". Und? Die professoralen Herren tauschen verschwörerische Blicke aus und tänzeln vergnügt über das Parkett "Le donne", klingt es dann im Chor, "die Frauen!" Frage: Wie meinen Sie das? Anwort: "Oooo... Jetzt at er ja schon ein gewisses Alter. Doch immerhin hat er sieben Kinder gezeugt. Sieben!"
Und dazu 15 Enkelkinder bekommen. Mit seiner Familie ist Veronesi fast täglich in telefonischem Kontakt. Die grossen Feste werden immer gemeinsam gefeiert. Doch Frauen sind wirklich seine treuesten Verbündeten. Kathleen Kennedy Townsend, Mitglied eines berühmten Bostoner Clans und bestens vernetzt, ist Co-Autorin von Veronesis Buch Öfnen wir der Wissenschaft die Türen und massgeblich beteiligt an den The Future of Science- Konferenzen. Als die Rede auf Veronesi kommt, strahlt sie: «Er ist in den USA sehr geschätzt als Onkologe und Wissenschaftler. So bekommen wir die besten Köpfe für unsere Konferenzen. Er hat eine weit gespannte und mutige Vision, wie das Verhältnis der Wissenschaft zur Gesellschaft zu verbessern wäre, zu unser aller Nutzen. Ich bewundere das.
Selbst sagt Umberto Veronesi seinem Verhältnis zu Frauen: "Die Frauen haben gemerkt, dass sie ein Hirn haben, das jenem des Mannes in nichts nachsteht und haben begonnen, es zu nutzen. Doch kommen sie aus der friedlichen Entwicklung heraus und haben mit den weiblichen die pazifistischen Hormone. Der Mann hat seine männlich agressiven."
Heisst das, Sie möchten mehr Frauen im öffentlichen Leben?
Veronesi: "Ja, da bin ich radikal. Heute leben wir hier in einer repressiven Gesellschaft. In den Schulen wird bestraft statt gefördert. Das ist eher männliches Verhalten. Wir brauchen aber Menschen, welche die Ursachen von Fehlverhalten zu eruieren und zu ändern suchen. Das macht eher die Frau. Nur so kann schädigendes Verhalten verändert werden. Sie heilen keinen Drogensüchtigen, indem sie ihm die Drogen wegnehmen.
Wünschen Sie sich einem weiblichen Premier für Italien?
Veronesi (schmunzelt): "Das wäre fantastisch! Doch ich fürchte dies wird hier noch einen Moment dauern."
Inzwischen ist an jeder Veronesi-Konferenz mindestens ein - halt männlicher- italienischer Minister vertreten, wie der mächtige Finanz- und Wirtschaftsminister Guilio Tremonti. Ignoranz bekämpft auch Umberto Veronesi und fördert deshalb das Verständnis für die Wissenschaft und das rationale Denken. Wie Galileo Galilei vor 400 Jahren führt er einen Kreuzzug für die Überwindung des Aberglaubens und den Eintritt ins Zeitalter der Erleuchtung.
Auch er müsste der katholischen Kirche eigentlich ein Dorn im Auge sein mit seinem offen gelebten Atheismus, trotz eingehender Kenntnis der Bibel, des Korans, der Schriften Buddhas und anderer Weisen und weil er dezidiert gegen das Votum der Kirche Positionen vertritt wie die zur Abtreibung, Stammzellenforschung und Euthanasie. Doch merkwürdigerweise wird er nie angegriffen.
Monsignore Marcelo Sanchez – schwarze Kutte, weisse Haut, stechend schwarze Augen – ist als selbsternannter Beobachter des Vatikans an allen Konferenzen Veronesis zugegen. Meist verschwörerisch hinter vorgehaltener Hand ins Handy flüsternd, äussert er sich erst nach vielen Windungen, dann aber deutlich: «Natürlich sind einige seiner Positionen falsch, doch intelligente Personen bleiben im Gespräch. Ausserdem bin ich überzeugt, dass er auf der Suche nach dem Glauben ist.»
Sergio Frigo, Journalist beim Venezianer Gazzetino, sieht das anders: "Veronesi ist so populär und hat soviel Zustimmung bei den Menschen, dass die Kirche schlecht beraten wäre, sich mit ihm anzulegen. Dazu kommt, dass er einer der wenigen Wissenschaftler, wenn nicht der Einzige ist, der sich auf einen Dialog mit der Kirche einlässt. Seine Kollegen haben ihn dafür schon oft kritisiert."
Also doch der Aufbruch in die Aufklärung?
Veronesi: "Ja, das ist wahr. Die Explosion wissenschaftlicher Erkenntnisse in den letzten hundert Jahren wurde von keinem zivilisatorischen Fortschritt im Verhalten der Menschen begleitet. So regiert, zumindest in Italien, eine Perplexität, eigentlich eine Angst. Sie hat die Leute zu teilweise extremen Formen des Okkultismus geführt, ähnlich derer im Mittelalter. Stellen Sie sich vor: Die italienische Nationalmannschaft fährt mit geweihtem Wasser nach Südamerika und sprengt es dort auf den Stadionsrasen, um gegen die armen Teufel dort zu gewinnen." -"Wissenschaftler zu sein bedeutet, um die Kraft seines eigenen Denkens und die Stärke der Vernunft zu wissen."
Darüber hinaus ist Umberto Veronesi überzeugt, dass dieses Denken für die Friedensförderung wichtig ist. Er hält deshalb im November in Mailand die dritte Konferenz Science for Peace ab, die die kulturellen Grundlagen für Frieden eruieren soll, wie auch Möglichkeiten der Konfliktprävention.
Journal21: Kann Wissenschaft Friede bewirken?
Veronesi: «Universalität, Freiheit, Rationalität und kritischer Geist bilden die Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens und sie formen ein Bindeglied zwischen allen Kulturen. Damit können sie zum konstruktiven Dialog zwischen den Kulturen beitragen und ein Gegenmittel zur Intolleranz und rassischen Barrieren bilden. Friede ist das Resultat rationaler Überlegungen. Es ist logisch belegbar; Kriege bringen nichts. In den letzten 50 Jahren hatte der Westen Frieden und damit eine bemerkenswerte Steigerung von Wohlstand und Zivilisation.»
Kein Wunder, dass man in seinem ausgedehnten Freundeskreis so anerkennend über Veronesis Visionen spricht. Die Mailänder Zellforscherin Chiara Tonelli, Veronesis wissenschaftliches Alter Ego: "Er ist der freieste Mensch, den ich kenne Seine Angstfreiheit macht ihn auch so kreativ. Er ist einer der wenigen wirklichen Innovatoren Italiens."