«Wenn die Geschichte der Pandemie geschrieben wird, wird es lange Kapitel geben, die auflisten, welche Fehler Politiker gemacht haben», schreibt die «Washington Post» in einem Leitartikel: «Einige dieser Fehler hat, unvermeidlich, Andrew Cuomo begangen. Bemerkenswert jedoch ist, was er als Kommunikator, Setzer von Prioritäten, Mahner und empathische Stimme der Vernunft alles recht macht.»
Dass das Blatt aus der amerikanischen Hauptstadt den Gouverneur des Staates New York dermassen lobt, hat seinen Grund. Wie der 63-jährige Politiker, Enkel italienischer Einwanderer, die Coronavirus-Pandemie zu bewältigen versucht, steht in starkem Kontrast zur Art und Weise, wie Präsident Donald Trump das tut – oder nicht tut.
Sohn eines einflussreichen Vaters
Zwar kennen sich Cuomo und Trump und haben gemeinsame Bekannte, stammen sie doch beide aus dem New Yorker Stadtteil Queens. Beide sind sie, wie die «Post» schreibt, «direkte, schikanöse, berechnende Regelbrecher, die Loyalität hoch schätzen und (politische) Gegner zerstören». Beide sind Söhne starker Väter, denen sie viel verdanken: der eine als Sohn des früheren New Yorker Gouverneurs Mario Cuomo, der andere als Filius des Immobilien-Unternehmers Fred C. Trump.
Und beide verbindet heute in der Krise eine besondere Symbiose: Andrew Cuomo kann es sich nicht leisten, Donald Trump zu verärgern, weil er als Gouverneur einen guten Draht zur Regierung in Washington DC braucht. Der Präsident seinerseits kann es sich nicht leisten, den New Yorker Gouverneur zu desavouieren, weil er um die Beliebtheit weiss, der sich Cuomo dank seiner fast täglichen Fernsehauftritte in der Bevölkerung erfreut.
Die Pressekonferenzen der beiden Politiker sind eine Studie in Kontrasten. Hier Andrew Cuomo, im Red Room des Parlaments in Albany oder im Kongresszentrum in New York: entschlossen, beredt, überlegt, präzis, empathisch. Dort Donald Trump, im Pressesaal des Weissen Hauses: Fakten-avers, prahlend, ausufernd, egoman, kalt. Inzwischen sind Cuomos Auftritte, von allen grossen Sendern direkt übertragen, in den USA «must-see televison», also Pflicht-Fernsehen: «Fakten können erbaulich, manchmal auch deprimierend sein, sie können verwirrend, aber auch ermächtigend sein.»
Unverblümt persönlich
Andrew Cuomo scheut sich auch nicht, am Bildschirm persönlich zu werden. Er spricht über seine 88-jährige Mama Matilda, nach der er ein Gesetz, «Matilda’s Law», benannt hat, das New Yorker, die über 70 Jahre alt sind, besser vor dem Coronavirus schützen soll. Er ist persönlich geworden, nachdem der Vize-Gouverneur von Texas bemerkt hatte, ältere Menschen würde es wohl nicht viel ausmachen, zu sterben, wenn das der Wirtschaft nütze: «Meine Mutter ist nicht entbehrlich. Wir werden nicht akzeptieren, dass menschliches Leben entsorgbar ist. Und wir werden menschliches Leben nicht mit Dollars aufwiegen.» Cuomo sorgt sich auch öffentlich um seine drei Töchter aus erster Ehe mit Kerry Kennedy, einer Tochter des früheren US-Justizministers Robert F. Kennedy. Während einer Pressekonferenz hat der Gouverneur ein Bild seines 2015 verstorbenen Vaters einblenden lassen: «Er ist nicht mehr für euch da. Er ist aber noch für mich da.»
Persönlich wurde Andrew Cuomo auch anlässlich eines Interviews auf CNN mit Bruder Chris, einem prominenten Moderator des Nachrichtensenders. «Ich weiss, dass du hart für deinen Staat arbeitest», sagte der jüngere Cuomo, «aber wie lange auch immer du arbeitest, es bleibt genügend Zeit, um Mutter anzurufen. Sie will von dir hören.» Worauf die beiden darüber zu streiten begannen, welchen ihrer Söhne Mama Matilda mehr liebt. Andrew Cuomo liess keinen Zweifel daran, dass er es sei, was Chris zur Antwort bewegte: «Ich kann nicht glauben, dass du mein Publikum anlügst.» Doch am Ende des Gesprächs versöhnten sich die Streithähne wieder: «I love you.»
Andrew Cuomo war nicht immer so beliebt, wie er es derzeit ist. Noch 2018 beschrieb ihn die «New York Times» als «politischen Taktiker mit fast grenzenlosem Ehrgeiz und besonderen Fähigkeiten, eine Leitfigur mit harten Ecken und Kanten und wenig Respekt für Regeln, besonders dann, wenn ihm diese im Weg stehen, jene Ergebnisse zu erzielen, die er anstrebt.» Bei anderer Gelegenheit nannte ihn das Blatt «einen menschlichen Bulldozer». Die «Washington Post» schrieb, der Gouverneur von New York kenne nur zwei Betriebsarten: «get along» und «kill» - miteinander auskommen und töten.
Bereits dreimal wiedergewählt
Trotzdem ist Cuomo, zwar nie überwältigend, schon dreimal zum Gouverneur des Staates New York gewählt worden, ein Amt, das keine Amtszeitbeschränkung kennt. Vor 2010 war der Doktor der Jurisprudenz acht Jahre lang in Washington DC als Wohnungsbauminister im Kabinett von Präsident Bill Clinton gesessen. Auch als Gouverneur hat Cuomo einiges erreicht: Er hat Waffengesetze verschärft, den Mindestlohn angehoben und grosse Infrastrukturprojekte realisiert.
Derzeit aber sei er in seinem Amt nicht besonders glücklich, lässt er gegenüber einem Reporter des Magazins «New York» verlauten: «Ich liebe es, Flughäfen zu eröffnen. Ich liebe es, bei Bauprojekten Bänder durchzuschneiden. Ich liebe es, Gesetze zu verabschieden. Jetzt aber geht es nicht darum, glücklich zu sein, jetzt fliesst das Adrenalin. Wenn ein Bär auf dich zustürmt, bist du tot, wenn du nicht energiegeladen bist.» Die Zeitschrift beschreibt sein Wirken noch wie folgt: «Er will nicht inspirieren, er will liefern, am liebsten wenn die andere Seite mit durchschnittener Kehle auf der Strecke bleibt.»
Auch mit Naturkatastrophen, einschliesslich Hurricane Irene und Superstorm Sandy, kennt der Gouverneur sich aus. Ein früherer Informationsbeauftragten erzählt, Andrew Cuomos Playbook im Falle eines Desasters lasse sich wie folgt zusammenfassen: «praktisch, hunderterprozentig involviert, mit direkter und klarer Kommunikation und die Bürokratie gehörig aufrüttelnd, selbst wenn es die eigene ist.»
Kein Mangel an Kritikern
Doch diese Charakterzüge haben dem Poliker im Laufe der Jahre auch etliche Kritiken eingetragen. Er tue zu wenig, um das ökonomische Ungleichgewicht im Staat zu beseitigen, heisst es von linker Seite. Er kümmere sich zu wenig um ältere Gefängnisinsassen, die von Covid-19 besonders bedroht seien. In den USA sind laut einer Erhebung 2016 annähernd 150’000 Gefangene in staatlichen Institutionen älter als 55 Jahre.
Auch stösst auf Kritik, dass der Gouverneur in Gefängnissen Desinfektionsmittel gegen das Virus herstellen lässt. Das sei «Sklavenarbeit», wird argumentiert. Rechte indes werfen ihm vor, in sozialen Belangen zu liberal zu sein. Auch innerhalb der demokratischen Partei hat Andrew Cuomo nicht nur Freunde: Dem linken Flügel ist er zu pragmatisch, der Parteiführung zu eigenwillig und übrigen Mitgliedern zu ungehobelt. Viele fürchten ihn auch, als wäre er ein Mafioso, wie Al Pacino, dem er von der Erscheinung und vom Sprachduktus her ähnelt, ihn in mehreren Filmen spielt.
Auch in den Medien erfreut sich Andrew Cuomo nicht uneingeschränkter Beliebtheit. Er kann bei Interviews oder Fernsehauftritten recht ausufernd sein, was gelegentlich selbstverliebt wirkt. Es sei fast unmöglich, berichten Journalisten, ihn am Telefon wieder loszuwerden. Die «New York Times» verbot ihren Mitarbeitenden gar einmal, sich ausserdienstlich mit dem Gouverneur zu unterhalten.
«Cuomo for President»?
Tempi passati. Heute loben ihn die Medien als einen Politiker, der willens ist, Verantwortung zu übernehmen und Rechenschaft abzulegen: «Wenn euch was nicht passt, gebt mir die Schuld.» Dies im Gegensatz zu Donald Trump, der unverblümt gesagt hat: «Ich übernehme überhaupt keine Verantwortung.» Kein Wunder, sehen in den USA etliche Leute den New Yorker Gouverneur als Wunschkandidaten der Demokraten für die Präsidentenwahl im Herbst. Auf Twitter jedenfalls kursiert das Hashtag #CuomoForPresident, weil der New Yorker die Bevölkerung offenbar daran erinnert, wie ein Präsident in der Krise wirken und sich verhalten sollte.
«Ich sehe Cuomo dieses Jahr als demokratischen Kandidaten», sagt etwa der Fernsehkomiker Bill Maher: «Wenn wir ihn gegen Biden austauschen könnten, das wäre der Gewinner.» Und ausserdem: «Er ist unsympathisch, was ich gut finde.» Cuomo selbst hat wiederholt betont, es gefalle ihm in Albany und er hege keine höheren Ambitionen. Freunde jedoch spekulieren, er könnte 2024 ins Rennen um den Einzug ins Weisse Haus einsteigen, falls Donald Trump wiedergewählt wird. Oder er könnte auf Biden folgen, falls dieser nach einer Amtszeit zurücktreten würde.
Fast wie ein Prediger
Andrew Cuomo selbst erklärt sich seine Popularität ganz einfach: «Ich mache nichts anders, als ich es stets gemacht habe. Heute ist einfach das Publikum grösser. Und die Zeiten sind intensiver.» Er bleibt, allen Herausforderungen und Rückschlägen zum Trotz, optimistisch: «Am Ende des Tages, meine Freunde, selbst wenn der Tag lang ist, gewinnt die Liebe, immer, und sie wird erneut gegen dieses Virus gewinnen.»
Bisher haben sich im Bundestaat New York, dem Epizentrum der Pandemie in den USA, über 75'000 Menschen mit dem Coronavirus angesteckt, unter ihnen neu auch Cuomos 49-jähriger Bruder Chris.1’550 Erkrankte sind gestorben. Dem Gouverneur zufolge könnten auf dem Höhepunkt der Pandemie in seinem Staat bis zu 800 Menschen pro Tag ihr Leben verlieren. Was seinen Bruder betrifft, sagte Andrew Cuomo an der Medienkonferenz am Dienstag: "Niemand kann diesem Virus entfliehen. Es ist der grosse Gleichmacher."