Am 11. September vor genau 225 Jahren beginnt seine Italienische Reise. Sie dauert 21 Monate und hat ihn tief beeinflusst. Sie hat bis heute das Italien-Bild der Nordländer mitgeprägt.
Goethe zeichnet in seinem Buch ein Italien, das in vielem auch heute noch Gültigkeit hat. Sein oft treffender Befund erstaunt umso mehr, als er kaum wirklich Kontakt mit der italienischen Bevölkerung hat. Er ist meist von Deutschen oder Schweizern umgeben. Ob er wirklich so gut Italienisch spricht, wie er behauptet, ist fraglich.
Schon bald erfährt er, dass die Leute in diesem Land, „fern von Nebel und Trübe“, den ganzen Tag „schreien, schäkern und singen“. Sie „balgen sich, jauchzen und lachen unaufhörlich. Die milde Luft, die wohlfeile Nahrung lässt sie leicht leben. Alles was nur kann, ist unter freiem Himmel.“
Die übliche Arroganz der Nordländer
Am 11. September 1786 schreibt er zum ersten Mal von italienischem Boden aus. Er liess sich über den Brenner kutschieren und trifft in Trient (Trento) ein. Eigentlich ist die Reise, die ihn bis nach Sizilien bringen wird, eine Flucht von Charlotte von Stein, seiner langjährigen Freundin. Sie hat ihm seine heimliche Abreise nie verziehen.
Das Werk zeigt auch die übliche Arroganz, mit der Nordländer Italien oft entgegentreten. Doch diese Arroganz weicht mehr und mehr einer Begeisterung für ein Volk, das er zwar nie ganz versteht, aber doch zu kennen glaubt. „Ich kenne meine Italiener schon gut“, schreibt er nach wenigen Tagen etwas überheblich.
Schnell schon beklagt er „die sehr auffallende Unreinlichkeit“ in den Strassen. „In ihrer Sorglosigkeit denken sie an nichts“ und werfen alles weg. Auch in Venedig ist dieser Dreck „unverzeihlich“. In Ferrara sieht er „unendlichen Kot“.
Er sucht den Kontakt mit der Bevölkerung nicht. Wenn er Italiener trifft, dann sind das meist Leute aus der adligen, feinen Gesellschaft: Fürsten, Vizekönige, Diplomaten. Sie sind erpicht darauf, den Herrn Geheimrat, den Autor des Werthers um sich zu haben.
Vor allem aber befindet er sich in deutscher Gesellschaft. In Rom wohnt er beim deutschen Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, der eines der berühmtesten Goethe-Bilder malt. Eng befreundet ist er mit der in Chur geborenen schweizerisch-österreichischen Malerin Angelika Kauffmann und dem Schweizer Johann Heinrich Meyer. Auf seiner Reise nach Sizilien lässt er sich von einem jungen deutschen Maler begleiten.
"Weit entfernt vom guten Geschmack"
Auch die Herbergen, in denen er absteigt, sind meist Edelherbergen, so in Venedig die Königin von England. In solch betuchten Ghettos trifft er wenig gemeines Volk. Oft gibt er sich als Pascha und beklagt die schlechten Unterkünfte. Seine Reise geht vom Norden über Venedig, Bologna, Perugia nach Rom. Dort arbeitet er an seinen Werken und stellt „Iphigenia“ fertig.
Goethe interessiert sich weniger für das Volk als für antike Kunst. Detailliert und oft mühsam beschreibt er Opern- und Theateraufführungen. Da kann er sehr kritisch sein. Bei einer Inszenierung „fehlt die innere Energie“. Eine Elektra-Aufführung findet er „abgeschmackt“. An den Kirchen findet er neben dem Köstlichen auch „manches Tadelnswürdiges“. Ariostos Grab in Ferrara ist „schlecht ausgeteilt“. In Venedig habe sich die Kunst auf Dosen und Armbänder verkrümelt. „Die Zeiten sind schlechter als man denkt“. Ein Geschlechter-Turm von Bologna ist „ein abscheulicher Anblick“. Die öffentlichen Monumente in Sizilien stehen „noch weiter entfernt vom guten Geschmack“ als jene in Neapel. Von Pompeji, dieser „mumisierten Stadt“, hat er einen „halb unangenehmen Eindruck“. Und natürlich kritisiert er die Lage von Rom: „Kein Ort der älteren Völker lag so schlecht als Rom“.
Dann ein sehr deutsches Selbstbewusstsein: In Herkulanum und Portici bei Neapel kritisiert er die Ausgrabungen. „Jammerschade, dass die Ausgrabungen nicht durch deutsche Bergleute recht plangemäss geschehen, denn gewiss ist bei einem zufällig räuberischen Nachwühlen manches edle Altertum vergeudet worden.“
Aber immer wieder ist er auch begeistert. Assisi überwältigt ihn: „An der Fassade konnte ich mich nicht satt sehen, wie genialisch konsequent hier der Künstler gehandelt“ hat.
Lokalpatrioten
Vieles, was Goethe sagt, hat noch heute seine Gültigkeit. Er stellt fest, dass die Italiener den Lokalpatriotismus „in höchstem Sinne hegen und pflegen“. Das ist einer der Gründe, weshalb das Land noch heute nicht wirklich zusammengewachsen ist.
Doch prophetisch sieht er die italienische Einheit. Den Kirchenstaat in Mittelitalien sieht er dem Untergang geweiht. „Der Staat des Papstes scheint sich nur zu erhalten, weil ihn die Erde nicht verschlingen will.“ 83 Jahre später wird er verschlungen.
Die Kriminalität ist schon damals ein Thema. Aus Rom berichtet er: Der „brave Künstler Schwendimann, ein Schweizer, Medailleur“ wurde mit zwanzig Messerstichen ermordet. Als die Wache kam, „erstach sich der Bösewicht selbst“.
Von Fremdenführern hält er nicht allzu viel: „Statt Tassos Gefängnis zeigen sie einen Holzstall“. Das hindert ihn nicht, eifrig an seinem Tasso weiterzuschreiben.
Sehr zeitgemäss zitiert er einen Italiener, der einem Gesetzgeber sagt: „Wenn ihr neue Gesetze macht, so müssen wir uns wieder Mühe geben, um auszusinnen, wie wir auch die zunächst übertreten können. Bei den alten haben wir es schon weg.“
Er beschreibt Volksfeste, so den 18. Januar, den Tag an dem die Tiere geehrt werden und frei haben. „Alle Herrschaften müssen heute zu Hause bleiben oder zu Fuss gehen“. Oder der Römer Karneval auf der via del Corso, von dem er schwärmt und den er viele, viele Seiten lang beschreibt.
Die Nordländer - "von grosser Unwissenheit"
Höhepunkt seiner Reise ist Neapel, das er als „die schönste Gegend der Welt bezeichnet“. Fasziniert ist der „Geologe“ Goethe vom „gewaltsam dampfenden“ Vesuv. Vier Mal stürmt er auf den Berg. Als er Lava spuckt, jauchzt Goethe vor Freude. Der Neapolitaner glaubt, im „Besitze des Paradieses zu sein“. Von den nördlichen Ländern hat er „einen sehr traurigen Begriff“. Die Nordländer haben Schnee, sind „von grosser Unwissenheit“, dafür haben sie Geld. Ein Klischee, das die Südländer noch heute von Deutschen und Schweizern pflegen: Zwar habt ihr Geld, aber sonst seid ihr langweilig.
„Hier wissen die Menschen gar nichts voneinander, sie merken kaum, dass sie nebeneinander hin und her laufen. Sie rennen den ganzen Tag in einem Paradies hin und wider, ohne sich viel umzusehen.“
Von Neapel fährt er mit dem Schiff nach Sizilien. In Palermo fragt der Nordländer böse: „Woher kommt die Unreinlichkeit eurer Stadt“. Die Antwort ist lakonisch und italienisch: „Es ist bei uns einmal, wie es ist“. Goethe staunt. Doch auch Palermo nennt er „den wunderbarsten Ort von der Welt“. Eingeladen wird er dort zum Essen beim Vizekönig.
Das italienische Essen mag er, aber mit Einschränkungen. Da gibt der Deutsche ausgerechnet den Italienern kulinarische Lektionen. „Das Öl, der Wein, alles sehr gut, aber sie könnten noch besser sein, wenn man auf ihre Bereitung mehr Sorgfalt verwendete.“ Auch eine in Reis gekochte Henne behagt ihm nicht. Unmässig viel Safran, unmässig gelb, ungeniessbar.
"Wir beurteilen die südlichen Völker zu streng"
Die Schifffahrt zurück von Messina nach Neapel gestaltet sich dramatisch. Es herrscht Windstille und die Strömung droht, das überfüllte Schiff an den Felsen von Capri zerschellen zu lassen. Panik und Chaos bricht aus. Frauen und Kinder schreien und lärmen. Es herrscht Chaos und Untergangsstimmung. Da greift der Dichter aus dem Norden ein. Laut fordert er die Menge zu Ruhe und zum Gebet auf. Und die Menge gehorcht. „Diese Worte taten die beste Wirkung“, resümiert er.
Zurück in seinem geliebten Neapel. Jetzt scheint er Italien tatsächlich näher gekommen zu sein. Die Beschreibung seines zweiten Aufenthaltes am Vesuv gehört zum Eindrücklichsten des ganzen Buches. Plötzlich klingt es erstaunlich undeutsch. Er wehrt sich gegen das Klischee, die Neapolitaner seien „Müssiggänger“. Und: „Wir beurteilen die südlichen Völker zu streng.“ Ein neapolitanischer Bettler wolle in Neapel bleiben, sagt er. Er würde die Stelle eines Vizekönigs in Norwegen oder eines Gouverneurs in Sibirien ausschlagen.
Jetzt, am 28. Mai 1787, kommt Goethe ins Schwärmen. „Ein Mensch ist noch nicht arm, weil er für den andern Tag nicht gesorgt hat“. Er lobt die sonnigen Hügel, die fruchtbaren Felder, „diese Lebensluft, diese immer heilsame Milde des Himmels“, den Überfluss an Obst, Früchten und Fischen.
Demütigung am Vesuv
Eine Demütigung erlebt Goethe beim Aufstieg zum Vesuv. Ein Knabe singt und der Gesang gefällt dem Meister gar nicht. Er rüffelt den jungen Mann. Der Knabe antwortet stolz. „Herr verzeiht, das ist doch mein Vaterland“. Aha, man muss sich anpassen. „Mir armem Nordländer kam etwas Tränenartiges in die Augen“. Es spricht für Goethe, dass er diese Szene beschreibt.
Zurück in Rom. Bei einem Volk, „das in einer so glücklichen Gegend wohnt, wo die Jahreszeit täglich Früchte wachsen lässt“. Fast täglich trifft er Angelika Kauffmann. Sie, die hochbegabte Malerin des Klassizismus, lebte seit ihrer Jugend immer wieder in Italien und ist jetzt seit vier Jahren in Rom ansässig. Sie ist es, die Goethes Italien-Bild entscheidend mitprägte.
Jetzt in Rom kommt Goethe auch zur Erkenntnis, dass er nicht Maler werden will, sondern Dichter. „Täglich wird’s mir deutlicher, dass ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin“.
Die schöne Mailänderin
Goethe liebt und verehrt die Frauen. Schon kurz nachdem er italienischen Boden betreten hatte, schreibt er: „Besonders wollen mir die Frauen gefallen“. Während seiner ganzen Reise huldigt er dem andern Geschlecht. Auf einem Balkon in Neapel sieht er „ein recht artiges Mädchen“, das „ihre Reize feilbot“. In Palermo erblickt er beim Schein einiger Lampen „ein schönes Frauenzimmer“. Später schreibt er: „Allerliebst war ein Mädchen von prächtiger, schlanker Gestalt“.
Ob Goethe in Deutschland ein sexuelles Verhältnis mit Frau von Stein hatte, wird man nie mit Sicherheit erfahren. Viele Goethe-Spezialisten glauben eher an eine platonische Beziehung. Am wahrscheinlichsten gilt die These des österreichisch-amerikanischen Psychoanalytikers Kurt Eissler. Er sagt, Goethe habe erste sexuelle Kontakte in Rom gehabt.
In Castel Gandolfo, in einem Bäderhotel, verliebt sich Goethe in eine schöne Mailänderin. Er flirtet mit ihr und lehrt sie Englisch. Dann Goethe erfährt, dass die Schöne schon vergeben ist; tiefe Traurigkeit umnebelt ihn. Doch der Bräutigam der Mailänderin flüchtet, die Sitzengelassene bricht zusammen und wird krank. Später trifft sie Goethe wieder: strahlend, jung und frisch „mit einer Freudigkeit, die mich bis ins Innerste durchdrang“. Angelika Kauffmann führt Goethe dann ins Haus der Mailänderin. Doch schon bald wartet der Kutscher auf Goethe. Der Abschied ist pathetisch.
Mehr erfährt man nicht.