Nirgends prallt dieser Widerspruch härter aufeinander als im grünen Gürtel um eine Megacity wie Bombay. Zwanzig Millionen Menschen leben hier, auf einige Meilen zusammengedrängt. Die einzigen Ventile für diesen prallgepumpten demografischen Balg sind die Verkehrsachsen in den Norden und Osten der Stadt. Diese stossen dann rasch ihre Siedlungsäste in die Landschaft hinaus, angetrieben von ganzseitigen Inseraten für ein „Wohnen im Grünen“.
Gefährdeter Nationalpark
Es müsste nicht so sein. Bombay ist wohl die einzige Weltstadt, die einen Nationalpark innerhalb ihrer Gemeindegrenzen hat, mit über 100 Quadratkilometern Wald und einer reichhaltigen Flora und Fauna. Doch was vor vierzig Jahren noch ein Naherholungsgebiet war, ist heute eine von allen Seiten bedrängte Enklave. Um dem Siedlungsdruck standzuhalten, werden die Zugänge bewacht, als wäre es die Waffenstillstandslinie zwischen Nord- und Südkorea.
Nur wenige verlieren sich am Wochenende dorthin. Spricht man einen Bombaywallah auf den Park an, meint man, er liege irdendwo im Himalaya. Nur wenn wieder einmal ein Leopard einen Nachtschwärmer anfällt – es geschieht jeden Monat – nimmt er kurz Notiz davon.
"Dschungel auf dem Kopf"
Was tut ein kleiner Kurort in 25 Kilometern Luftdistanz zu Bombay ohne diesen Schutzschild einer rigorosen Parkbehörde? Matheran heisst auf Deutsch "Dschungel auf dem Kopf", und in diesem Fall ist der Name wirklich ein Omen. Die zwei Quadtratmeilen Wald stehen auf einem Felspfeiler, der achthundert Meter hoch aus der Ebene ragt. Die einzige Bresche der Dasturi-Schlucht ist gerade breit genug, um einen Strassenzugang zu erlauben. Es gibt noch eine kleine Schmalspurbahn – früher von SLM-Dampflokomotiven gezogen –, die sich um die Felssporne windet.
Wie beim ‚Sanjay Gandhi National Park‘ ist auch Matheran eine touristische Enklave aus der Zeit der Engländer. Und sie waren es, die bereits vor hundert Jahren aus der Not eine Tugend machten: Motorisierte Fahrzeuge (mit Ausnahme des Zügleins) durfen nur bis in die Dasturi-Schlucht fahren. Dann muss man zu Fuss weiter, zu Pferd oder auf der (muskelbetriebenen) Rikscha. Der immergrüne Wald weiss es zu schätzen.
Ende der Idylle
Der reichliche Blätterfall und der Dung von mehreren hundert Pferden nährt genügend rote Erde, um die vielen Kilometer Spazierwege staubfrei zu halten, die zu den Aussichtspunkten mit ihren lustigen Namen führen – Porcupine Point, Coronation Point, One-Tree Hill, Louisa Point, Monkey Point, Danger Point etc.
Als ich vor über vierzig Jahren zum ersten Mal nach Matheran kam, war die Strasse so schlecht, dass man wohl oder übel den Zug nehmen musste. Die meisten der rund 200 Bungalows verfielen - dank Familienzwisten oder weil Matheran nicht mehr ‚chic‘ war -, nachdem sich die Engländer getrollt hatten. Es gab noch einen Gemeindeangestellten, der jeden Tag in den Paymaster-Park ging, um der Kopfbüste des Matheran-Gründers eine Brille aufzusetzen (der Bildhauer hatte sie nicht in Stein meisseln können); am Abend nahm er sie dann wieder ab.
Irgendwann in den achtziger Jahren kam dann der Kipp-Punkt, ausgelöst durch die demografische Verdichtung Bombays und die Fluchtmöglichkeit, die der billige Maruti – Indiens Volkswagen – der Mittelklasse endlich bot. Die Strasse wurde ausgebaut, zwischen den Bäumen der Dasturi-Schlucht nisteten immer mehr parkierte Autos, auf denen die Affen herumhüpften.
Kampf um die Gunst der Gäste
Es entstanden Hotels mit vielversprechenden Namen wie "Richie Rich". Das "Broadland Hotel" trumpfte mit dem ersten Swimming Pool auf. Bald musste eine Pipeline das Wasser aus dem Tal heraufpumpen, weil der "Charlotte Lake" mit dem Monsun-Stauwasser den Durst des "Hill" nicht mehr stillen konnte. Bis zu dreissigtausend Besucher kommen an einem Wochenende ins Zweitausend-Seelen-Dorf.
Im Wettkampf um deren Gunst ist der Tourismusbranche alles recht. Das Rugby-Hotel baute klammheimlich einen Helikopter-Landeplatz, ein anderes schenkte der Gemeinde ein Ambulanz-Auto, um hinter den Milchglas-Scheiben VIP-Gäste einzuschleusen. Andere schmierten die Behörden, um eine neue Strasse aus dem Tal in Angriff zu nehmen. Alle paar Jahre taucht das Projekt einer Zahnrad- oder Luftseilbahn auf.
"Öko-sensible Zone"
Und das Lobbying für den Ausbau der Strasse und eine freie Auto-Zufahrt geht unaufhörlich weiter. Die Branche rechnet, dass die goldenen Eier ins Nest fliegen werden, auch wenn die Gans geschlachtet ist, denn für Millionen Bombayyas in Atemnot tut es auch ein bisschen Luftverschmutzung.
Natürlich gab es auch Widerstand. Er kam zuerst von den wenigen alten Besuchern, die die Bungalows ihrer Grosseltern instandhielten und den Charakter der "Hill Station" unbedingt erhalten wollten. Ein Schutzverein erwirkte vom Bundesgericht in Delhi den Schutz von Matheran als einer "öko-sensiblen Zone", in der jedes Bauvorhaben ein strenges Bewilligungsverfahren durchlaufen muss.
Matheran wurde zur Kampfzone. Der Anwalt des Schutzvereins wurde zusammengeschlagen, als er durch den Bazaar schlenderte. Der Plan, statt dem Ausbau der Strasse einen Zug-Shuttle zwischen Dasturi und Bazaar einzurichten, wurde hintertrieben.
Die Armen blockieren den Strassenbau
Doch wenn es bisher gelungen ist, Matheran autofrei zu halten, dann nicht dank einer gutbetuchten Elite aus Bombay. Es sind die Armen, die sich in die Bresche geschlagen haben. Die Pferdehalter-Gewerkschaft und die Rikschawallahs sorgten dafür, dass sich Dutzende ihrer Mitglieder quer auf die Strasse legten, als vor einigen Jahren die Strassenbaumaschinen vorfuhren, um in einer ersten Etappe die Distanz zum Bazaar zu halbieren. Es war nicht Umweltbewusstsein, das sie dazu trieb, sondern pure Angst um ihre berufliche Existenz.
Noch krasser war damals der Einsatz der Kulis, damit sie, bis heute, die schweren Wagen ziehen und stossen können, um Zement und Bausteine, Mineralwasser und Bier den steilen Weg von Dasturi zum Bazaar hinauf zu transportieren. Die rhythmischen Schreie, die sie aus sich pressen, wenn sie sich in die Seile legen und den Berg hinaufächzen, erinnert mich an die Sklavenarbeit der Antike.
Eine Illustration zur Klimakonferenz
Und ich denke, wie viel besser es doch wäre, wenn sie als Chauffeure oder Ladearbeiter ihren Lebensunterhalt verdienen könnten, oder meinetwegen als Strassenarbeiter oder Verkehrslotsen. Ist es fair, diesen Menschen zu applaudieren, wenn sie gegen die Einführung von Motorfahrzeugen streiken, weil sie mir mit ihrer Existenzangst den Luxus von Stille und sauberer Luft garantieren?
Es ist ein drastisches Kontrastbild, aber im Grunde ist es nur die Illustration dessen, was sich vor kurzem bei der Klimakonferenz in Durban abgespielt hat: Der reiche Westen (und auch die indische Elite ist hier ‚reicher Westen‘) verlangt von Ländern wie Indien und China umweltfreundliche, aber wachstumshemmende Massnahmen. Kann man es ihnen verdenken, wenn sie darauf pochen, dass - in den Worten von Indira Gandhi - "Armut die grösste Umweltverschmutzung" ist und dass es in erster Linie einmal darumgeht, diese soziale und ökonomische Umwelt zu "reinigen"?