Anfangs Januar, im Verkehrsstau von Pune. Plötzlich sehe ich im Dunst der Abgase, zwischen dem starrenden Blech ringsum, eine lange Linie weissgekleideterer Körper, die sich am Rand der Strasse vorwärtsbewegen. Der Motorenlärm ist zu laut, um ihren Gesang zu hören, aber im Rhythmus mit ihren Schritten, den losen Hemden und weissen Dhotis bewegen sich auch ihre Lippen. Bauern, denke ich, und ich rätsele darüber, ob es wohl eine Protest-Demonstration ist. Gleich hinter Pune beginnt die Trockenregion von Marathwada, wo der Monsun im letzten Jahr einmal mehr ausgeblieben ist, wo Dürre herrscht und Hunger droht.
Noch zweimal sehe ich in den folgenden Tagen ähnliche Prozessionen, einmal auf der Autobahn nach Bombay, das andere Mal auf einer Landstrasse, mit Pferd und Reiter an der Spitze. Auch diese wirken undemonstrativ, friedlich, und ich bekomme Zweifel, dass es Protestmärsche sind. Zuhause in Awas erklärt mir dann Srinivas Bhagat, ein Bauunternehmer und Bekannter, dass die Fata Morgana im Abgasflimmern nichts mit Politik zu tun hatte. Es seien Varkharis auf dem Weg nach Alandi gewesen, dort werde heuer das grosse Fest von Dnyaneshwar gefeiert.
725. Jahrestag des Dnyaneshwari
Ich kannte den Begriff ‚Varkhari’; so heissen in Maharashtra die Pilger, die sich jedes Jahr zu Tausenden zum Tempel von Vitthoba in Palanpur aufmachen. Aber bei Dnyaneshwar musste ich passen, und von Alandi hatte ich noch nie gehört, ebenso wenig vom Jubiläum, das dort gefeiert wurde.
Ausgerechnet im Mumbai Mirror – so etwas wie der BILD-Zeitung der Stadt – las ich einige Tage später, dass das grosse Fest den 725. Jahrestag des Dnyaneshwari feierte. Und dieses war der klassische Urtext der Marathi-Kultur, benannt nach dem gleichnamigen Mystiker, der ihn – angeblich noch keine zwanzig Jahre alt - im Jahr 1291 herausgebracht hatte. Es ist kein Epos über Krieg und Frieden, sondern ein Kommentar zur Bhagavad Gita, einem Grundtext der indischen Philosophie. Wie dieser fragt er nach dem Sinn von Diesseits und Jenseits, von persönlichem Lebensweg und sozialen Pflichten, Geburt und Tod, von Recht und Gerechtigkeit, (Hungers-)Not und Überfluss – Krieg und Frieden.
9033 Strophen rezitiert
Von überallher in Maharashtra, so erklärte mir Srinivas, seien Gruppen von Varkharis unterwegs, um in Alandi, dem Geburtsort des mystischen Bhakti-Poeten, an einem sechstägigen Fest teilzunehmen. Dort würden im 24 Stunden-Rhythmus alle 9033 Strophen – Ovis – rezitiert, aus mehreren hunderttausend Kehlen, abwechselnd mit dem Gesang von 60'000 Singleuten, die das Rezitativ besonders berühmter Ovis in Melodien verwandeln.
Eine Familie in Alandi hat ihre Felder von insgesamt 20 Hektar Land planiert, Freiwillige aus dem ganzen Bundesstaat haben eine Zeltstadt aus Bambuspfählen errichtet, bereits zuvor waren aus zahlreichen Dörfern Spenden in Form von Weizen, Dal, und Öl eingetroffen. Srinivas erzählte, es sei zudem Brauch, dass Varkharis kostenfrei ihre professionellen Dienste anbieten – Barbiere schneiden Haar, Schuhmacher nageln Sandalensohlen (nach dem wochenlangen Pilgermarsch höchst willkommen), Köche wechseln sich ab in der Zubereitung der Speisen. Andere Freiwillige flicken Schlafmatten aus Schilfgras, Ärzte und Pflegepersonal unterhalten Erste-Hilfe-Stationen, Schüler verteilen Trinkwasser aus den Hunderten von herbeigeschafften Wassertanks.
Gemeinsame spirituelle Identität
Die Pilgerschaft umfasst alle drei Dinge – den wochenlangen Marsch in der brennenden Sonne, der Freiwilligendienst und das Rezitieren der Ovis. Aus diesem Ganzen formt sich das Bekenntnis zu einer Sinngemeinschaft, die über alle Grenzziehungen hinweg – zwischen Dorf und Stadt, Kasten und Religionen, Arm und Reich, zwischen alt, jung, männlich und weiblich – eine gemeinsame spirituelle Identität bekräftigt.
Diese deckt sich zudem mit einer kulturellen. Der Dnyaneshwari gilt als der klassische Text der Marathi-Sprache. Als erste Schrift hebt sie sich selbstbewusst ab vom Sanskrit der Bhagavad Gita. Sie spricht der Brahmanensprache damit implizit das Vorrecht ab, die einzig gültige sakrale Sprache aller Hindus zu sein. Auch die Sprache des Volkes kann sich religiös artikulieren, und so ist der Volksglaube gewissermassen der hinduistischen ‚Hochreligion’ ebenbürtig.
Sozialer Kitt
Dnyaneshwar steht in der Tradition des Bhakti-Kults. Ähnlich wie der islamische Sufismus und die christliche Mystik gesteht dieser dem Individuum, unabhängig von Stand und Bildung, von Geschlecht und Wohlstand, das Recht eines eigenen Zugangs zum Göttlichen zu. Es ist kein Zufall, dass die Bhakti-Bewegung gerade im ländlichen Indien so viel Zulauf erhielt, und dass sie sich bis heute gehalten hat.
So kommt es, dass Krishna im Bhakti-Kult von Maharashtra Vitthoba heisst, und dass der unscheinbare Vitthoba-Tempel in Pandharpur jedes Jahr zum Ziel von Millionen von Pilgern wird. Dabei war die historische Person Vitthoba selbst nicht mehr als ein Vakhari gewesen, ein glühender Anhänger Krishnas. Es war diese Hingabe an den flötenspielenden Kuhhirten, die ihn quasi in eine Inkarnation Krishnas verwandelt hat. Vitthobas soziale Herkunft aus einer tiefen Kaste gab dem Kult um Krishna damit auch einen sozialen Kitt und die bis heute andauernde Anziehungskraft.
Emblematisches Bild
Ähnlich wie Vitthoba Krishna verehrte und zu dessen Inkarnation mutierte, war Dnyaneshwar ein Verehrer Vitthobas und verwandelte sich im Lauf der Jahrhunderte zu dessen Wiederverkörperung. Srinivas erzählte mir, dass er jedes Jahr mit einer Gruppe von Varkharis nach Pandarpur und dann nach Alandi pilgere, um zuerst von Vitthoba und dann von Dnyaneshwar Darshan, den Segen, einzuholen. Als ich Sagar, unseren Gärtner, aufs Geratewohl darauf ansprach, erschrak ich fast, als er sofort sagte: Ja, natürlich kenne er Dnyaneshwar. Auch sein Vater sei ein Varkhari, und im Nachbardorf Sasawne gebe es einen Dnyaneshwar-Tempel, wo sich dieser regelmässig mit anderen Dorfleuten treffe, um Ovis aus dem Dnyaneshwari zu rezitieren.
Auch das ist Indien, und lässt einen (nach dem Einatmen von soviel physischen und ideologischen Abgasen) wieder aufatmen. Das Bild in Pune – die weissgekleideten Bauern im Verkehrslärm der Grossstadt – wurde im Nachhinein zu einem emblematischen: Unbekümmert um die Giftschwaden, um die glitzernden IT-Glastürme im Weichgebiet einer Dürrekatastrophe, liefen diese hartgesottenen Bauern unbeirrt ihren Weg, sangen und trommelten, obwohl sie sich im Lärm kaum hörten.
Festhalten an Werten, die über die Religiosität hinausgehen
Sie verstanden auch die alten Marathi-Reime wohl nur bruchstückhaft. Aber die ruhige Selbstverständlichkeit ihrer Prozession verriet, dass sie sich immer noch als Teil einer mächtigen Stroms sahen, dessen spirituelle Grundströmung stärker schien als der stockende Verkehr der Millionenstadt.
Das Gegensatzpaar Modernität/Tradition beschreibt diese Strömungen nur schlecht. Hinter dem archaischen Rhythmus der Pilgerfüsse stand nämlich nicht nur ein alter Volksglaube, sondern auch eine komplexe Computer-Logistik. Jede der mehreren tausend Varkhari-Gruppen hat eine Nummer, erklärte mir Freund Srinivas, jede wurde zu einem präzisen Zeitpunkt auf die Pilgerreise geschickt, jede wurde an bestimmten Punkten des Tagesmarschs in einem vorgewählten Ort von Dorfleuten erwartet und (gratis) verpflegt, jede wusste, in welchem Zelt an welcher Zeltstrasse in Alandi sie schliesslich unterkommen würde.
Es ist gerade die Verweigerung der simplistischen Dichotomie modern/traditionell, welche die Vitalität dieses Volksglaubens miterklärt. Sie beinhaltet nicht in erster Linie die Verweigerung des Modernen, sondern das Festhalten an Werten, die weit über Religiosität hinausgehen – soziale Inklusion, Solidarität in Zeiten wirtschaftlicher Not, kulturelle Identitätsfindung in einer Sprache, die weder klassen- noch kastenspezifisch ist. Wo sonst findet man noch Dorftempel, die einem Sprachgenie aus dem 13. Jahrhundert geweiht sind?