Zwei Frauen kümmern sich um einen nackten Buben. Jene links mit düsterem Gesicht ist verschleiert und bietet dem Buben die Brust. Jene rechts lächelt, lockt den Buben mit einem Schmetterling und will ihm ebenfalls die Brust bieten. „Shakespeare als Kind zwischen Tragödie und Komödie“ – so der Titel der Malerei – ist mehrfach typisch für Füssli (1741-1825).
Mit dem sorgfältig ausgestaltete Sujet begibt sich der aus Zürich stammende, in London zu Erfolg gelangte Künstlern ins Zentrum der Welt des Theaters. Szenen aus Shakespeares Theaterstücken sind immer wieder Themen seiner Malereien. Doch hier macht er nicht eine konkrete Episode zum Bildgegenstand. Vielmehr reichert die Phantasie des höchst gebildeten und belesenen Künstlers das Thema an. Er greift ins Metaphorische aus und überführt die Beschreibung des doppelbödigen, von harten Gegensätzen geprägten Phänomens Shakespeares ins extrem Sinnliche. Zwei sich kreuzende Diagonalen laden die Komposition expressiv auf. Scharfes Scheinwerferlicht greift die Szene aus dem dunklen Raum und modelliert die nackte Haut.
Da herrscht Theatralik in hohem Masse. Theatralik prägt ganz generell das Werk Füsslis, und oft macht es den Anschein, als sitze der Maler im dunklen Zuschauerraum des Londoner Theatre Royal Drury Lane, wo just in seiner Zeit David Garrick und Hannah Pritchard als Macbeth und Lady Macbeth brillieren.
Blick auf die Quellen
Das Kunstmuseum Basel präsentiert auf in verschiedenen Galerietönen eingefärbten Wänden knapp 70 Werke Füsslis. Sie stammen aus eigenen Beständen, aus anderen Schweizer Museumssammlungen (Zürichs vor allem) und von Privaten. Sie sind aber auch ausländischer Provenienz und aus England, Deutschland, Australien, den USA. Damit gelingt es dem Haus, das Thema des Theatralischen in Füsslis Werk aufs Wesentliche konzentriert und zugleich umfassend darzustellen. Die Saaltexte informieren ausführlich über den inhaltlichen Hintergrund der einzelnen Gemälde, und der Katalog wartet nicht nur mit mehreren Aufsätzen zum literarischen Hintergrund der Werke auf, sondern zitiert – und das ist neu und besonders fesselnd – ausführlich die Quellen, von denen die Werke handeln. Die Ausstellung ist nicht chronologisch, sondern thematisch aufgebaut. Zu sehen sind Füsslis Arbeiten zur Literatur der Antike und des Mittelalters, zu neuzeitlicher Literatur (u. a. Friedrich de la Motte Fouqué, Walter Scott, Christoph Martin Wieland), zu Shakespeare und zu Milton. Den Schluss bilden Autorenbilder wie das eingangs erwähnte über Shakespeare sowie Bilder, in denen Füssli eigene inhaltliche Visionen schildert.
Theatralische Posen
Diese Abfolge der Gemälde erfährt in der Mitte einen Unterbruch. Zu sehen sind hier sich in sanftem Fluss über die Wände ziehende Videoprojektionen: Thom Luz, Hausregisseur des Theaters Basel, liess gemeinsam mit dem Videokünstler Jonas Alsleben Schauspielerinnen und Schauspieler jene theatralischen und oft höchst emotionsgeladenen Posen einnehmen, die wir auf Füsslis Bildern wiederfinden.
Tatsächlich zeigt sich die Theatralik der Werke vor allem im Erfindungsreichtum des Künstlers, was die Posen betrifft, mit denen Füsslis Figuren die Literatur von der Antike bis in die Neuzeit lebendig werden lassen. Der Blick ist häufig aus dem Zuschauerraum hinauf auf die Bühne gerichtet: Füssli zeigt die Figuren in Untersicht, angestrahlt von hellem Rampenlicht, mit überlangen Beinen, mit in die Höhe geworfenen Armen, mit wehendem Haar und mit angstvoll aufgerissenen Augen. Manche Posen wirken exzentrisch. Sie spiegeln aufgepeitschte Gefühle und hohes Pathos. Fahles Licht modelliert die Leiber der halbnackten Frauen und der muskulösen Männer und lässt sie immer wieder in höchst wirksamen Diagonal-Kompositionen gespenstisch aus dem Dunkel des Bühnenraumes aufleuchten.
Grenzenlose Phantasie
Anatomische Korrektheit ist die Sache Füsslis nicht, der sich sein Rüstzeug selber erarbeitete und tagelang in der Cappella Sistina in Rom Michelangelos ebenfalls dramatischen Umgang mit der menschlichen Figur studierte. Es geht um optischen Effekt, Leidenschaft und Dramatik, ebenso um ein karikierendes und komödiantisches Zugreifen auf mancherlei Details in den Gesichtern: Der Künstler lässt seine Figuren da verschmitzt lächeln, dort voller Gefühl schmachten, verzückt lieben oder leidend um Hilfe flehen. Seine Phantasie, sein höchst emotionaler Zugriff auf die Themen, aber auch seine virtuose Bildregie, was die Lichtführung oder das Ausmessen des Bildraumes mit Gesten und Blicken betrifft, scheinen keinerlei Grenzen zu kennen. Und er garniert seine Bilder mit allerlei oft witzigen und stets klug und mit Virtuosität gesetzten Details: Da eine winzig kleine Nebenfigur, dort ein tanzender Kobold, aus düsterer Maske starrende Feueraugen oder eine Glasvase, auf der goldene Lichter spielen.
Erstaunlich: In Füsslis Gemälden gibt es kaum Hinweise auf konkrete Lebensumstände oder auf die politisch-wirtschaftliche Wirklichkeit seiner unruhigen Zeit. Trotzdem sind sie von überraschender Direktheit. Von blassem Klassizismus mancher seiner Zeitgenossen ist nichts zu spüren, wohl aber sehr viel vom Stürmisch-Drängenden, das am Ende des 18. Jahrhunderts die Geister Europa ebenfalls prägte. Auch schwarze Romantik spricht aus dieser oft wilden und düsteren Geisterwelt.
Der Kunsthistoriker Bernhard von Waldkirche bringt es im Katalog der Zürcher Ausstellung von 2005 so auf den Punkt: „Heute überragt Füsslis Gestalt zusammen mit Goya, Piranesi und Blake all jene kultivierten Maler des europäischen Klassizismus, deren Namen nur noch aus den Kunstgeschichtsbüchern bekannt sind.“
Kurzbiographie
Füssli wird 1741 in Zürich geboren. Sein Vater Johann Caspar Füssli ist Künstler und Schriftsteller (u. a. ist er als „Schweizer Vasari“ Autor des fünfbändigen Werkes „Geschichte der besten Künstler der Schweiz“) und zählt zu den einflussreichen Zürcher Kreisen. Johann Heinrich begehrt auf, studiert Theologie, muss Zürich verlassen, weil er mit Lavater zusammen einen korrupten Landvogt entlarvt, geht nach Berlin, findet durch Beziehungen den Weg nach London und wird in die besten Kultur- und Künstler-Kreise eingeführt.
Nach schriftstellerischen Anfängen entscheidet er sich für die Malerei, zieht für ein paar Jahre nach Rom, studiert als Autodidakt die Antiken und die Künstler der Renaissance und reist 1778 nach Zürich. Erneut verlässt er die Stadt, geht wieder nach London, wo er bis zum Tod 1825 bleibt. Er wird erst Mitglied, dann Professor und schliesslich Keeper (Leiter) der Royal Academy, erregt mit Bildern wie „Der Nachtmahr“ Skandale, Ablehnung und Zustimmung, schafft zahlreich Gemälde zu literarischen Werken von Shakespeare, Milton und Wieland, die als Stiche in den Druckausgaben weite Verbreitung finden. Füssli gilt in England als „wilder Schweizer“, der mit Vorliebe die Regeln eines massvollen Klassizismus durchbricht. Die Schweiz schätzt Füssli erst seit den 1930er Jahren. Die Museen beginnen seine Werke zu sammeln. Es finden Ausstellungen statt – letztmals 2005 eine grosse Übersichtsschau im Kunsthaus Zürich, dessen Sammlung zahlreiche Hauptwerke Füsslis besitzt.
Kunstmuseum Basel. Kuratiert von Eva Reifert. Bis 10.02.2019. Publikation, ca.240 Seiten, mit Beiträgen verschiedener Autorinnen und Autoren. Zahlreiche Begleitveranstaltungen.