Vor dem Zürcher Kunsthaus steht das acht Tonnen schwere „Höllentor“, eine Skulptur des französischen Bildhauers Auguste Rodin. Da wimmelt es von Sündern und Verdammten. Sie alle warten jammernd am Eingang zur Unterwelt. Für einige der Unglücklichen stand eine zauberhafte junge Frau Modell.
Nicht genug: Die junge Frau selbst legte Hand an. Sie modellierte – im Namen Rodins – mehrere Gestalten des Höllentors, vor allem Hände, Beine und Körper.
Schülerin, Geliebte, Impulsgeberin
Die Frau, die da sowohl Modell als auch Ausführende war, galt als ungewöhnliche, verheissungsvolle Schönheit. Sie war intelligent, temperamentvoll und leidenschaftlich. Zehn Jahre lang war sie zunächst die Schülerin, dann die Geliebte und schliesslich die Impulsgeberin des grossen Auguste Rodin. Doch die Geschichte endete im Irrenhaus – schrecklich und dramatisch.
Camille Claudel ist ein aus bürgerlichem Haus stammendes Provinzmädchen aus der Champagne. Schon als Kind modellierte sie. Vater, Mutter, Schwester und Bruder sitzen ihr Modell. Mit 15 Jahren wagt sie sich an Napoleon, Bismarck sowie David und Goliath heran. Mit 17 Jahren kommt sie nach Paris. Der Bildhauer Alfred Boucher wird auf sie aufmerksam. Jetzt besucht sie eine Kunstschule und richtet sich ein kleines Atelier ein.
Zwanzig Jahre alt ist sie, als das berühmteste Foto von ihr entsteht. Als Fotograf war ein gewisser César angegeben.(Foto: Musée Rodin, Paris)
Jetzt wird Alfred Boucher, ihr erster Förderer, mit einem Preis geehrt. Der besteht in einer Kunstreise nach Italien. Boucher beauftragt seinen Freund Auguste Rodin damit, die junge Frau zu betreuen und weiterzubilden. Rodin? Camille hat den Namen noch nie gehört.
Und jetzt beginnen erregende Jahre, die Stoff für drei Filme, Theaterstücke, Ballette, einen Liederzyklus, TV-Dokumentationen und viele Biografien abgeben.
Vieles im Leben von Camille Claudel ist noch immer rätselhaft. Die wohl beste und faktenreichste Biografie schrieb die französische Kunsthistorikerin Reine-Marie Paris, eine Enkelin von Paul Claudel, dem Bruder von Camille, dem später berühmten Dichter. Ihr stand als einzige das Familienarchiv der Claudels offen. *)
Stoff für Psychologen und Feministinnen
Sie zeichnet ein Bild, das in vielem von den gängigen Klischees abweicht. War das schöne Provinzmädchen dem 24 Jahre älteren Rodin ausgeliefert? Hat er sie ausgenützt, fallen gelassen und ins Elend getrieben? War er der Brutalo, der sie an die Wand drückte? Das Leben von Camille Claudel gab seit jeher Stoff für Psychologen, Psychiater und Feministinnen ab.
Camilles Einfluss, den sie auf Rodin ausübt, ist laut Reine-Marie Paris grösser als früher angenommen. Rodins Stil habe sich seit der Bekanntschaft mit Camille geändert. Sie ist keineswegs nur eine untergebene Assistentin. Allein hätte sich Rodin „wohl auf einen überzogenen Neo-Michelangelismus hin entwickelt“, schreibt die Biografin. „Doch da tut sich plötzlich ein neuer Weg auf.“ Camille habe Rodins Werk „das Fleischliche“ gegeben, „zarte Windungen der Gliedmassen“, „ein Hauch körperlicher Noblesse“. Und: „Auf ihrem Höhepunkt strahlt Camille Claudels Kunst ein Leuchten, ein Beseeltsein, ein Gleichgewichtsgefühl aus, das nur eine geniale Frau so vollendet zu schaffen vermochte.“
Das sehen damals auch Kritiker so. Viele, so Gabrielle Reval in der Zeitschrift „Fémina“, bezeichnen sie als eine der grössten Künstlerinnen Frankreichs.
Rodin und Camille arbeiten jetzt zusammen in einem Atelier am Boulevard d’Italie 68. Hier übrigens hatten George Sand und Alfred de Musset ihr Liebesnest.
Camille übt nicht nur Einfluss auf Rodins Schaffen aus. Sie selbst fertigt in seinem Atelier offenbar viele Skulpturen an, die unter dem Namen des grossen Meisters bekannt werden. Camille gilt als Workaholic. Doch die Schwerarbeiterin, die von morgens früh bis abends spät in ihrem Atelier tätig ist, signiert nur wenige eigene Werke. Weshalb? Weil Rodin einige ihrer Skulpturen mit seinem Namen veröffentlicht?
Von Camille heisst es, sie mache gute Rodins, schreibt die Biografin. Von Rodin heisst es, seine Kunst sei ein Echo auf Camilles Werk.
Sie kennt seine Schwächen
Ihre Liaison ist leidenschaftlich. Rodin führt Zeit seines Lebens ein Doppelleben. Rose Beuret, seine langjährige Begleiterin, ahnt zunächst nichts von der Beziehung Rodins mit seiner einstigen Schülerin. Rodin versteckt Rose und ist stolz auf die schöne junge Frau. Er zeigt sich offen mit ihr in der mondänen Gesellschaft. Immer wieder fahren die beiden in die Touraine in die Ferien.
Camille ist keinesfalls die Unterwürfige. Sie kennt seine Schwächen und packt ihn immer wieder an seiner Eitelkeit.
Einmal schreibt sie ihm aus den Ferien und bittet ihn, in einem Billigwarenhaus ein Badekleid für sie zu kaufen. Man stelle sich den bärtigen Rodin in der Frauenabteilung des Kaufhauses vor ...
Im gleichen Brief schreibt sie: „Ich schlafe splitternackt, dann träume ich, Sie seien hier. Doch wenn ich aufwache, ist alles ganz anders. Betrügen Sie mich ja nicht mehr.“ Solche Zeilen lesen Kunsthistoriker heute eher als feinen Spott.
Schwanger?
Keine Antwort findet Reine-Marie Paris in den Dokumenten auf das Gerücht, wonach Camille schwanger war oder gar Kinder mit Rodin hatte. Die Gerüchte kamen auf, weil sich Camille längere Zeit fast versteckt in der Touraine aufhielt, wo sie immer wieder von Rodin besucht wurde.
Rodin erhält jetzt wichtige Aufträge und wird immer berühmter. 1884 schafft er das Claude-Lorraine-Denkmal in Nancy, 1887 die Bürger von Calais. Und immer arbeitet er zusammen mit Camille am Höllentor. Rodin stellt da und dort seine Kunstwerke aus. Die Zeitungen huldigen ihm.
Unverheiratet, ohne Geld und Protégés
Und Camille? Wird sie vom grossen Meister als geniale Arbeitskraft missbraucht? Lange Zeit glaubte man das. Doch Reine-Marie Paris fand Dokumente, die diese Ansicht korrigieren. Rodin bittet mehrere Journalisten, positiv über „die sehr begabte Camille“ zu schreiben. Einem wohlwollenden Kritiker schreibt er: „Ich wäre persönlich geschmeichelt, wollten auch Sie ihrem (Camilles) Talent Rechnung tragen.“
Doch zu eigentlichem Ruhm kommt sie nicht, und darunter beginnt sie mehr und mehr zu leiden. 1893 kommt die erste Krise. Und jetzt merkt sie, dass sie ziemlich allein ist. Sie ist immer noch das Provinzmädchen, hat kein Geld, keine Protégés in Politik und Wirtschaft, wie es Rodin hat. In der höheren Gesellschaft gilt sie im besten Fall als die Mätresse des Meisters: seine Zulieferantin. In der damaligen Zeit gilt eine unverheiratete, allein lebende Frau, eine Künstlerin, etwas exaltiert und mittellos, gar nichts.
Verkannt? Ausgenutzt?
Sie hätte gerne Rodin geheiratet, vor allem, um in der „Gesellschaft“ einen Platz zu erhalten. Doch Rodin will nicht. Jetzt kriegt auch noch seine langjährige Begleiterin, Rose Beuret, Wind vom Doppelleben ihres Auguste – und die Hölle bricht los.
Camille fühlt sich mehr und mehr verkannt. Rodin steht im Rampenlicht – und sie gilt gar nichts. Sie fühlt sich vom Meister ausgenutzt. Jetzt prallen die beiden aussergewöhnlichen und völlig verschiedenen Persönlichkeiten zusammen. „Es ist ohnehin erstaunlich“, schreibt die Biografin, „dass die Verbindung zweier so vitaler und so unterschiedlicher Charaktere fast 15 Jahre lang hielt.“
Das Feuer ist erloschen
Noch arbeitet sie, jetzt allein. Sie stellt auch noch ab und zu aus, zum Beispiel in Genf und Rom, doch das Feuer ist erloschen. Sie will nicht mehr, dass ihre Werke neben jenen von Rodin ausgestellt werden, denn sie will nicht als seine Schülerin gelten. Wie müsste es sie gekränkt haben, dass heute viele ihrer Werke ausgerechnet im Musée Rodin in Paris ausgestellt sind.
1898 ist Schluss mit Rodin. Freunde hat sie kaum. Mit Claude Debussy pflegt sie eine kurze Bekanntschaft. Die Biografen rätseln noch heute, ob die beiden eine Liebesbeziehung hatten. Sicher ist nichts. Immer schrieb Debussy: „Ich hatte sie wirklich gern ...“
Sie wird immer einsamer. Als alleinstehende Frau kann sie sich nicht durchsetzen. An der Rue de Turenne 63 mietet sie eine Zweizimmerwohnung, die immer schmutziger und unordentlicher wird.
Verwilderung
Aus dem einst schönen Mädchen ist jetzt eine aufgedunsene, immer dicker werdende Frau geworden. Ihr einstige Liebe zu Rodin hat nun in Hass auf ihn umgeschlagen. Mehr noch: sie beginnt einen Wahn zu entwickeln. Sie fühlt sich verfolgt: von Rodin und der ganzen Welt.
Sie verbarrikadiert sich. Die Fensterläden sind geschlossen, überall Ketten und Schlösser. Einen Besucher empfängt sie mit einem Besenstil mit eingeschlagenen Nägeln – ihre Waffe. Sie glaubt, Rodin trachte ihr nach dem Leben, er wolle sie umbringen, um ihr Verdienst an seinen Werken zu verheimlichen. Drei Viertel der Zeit verbringe sie im Bett, schreibt sie. Der Schmutz in der Wohnung nimmt grauenvolle Ausmasse an. Die Familie lässt sie fallen. Jetzt bricht sie zusammen und verwildert. Einzig ihr Bruder Paul kümmert sich ab und zu um sie. Sie versinkt im Dunkel. „Sie dämmert dem Freitod entgegen“, schreibt Reine-Marie Paris.
„Du würdest mich nicht wiedererkennen“
Ärzte und die Familie werden alarmiert. Am 10. März 1913 dringen Krankenwärter in ihre Wohnung ein. Sie sträubt sich und weint. Gegen ihren Willen wird sie abgeführt und ins Irrenhaus von Ville-Évrard gesteckt. Nicht alle finden dies gut. Die Tageszeitung „L’Avenir de l’Aisne“ spricht von „Menschenraub“ und „Sequestration“, und einem „ungeheuerlichen Verbrechen“.
Sie ist sich ihres Niedergangs bewusst. Einem Freund schreibt sie: „Du würdest mich nicht wiedererkennen, Du, der mich ... so jung und so strahlend gesehen hast.“
Was tut sie all die Jahre?
Im September 1914 wird sie in die Anstalt Montdevergues bei Avignon verlegt. Und von jetzt an wissen wir fast nichts mehr über sie. Einige Briefe aus dem Irrenhaus deuten keineswegs auf eine Krankheit hin. Sie hat einen regen Geist und ein gutes Gedächtnis. Doch für die Ärzte, die sie immer wieder untersuchen, ist der Fall klar. Noch immer fürchtet sie, Rodin trachte ihr nach dem Leben. Sie hat Angst, in der Anstalt vergiftet zu werden.
Dreissig Jahre ist sie hier weggesperrt. Was tut sie die ganzen Tage und Jahre lang? Wir wissen es nicht.
Während sie dahinvegetiert, lebt Rodin auf. Von 1904 bis 1914 ist die walisische Malerin Gwen John seine Geliebte. Kurz vor seinem Tod am 17. November 1917 heiratet er seine langjährige Lebensgefährtin Rose Beuret. Von all dem erfährt Camille nichts mehr.
1942 verschlechtert sich ihr Zustand. Am 19. Oktober 1943 stirbt sie 79-jährig. Ende Oktober, also vor 75 Jahren, wird sie auf dem Anstaltsfriedhof anonym verscharrt – ohne Grabstein, ohne nichts.
Alles gegeben, alles genommen
Zeit ihres Lebens und viele Jahre danach wurde Camille Claudel verkannt und kaum wahrgenommen. Das hat sich inzwischen radikal geändert. Mehrere Biografien und vor allem der 1988 gedrehte und dann preisgekrönte Film mit Isabelle Adjani (als Camille) und Gérard Depardieu (als Rodin) sowie die 2013 entstandene arte-Produktion mit Juliette Binoche haben sie ins Scheinwerferlicht gerückt. Geht man durch Paris, findet man heute in fast jedem Postkarten-Ständer das César-Foto der Zwanzigjährigen.
Im vergangenen Jahr erhielt Camille sogar in Nogent-sur-Seine, wo sie im Alter von 12 bis 16 Jahren mit ihrer Familie lebte, ein eigenes Nationalmuseum. Auf dem Anstaltsfriedhof in Montdevergues steht jetzt ein Denkmal für sie: „Ses restes reposent ici dans l’ossuaire du cimetière.“
„Rodin hat Camille fast alles gegeben“, schreibt Reine-Marie Paris, „ihr aber auch fast alles wieder genommen.“ Doch was Camille nicht wusste, ist, dass Rodin sie ein Leben lang verehrt hat. Im Januar 1917 erkrankte der 76-jährige Meister in Meudon, südöstlich von Paris, und glaubte zu sterben. Er verlangte, seine Frau zu sehen. Man führte Rose Beuret zu ihm. Rodin murmelte: „Nein, nicht die, die andere, die aus Paris.“
*) Reine-Marie Paris: Camille Claudel. Gallimard, Paris (deutsch: S. Fischer, 9. Auflage 2007, übersetzt von Annette Lallemand)