Was im Irak gelang, soll nun auch in Saudi-Arabien gelingen. Der „Islamische Staat“ hetzt die beiden Religionsgemeinschaften gegeneinander auf und bereitet so das Terrain einer IS-Machtübernahme vor.
Der Bürgerkrieg zwischen irakischen Schiiten und Sunniten machte die Erfolge des „Islamischen Staats“ erst möglich. Schon Abu Musab al-Zarqawi, der Vorgänger des heutigen „Kalifen“, arbeitete seit 2005 mit blutigen Methoden systematisch darauf hin, den Irak für die amerikanischen Besetzer unregierbar zu machen. Gleichzeitig ging es ihm, dem radikalsten aller sunnitischen Führer, darum, die Macht der Sunniten zu stärken.
Gespaltenes Land
Durch diese Spaltung in zwei einander bekämpfende Religionsgemeinschaften wurde das Terrain geschaffen, auf dem der IS prosperieren konnte. Die Methode war letztlich: divide et impera.
Vertieft wurde der Graben zwischen den Religionsgemeinschaften durch eine lange Reihe von sunnitischen Anschlägen auf schiitische Moscheen, Wohnquartiere, schiitische Pilger und Märkte. Das führte zu schiitischen Racheaktionen und dazu, dass das ganze Land heute in verfeindete sunnitische und schiitische Landesteile gespalten ist. Beide Seiten hatten und haben guten Grund, einander zu fürchten und einander zu hassen. In diesem Klima konnte die radikalste und rücksichtsloseste der sunnitischen Gruppen eine Führungsposition innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft einnehmen.
Anders als im Irak
Analog zu dieser Entwicklung im Irak verübt nun der IS auch in Saudi-Arabien Mordanschläge auf die schiitische Gemeinschaft. Doch die Ausgangslage in Saudi-Arabien ist anders als im Irak. Dort, im Irak, bildeten die Schiiten eine numerische Mehrheit. Dank der amerikanischen Politik war sie im Begriff, zur politischen Führungsmacht aufzusteigen, was sie bisher während Jahrhunderten nicht gewesen war. Dies, weil die Amerikaner echte Wahlen durchzuführen gedachten.
In Saudi-Arabien hingegen bilden die Schiiten eine kleine Minderheit von vielleicht 10 bis höchstens 15 Prozent der Bevölkerung von 22
Millionen, Fremdarbeiter nicht mitgerechnet. Die saudischen Schiiten leben in der Ostprovinz am Ufer des Persischen Golfes, den die Araber
den Arabischen Golf nennen. Dies ist auch die wichtigste Erdölprovinz des Königreiches.
Diskriminierte Schiiten
Die saudischen Schiiten beklagen sich seit langer Zeit, sie würden von den saudischen Behörden diskriminiert. Sie sind auch der Meinung, sie würden an der freien Ausübung ihrer islamischen Religionsvariante behindert.
Besonders an den jährlichen Trauertagen um den Protomärtyrer des Schiismus, den Prophetenenkel al-Hussein, kommt es immer wieder zu Zusammenstössen mit der Polizei des Königreiches. Diese Trauertage gehören zu den höchsten Feiertagen ihres Religionszweiges. Eigentlich hätten die Schiiten ein Recht darauf, ihre Trauerzeremonien innerhalb ihrer eigenen Siedlungen "einigermassen diskret" zu begehen.
Takfir gegen Schiiten
Innerhalb der in Saudi-Arabien vorherrschenden sunnitischen
Glaubensrichtung der "Wahhabiten" gibt es Gottesgelehrte, die der
Meinung sind, die Schiiten seien als "Ungläubige" einzustufen. In der
Fachsprache: Sie üben Takfir an ihnen, was man übersetzen könnte mit: sie "verketzern" sie. Der „Islamische Staat“ spricht auch von Takfir, wenn er die Verfolgung jener Muslime zu begründen versucht, die ihm nicht Gefolgschaft leisten.
Die politischen Spannungen zwischen Saudi-Arabien und Iran, die seit
Khomeini vor 35 Jahren begonnen haben, trugen natürlich weiter zu den Gegensätzen bei, die zwischen den Sunniten des Königreiches und seiner schiitischen Minderheit bestehen. Diese Spannung haben sich in den jüngsten Jahren, seitdem sich die politische Macht im Irak durch die amerikanische Invasion von den Sunniten zu den Schiiten verschoben hat, zu einem Vormachtsringen zwischen Saudi-Arabien und Iran verschärft.
"Versteckte Anhänger des iranischen Feindes"
Die saudischen Schiiten sind dadurch betroffen. Ihre periodischen Versuche, volle Gleichberechtigung mit ihren sunnitischen Mitbürgern und volle Freiheit für ihre Religionsausübung einzufordern, werden immer wieder niedergeschlagen. Neuerdings werden sie gar angeklagt, sie seien versteckte Anhänger des iranischen Landesfeindes.
Gegenwärtig befindet sich einer ihrer bekanntesten Ayatollahs, Nimr Baqir an-Nimr, der vor allem bei der Jugend beliebt sein soll, im Gefängnis in Riad. Er wurde 2012 mit 32 seiner Gefolgsleuten festgenommen und zum Tode verurteilt - "wegen des Aufrufs zu fremder Intervention, Ungehorsam gegenüber dem Landesherren und bewaffneten Widerstands gegen die Polizei." Seine Anhänger sagen, er sei gefoltert worden und durch einen Hungerstreik geschwächt. Sollte das Urteil vollstreckt werden, ist mit einer grossen Protestwelle in der Ostprovinz zu rechnen – ein Protest, der dann vermutlich blutig niedergeschlagen wird. Auch zahlreiche andere Schiiten befinden sich in saudischen Gefängnissen.
Anschlag auf Moschee
Der „Islamische Staat“ hat erstmals im November gegen die saudischen Schiiten zugeschlagen. Damals schoss eine Gruppe von Bewaffneten acht Schiiten - unter ihnen auch Kinder - nieder. Die saudischen Behörden erklärten damals, bei den Tätern handle es sich um IS-Aktivisten.
Vor wenigen Tagen, am 22. Mai, hat ein Selbstmordattentäter während des Freitagsgebets einen Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in einer Vorstadt von Qatif (siehe Karte unten) verübt. 21 Menschen wurden in den Tod gerissen, 101 Gläubige wurden verwundet. Der IS übernahm die Verantwortung für den Anschlag. Zwei Tage später, am 24. Mai, erklärte das saudische Aussenministerium, der Täter gehöre zu einer IS-Zelle von 26 Personen; ihre Mitglieder seien festgenommen worden. Acht IS-Aktivisten der gleichen Zelle seien auch für den Mord eines Polizisten verantwortlich. Er wurde im Oktober erschossen, seine Leiche wurde verbrannt. Kurz zuvor hatte das Innenministerium gemeldet, eine Zelle von 90 IS-Mitgliedern sei ausgehoben und ihre Aktivisten verhaftet worden.
"Auf uns macht man permanent Jagd"
Glaubt der IS, die saudischen Schiiten würden sich wegen der IS-Anschläge gegen die saudischen Sunniten erheben? Auf den ersten Anblick scheint dies unlogisch. Der IS ist schliesslich ein bitterer Feind des saudischen Staates und wird durch die Anschläge auch zum Todfeind der saudischen Schiiten.
Doch die Reaktionen auf den Selbstmordanschlag in Qatif zeigen, dass die Rechnung des IS dennoch aufgehen könnte. Zehntausende von Schiiten demonstrierten. Doch ihr Protest richtete sich nicht primär gegen die Täter des IS, sondern gegen ihre Behandlung durch die Sunniten des saudischen Staates. Ihre Diskriminierung müsse aufhören, hiess es in ersten Reaktionen. Das saudische Etablissement, Herrscher und Geistliche, müssten lernen, die saudischen Schiiten als Vollbürger des Königreichs zu behandeln. Dies sei nicht der Fall. In den Schulbüchern lernten die Kinder, sie seien "Ungläubige". In den Predigten vieler Gottesgelehrter werde dies bestätigt. Man übe Takfir gegen sie. Entsprechend schlecht sei ihr materielles Los, und natürlich würden die saudischen Behörden sie auch nicht vor IS-Anschlägen schützen. Für ein paar Tage würde nun auf die Terroristen des IS Jagd gemacht werden, "aber auf uns macht man permanent Jagd", merkte ein Gesprächspartner an. All das zeigt: Für die saudischen Schiiten wiegt zunächst die permanente Diskriminierung schwerer als die Morde des IS.
Der IS kultiviert den Hass
Für den „Islamischen Staat“ geht es vor allem darum, die bestehenden Gräben zwischen den saudischen Herrschern und den Schiiten soweit zu vertiefen, dass sie unüberbrückbar werden und dass beide
Seiten einander bekämpfen. „Wenn wir dies erreichen, öffnet sich für uns der Weg nach Mekka“, sagen sich die IS-Verantwortlichen.
Um dieser Gefahr zu begegnen, müsste der saudische König, Slaman Ibn Abdul Aziz, dafür sorgen, dass der Graben zwischen seinen sunnitischen und schiitischen Untertanen beseitigt wird. Ein erster Schritt wäre gewiss die Begnadigung des zum Tode verurteilten Ayatollah an-Nimr. Doch ob der König in der Lage ist, die engen Islamauslegungen der wahhabitischen Glaubenslehre, auf welcher des Königreich ruht, soweit zu überwinden, dass er volle Toleranz für seine schiitische Minderheit erreicht, ist sehr fraglich.
Seine immer noch andauernde Bombardierung der Huthis in Jemen spricht nicht dafür. Saudi-Arabien kämpft gegen die als Schiiten eingestuften Zaiditen der jemenitischen Huthi-Bewegung. Diese drohen, ganz Jemen endgültig zugrunde zu richten.