Es sollte der Schlusspunkt eines Saubannerzugs sein, mit dem der BJP-Nationalistenführer L.K.Advani die Hindus gegen das muslimfreundliche "Appeasement" der Kongressregierung mobilisiert hatte. Wir hatten alle öfter darüber berichtet und viele zogen es vor, zu Hause zu bleiben. Einige dagegen machten im Klub nur kurz Station und nahmen denn den Nachtzug nach Ayodhya. Im letzten Moment, wahrscheinlich unter dem Einfluss des Alkohols, beschloss ich, mitzufahren.
Es sollte meine Feuertaufe als Journalist werden. Der 6. Dezember, ein Sonntag, begann – mit Ausschlafen. Mein Le Monde-Kollege Bruno Philippe und ich hatten uns wegen Platznot im Hotel ein Bett geteilt. Moskitos hatten uns den Schlaf geraubt, und alle paar Minuten wurde ich aufgeschreckt, weil mein Bettnachbar mit einem lauten Klaps und einem Fluch (Putain!) mich wissen liess, dass er wieder gestochen worden war. Wir wachten erst kurz vor Mittag auf, und als wir bei der Moschee im Zentrum der Stadt ankamen, drängten sich dort bereits mehrere tausend Hindu-"Pilger", und die Luft war gefüllt mit Rufen von "Jay Jiya Ram".
“Haut noch einen drauf“
Immer noch liefen Mengen von orangegekleideten Aktivisten dichtgedrängt aus den Seitenstrassen auf den planierten Platz vor der Moschee-Einzäunung. Gruppen in Stirnbändern kreisten uns Journalisten ein, einige rissen uns die Kameras aus den Händen, warfen Steine auf uns. Andere liefen auf den hohen Dreimeterzaun zu und begannen hinaufzuklettern. Dahinter stand eine Kompanie Reservepolizei, die plötzlich rechtsumkehrt machte und in Einerkolonne abzog. Bald erschienen auf der Kuppel die ersten Ram-Verehrer. Sie steckten einen Dreizack und eine orange Flagge auf und schlugen mit ihren Pickeln auf das Zementdach ein. Hinter uns erhob sich ein holzgezimmerter Hochsitz, auf dem L.K. Advani regungslos zuschaute, während zwei BJP-Politikerinnen begeistert schrien "Ek Dhakka or do" – "Haut noch einen drauf!".
Etwas nach vier Uhr ging ein Schrei durch die Stadt – die erste Kuppel war eingebrochen. Bei Nachteinbruch war die Moschee, die 1528 vom Mogulgeneral Babar gebaut worden war, nur noch ein Trümmerhaufen. Am anderen Morgen wurde das ganze Areal abgeriegelt, aber erst, nachdem ein Zeltdach mit Bambusstangen errichtet und eine Statue Rams platziert und eingeweiht wurde, genau am Ort, wo dieser – angeblich vor 800‘000 Jahren – geboren wurde.
“Viele Tempel, keine Jobs“
So sieht es heute noch aus: ein Geröllfeld und in dessen Mitte ein Tempel-Provisorium. Das Land gehört immer noch einem islamischen Trust, der sich weigert, es den Hindus auszuliefern. In einem Lager am Stadtrand stapeln sich Hunderte von Säulen, Friesen, Kapitellen, alle blumig ziseliert. Sie warten darauf, für den Bau eines mächtigen Ram-Tempels eingesetzt zu werden. Ayodhya ist wieder eine schläfrige Pilgerstadt geworden, und Devotionalienhandel scheint die einzige Tätigkeit zu sein. Eine Zeitung zitierte einen jungen Einwohner: „Viele Tempel, keine Jobs“.
Die "Befreiung" des göttlichen Geburtsorts aus seiner "Gefangenschaft" ist einem zwanzigjährigen Stillstand gewichen. Viele junge Inder müssen heute wohl zuerst einmal googeln, wenn sie Ayodhya hören. Für die Hindu-Organisationen, von der BJP bis zu den Schlägertrupps der "Bajrang Dal", bleibt der Tempelbau ein zentrales Anliegen – auf dem Papier. Die BJP hat ihr damaliges Ziel, mit einer antimuslimischen Kampagne die Hindu-Mehrheit hinter sich zu scharen, halb erreicht. Fünf Jahre nach dem Sturm auf die Babar-Moschee war sie zur grössten Parlamentspartei angewachsen und stellte erstmals die Regierung. Doch sie konnte die 85 Prozent-Mehrheit der Hindubevölkerung nie in eine einfache Parlamentsmehrheit umsetzen. Ihre Abhängigkeit von Regional- und Kastenparteien zwingt sie, ihr radikales Programm immer mehr zu verwässern. Der Bau eines Ram-Tempels scheint weiter entfernt denn je zu sein.
Terror und Gegen-Terror
Hat sich damit die Strategie des Polit-Establishments – Gras darüber wachsen lassen! – bewährt? Nein. Dem Zerstörungswerk vom 6.Dezember 1992 folgten in ganz Indien schwere Zusammenstösse. In Bombay kam es in drei Wellen schwerer Unruhen mit über 1150 Toten. Die erste folgte der Zerstörung der Babar-Moschee mit Vandalenakten erregter Muslime. Einen Monat später reagierte die chauvinistische Shiv Sena-Partei mit sorgfältig geplanten Pogromen in muslimischen Slumkolonien. Und am 12. März 1993 explodierten in der Stadt gleichzeitig dreizehn Bomben, die insgesamt 250 Menschen das Leben kosteten. Sie waren das Werk von Dawood Ibrahim, einem ehemaligen Schmuggler, der zum Terroristen geworden war.
Dann geschah zehn Jahre lang nichts – der gegenseitige Hass schien sich erschöpft zu haben. Doch dann, am 27. März 2002, hielt ein Pilgerzug aus Ayodhya etwas ausserhalb der Station von Godhra in Gujerat an, und ein Wagen brannte vollständig aus. Die BJP-Regierung des Bundesstaats sah darin das Werk von Muslimen, und es folgte ein weiteres Blutbad, das wiederum angeblich rund 3000 Opfer forderte, eine grosse Mehrheit von ihnen Muslime. Und seitdem wird Indien regelmässig von Terrorakten heimgesucht, die meisten vom islamischen Untergrund verursacht. Im November 2008 wurde Bombay während drei voller Tage terrorisiert. Eine immer grössere Anzahl von Anschlägen wird auch von Hindu-Gruppen verübt.
Chancenlose Muslime
Die Analyse ihrer Hintergründe legt ein Bild frei, das noch verstörender ist als die wachsende Zahl der Gewaltakte. Eine der Grundfesten des indischen Staats, der Säkularismus, scheint erschüttert. Die Verfassung garantiert „den Respekt aller Religionen“. Doch die muslimische Gemeinschaft (rund 14 % der Bevölkerung, 170 Millionen Bürger) trägt immer deutlicher die Züge einer diskriminierten Minderheit. Ihre Bürgerrechte sind intakt, aber ihre Einbindung in Staat und Gesellschaft wird immer schwächer. Nur 5 Prozent der Parlamentarier sind Muslime, weniger als 3 Prozent dienen in der Armee oder in der Polizei. Eine umfassende offizielle Studie hat gezeigt, dass die Muslime in wichtigen sozio-ökonomischen Indikatoren – Gesundheit, Schulbildung, Pro-Kopf-Einkommen – an unterster Stelle rangieren, noch hinter den Dalits und den Ureinwohnern.
In den Städten haben sich Ghettos gebildet. Ein Muslim in Bombay hat heute Mühe, in einem Mehrfamilienhaus eine Wohnung zu finden. Auch jedes Slum ist ethnisch getrennt, und für muslimische Migranten haben sich in den letzten zwanzig Jahren Inseln gebildet, etwa jene von Mumbra im Norden Bombays, das von 41‘000 auf 800‘000 Einwohner gewachsen ist, 80 % davon Muslime. Bei Stellenbewerbungen ist die Chance gross, dass bei gleichen Voraussetzungen der muslimische Kandidat durchfällt. Kommt es zu Verhaftungen, liegt es am Muslim, seine Unschuld zu beweisen; nach jedem Terrorakt werden zahlreiche Muslime verhaftet, und sie verschwinden oft jahrelang in U-Haft, bevor sie ohne Anklage freigelassen werden. Es sind günstige Voraussetzungen für eine gewaltorientierte Radikalisierung. Der Politiker L.K. Advani hatte 2002 als Innenminister noch stolz verkündet, auf den internationalen Terrror-Suchbefehlen finde sich kein einziger Name eines indischen Muslimen – es gebe keine. Er muss sich vorwerfen lassen, mit der Ayodhya-Kampagne vor zwanzig Jahren für das Gegenteil gesorgt zu haben.