Die Lage in Syrien scheint zu stagnieren, im internationalen und im nationalen Bereich. Die internationale Diplomatie ist blockiert durch das russische und chinesische Veto. Die "Freunde Syriens" kritisieren dies, doch sind sie möglicherweise nicht unglücklich darüber, dass es ihnen Grund oder Vorwand gibt, eigene Eingriffe zu vermeiden.
Im Inneren geht der Krieg weiter. Ein Ende ist nicht abzusehen, weil die ungleichen Gegner einander schädigen, aber nicht überwinden können. Beide geben sich immer noch siegesgewiss und glauben wohl auch noch an ihren Endsieg.
Armee gegen bewegliche "Banden"
Das Assad-Regime verfügt über eine weiterhin schwerbewaffnete und immer noch einsetzbare reguläre Armee. Die Aufständischen besitzen weiterhin viel Resonanz in der grossen Mehrheit der Bevölkerung. Die Armee mit ihren überlegenen Waffen kann zuschlagen wo sie will, aber sie ist nicht in der Lage, überall gleichzeitig zuzuschlagen.
Ihre Gegner haben sich bis heute als fähig erwiesen, überall dort Macht auszuüben, wo die Armee nicht zuschlägt. Doch sie waren bisher nicht in der Lage, im offenen Land oder in seinen umkämpften Städten Zonen zu schaffen, die sie dauerhaft gegen die Armee zu halten vermögen. Sie sind gezwungen, jedes mal auszuweichen, wenn die Armee ihre schweren Waffen einsetzt, um ihnen ihre vorübergehenden Herrschaftsgebiete wieder zu entreissen.
Es wird lange dauern
Beide Seiten beginnen zu erkennen, dass sie den von ihnen sicher erwarteten Endsieg sobald nicht erreichen werden. Baschar al-Assad hat kürzlich in einer Fernsehrede zugegeben, dass seine Sicherheitstruppen "mehr Zeit benötigen". Eine Aussage, die bei allen Beobachtern, Freunden und Feinden, mehr Aufmerksamkeit fand, als die übliche Rhetorik über die "vom Ausland ermutigten Banden".
Die aufständischen Kämpfer haben erkannt, dass eine Intervention aus dem Ausland im Stile der libyschen, nicht stattfinden wird. Ihnen bleibt daher nur die Hoffnung auf wirksamere Waffen aus den Grenzländern. Aber bis sie der Regierungsarmee tatsächlich die Stirn bieten können, wird es, wie sie selber wissen, noch lange dauern. Das gilt selbst dann, wenn die Saudis und die Herrscher der Golfstaaten fortfahren, zu ihren Gunsten tief in die Taschen zu greifen.
Von aussen gesehen: Routine
Die scheinbare Stagnation hat auch dazu geführt, dass die internationale Presse beginnt, sich von Syrien abzuwenden. Es gibt nichts wirklich Neues zu berichten. Stets nur die gleiche Routine der täglichen Todesopfer und der fast täglichen Bomben. Dazu immer noch die gleiche Unsicherheit darüber, welche der unkontrollierbaren Informationen wohl wirklich zutreffen und welche nicht. Wer weiss schon, was blosse Propaganda ist?
Das Leiden der Syrer nimmt zu
Der Stillstand ist jedoch insofern dynamisch, als es eine Dimension der Kämpfe gibt, die beständig und reissend zunimmt: jene des Leidens der zivilen Bevölkerung. Dies eskaliert aus zwei Gründen: Die Kämpfe spielen sich immer mehr im Rahmen der dicht besiedelten Städte und Vorstädte ab, und weil es nun auch um die zentralen Städte geht, hat sich die Regierung entschlossen, das ganze Arsenal ihrer Waffen einzusetzen, einschliesslich der Luftwaffe. Nur ihr Giftgas hält sie zurück.
Dies bedeutet, dass ganze Stadtquartiere zerstört werden. Die Bevölkerung flieht oder kommt in den Ruinen ums Leben. Die Kämpfer weichen aus und konnten bisher immer wieder zurückkehren, wenn die Armee ihre Aufmerksamkeit einem neuen Unruheherd zuwandte. Die Zahl der Flüchtlinge im Ausland nimmt schnell zu. Die Türkei und Jordanien deuten an, dass sie des Stroms nicht mehr Herr werden und internationale Hilfe benötigen.
Mehr und mehr Heimatlose
Im Inneren soll es gegen 2 Millionen Heimatlose geben. Genaue Zahlen gibt es nicht. Viele Vertriebene finden zunächst bei Verwandten in etwas sichereren Gebieten Unterschlupf. Doch diese Gebiete können auch in Mitleidenschaft gezogen werden. Denn die Aufständischen unterwandern sie. Die Armee sucht um jeden Preis zu verhindern, dass sie sich dauerhaft festsetzen. Sie schlägt daher früher oder später auf die "befreiten" Stadtviertel oder Ortschaften ein und zerstört sie.
In den inneren Städten von Damaskus und Aleppo versucht sie, in Strassenkämpfen der bewaffneten Aufständischen Herr zu werden. In kleineren Ortschaften oder in Aussenquartieren der Grossstädte geht sie mit Artillerie, Helikopterbeschuss und Bomben vor. Dort stehen keine oder nur unbedeutende Regierungszentren, die ihrer eigenen Machterhaltung dienen, auf dem Spiel, und die Bevölkerung ist überwiegend regierungsfeindlich. Deshalb glauben die Schergen des Regimes, auch sie verdiene "bestraft" zu werden.
Rachefeldzug gegen die Jugendlichen
Die Regierungsschergen behandeln alle jüngeren Männer in den Quartieren, die sie von den Widerstandskämpfern zurückerobern, als Feinde. Sie lassen die Regierungsmilizen auf die Wohnungen los, die durchsucht und geplündert werden. Die jungen Männer werden erschossen oder abgeführt. Den verbliebenen Frauen und Kindern wird unter Todesandrohung befohlen, ihre Haustüren nicht zu verschliessen, so dass die Regierungsmilizen jederzeit Zutritt haben. Die Frauen fürchten Vergewaltigungen.
Viele entschliessen sich zur Flucht. Immer mehr Flüchtlinge gibt es, die keine Verwandten haben, bei denen sie Unterschlupf finden. Manche verbringen Wochen im Freien, bevor sie Notunterkünfte finden. Der Winter, der eisigen Regen und Schneefälle bringen wird, rückt rasch näher. Die Hälfte all der Obdachlosen sind kleine Kinder.
Die Statistik verhüllt die Realität
Die blossen Zahlen der humanitären Statistik genügen nicht, um einen Begriff dessen zu vermitteln, wie gross die Leiden den Zivilbevölkerung sind. Man ermisst dies eher, wenn man die Schicksale der einzelnen Menschen ins Auge fasst. Die Briefe der Syrerin Joumana Maaruf, vermutlich ein Pseudonym, bieten Einblicke in die konkreten Einzelschicksale.
Ingace Leverrier, ein französischer Diplomat und Arabist, der Frankreich in drei arabischen Ländern gedient hat, hat die Briefe der Syrerin Joumana Maaruf ins Internet gestellt. Sie schildert darin die Menschen ihrer Umgebung, was sie selbst sieht und was sie vernimmt, herzzerreissend, Leid über Leid. Eine Tiefendimension tut sich auf, die man sträflich übergeht, wenn man blosse Zahlen anführt. Es wird überdeutlich: Die Strategie von Assad geht darauf aus, der Zivilbevölkerung soviel Leid anzutun, dass sie es aufgibt, die Bewaffneten zu unterstützen und selbst auf Befreiung zu hoffen. Ihr soll klar gemacht werden, dass bei diesem Regime kein Entkommen gibt, nur Qual auf Qual, bis alle sich ducken.
Kehrt die Furcht zurück?
Zu Beginn der Erhebung war zu vernehmen: die Bevölkerung habe die Furcht vor dem Repressionsapparat des Regimes verloren. Doch nun gibt es doch wieder Stimmen, die sagen: "Die Furcht greift um sich - ich fürchte mich vor dem, was bevorsteht !" Es gibt sogar solche, die fragen: "Ist denn das Ziel der Opfer wert?“ - umso mehr, als das Ziel immer schwieriger zu erreichen scheint und immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert, je brutaler auch die Gegenseite der bewaffneten Aufständischen auftritt und zugreift.
Das wirkliche Leben der Syrer
Die Briefe der Joumana Maarouf muss man unbedingt lesen, wenn man durch das Dickicht der propagandistisch gefärbten Informationen von beiden Seiten zur syrischen Realität vordringen will. Die Briefschreiberin unterrichtet in einer Schule des Stadtteils, in dem überwiegend Familien von Offizieren und Sicherheitsoffizieren leben.
Sie selbst wohnt an der Grenze eines von Alawiten bewohnten Viertels, das an ein sunnitisches angrenzt. Sie sympathisiert mit den Demonstranten und hat auch selbst bei ihnen mitgemacht. Doch sie ist darauf angewiesen, weiter ihr tägliches Brot für sich und ihre Kinder an der Regierungsschule zu verdienen und gezwungen zu schweigen, wenn dort die Parteigänger des Staates ihre Orthodoxie proklamieren.
Schweigen im Lehrerzimmer
Sie schildert die Stimmung im Lehrerzimmer, wo Schweigen geboten ist, wenn einer der unbedingten Parteigänger Assads, in einem Fall trägt er den Titel eines Instruktors für nationale Erziehung, zum rhetorischen Rundschlag antritt. Er schreit, die 23 Millionen Syrier seinen zu viele, wenn 12 davon umgebracht würden, gäbe es immer noch genügend von ihnen.
Und er erklärt, er habe Lust, sich einen Sprengstoffgürtel anzulegen und sich damit mitten unter die Demonstranten zu begeben. Dann stürmt er hinaus. Seine Kolleginnen und Kollegen schauen einander schweigend ins Gesicht. Manche halten sich die Hand vor den Mund. "Sie wissen," sagt die Briefschreiberin,"dass sie zu den 12 Millionen gehören."
Gehört und gesehen
Joumana erzählt viel von dem, was man ihr erzählt. Hier nur ein paar kleine Ausschnitte: Ein 16 Jähriger mit einer Maschinenpistole beschliesst, eine der Strassen mit brennenden Autoreifen zu sperren. Kein Verkehr geht mehr durch, die Autos stauen sich - stundenlang. Dann beschliesst der Junge, mit seiner Waffe wegzugehen. Die Autofahrer steigen aus, um die Reifen zu entfernen.
Einer erzählt: Ich kenne den Jungen, er gehört zu einer Gruppe von Halbwüchsigen, die von Beginn an demonstrierten. Sie wurden von den Geheimdienstlern des Luftwaffengeheimdienstes gefangen und alle mehrmals vergewaltigt. Nachher kamen sie wieder frei.
Die Unberechenbarkeit der Korruption
Die Korruption spielt in der täglichen Realität eine grosse Rolle. Abou al-Assad hat ein Büro an einer der Hauptstrassen. Es ist mit Bildern von Baschar al-Assad und seinem Bruder Maher verziert. Drinn sitzen er und einige Freunde und trinken Tee. Die Frauen des Quartiers wissen, was dort geschieht. Abou al-Assad erhält jede Woche 500 000 Lira von Maher, um 250 junge Leute anzuheuern, deren Aufgabe ist, bei den Demonstrationen mitzugehen und Assad hochleben zu lassen, sobald die Demonstranten nach seinem Rücktritt rufen. Wenn es dabei Streit gibt, umso besser!
Doch, so wollen die Frauen wissen, Abou al-Assad stellt nur 50 Jugendliche ein; den Rest des Geldes behält er für sich.
Heldinnen
Es gibt auch Heldinnen, wie die betagte und immer noch aktive Hebamme, die man die Mutter der Revolution nennt. Sie hat sich ihr Handwerk als junge Frau selbst beigebracht hat. Sie hatte ein Notspital für verwundete Demonstranten eingerichtet. Sie wurde gefangen genommen und blieb zwei Monate lang im Gefängnis. Im Verhör drohte der Offizier, er werde sie schlagen. Sie sagte ihm: "Ich bin älter als Deine Mutter. Du kannst sehen, ich habe Diabetes und Herzbeschwerden. Wenn Du mich umbringst, bin ich froh, denn ich werde zur Märtyrerin und verdiene das Paradies".
Ich der Offizier "fand mich unwürdig des Paradieses. Er liess mich nach zwei Monaten frei. Die gefangenen Frauen nannten mich ihre Mutter. Es gab viele aus allen Provinzen Syriens. Sie kamen und gingen." Nun ist die Mutter der Revolution wieder frei. Sie bringt immer noch viele Kinder zur Welt. "Um jene zu ersetzen, die gestorben sind".
Nicht alle sind Helden
Eine Mutter erzählt: mein Sohn erschien im Fernsehen, er erklärte dort, er sei der Anführer einer Bande, die Geld aus Qatar erhalte. Er habe dieses Geld an seine Bandenmitglieder verteilt. Er gab eine Reihe von Namen an. Dies seien die Mitglieder seiner Bande. Kurz darauf kommt er zuhause an. Die Eltern und die Geschwister fragen: "Du bist also ein Bandenanführer? und sie haben dich laufen lassen?" Er setzt sich hin und erzählt. Die Sicherheitsleute haben ihn vier Wochen lang im Gefängnis gelassen. Ohne Verhör. Einzelhaft. Man hörte nächtelang die Gefolterten schreien.
Schliesslich das Verhör. Der Offizier sagte:"Du kannst wählen, entweder das Internet oder das Fernsehen. "Internet“ heisst, die Bilder der Toten erscheinen im Internet, um die Familie zu informieren. "Ich wählte das Fernsehen. Sie haben mich duschen lassen zum ersten Mal seit vier Wochen und mir die Haare geschnitten und meinen struppigen Bart. Das war wie der schönste Tag meines Lebens. Dann sagten sie: Du kommst vor die Kamera und hast nichts zu tun als abzulesen, was vor Dir erscheint." Ich las ab: 'Ich war der Chef einer Bande, erhielt Geld aus Qatar '.. eine Reihe von Namen erschien, die ich auch lesen musste: die Bandenmitglieder. Ich kannte die Namen nicht und es war mir egal, sie zu lesen. Doch dann kam Abu Amr, mein bester Jugendfreund, von dem ich auch noch wusste, dass er krank war. Ich konnte ihn nicht lesen, weigerte mich. Sie unterbrachen die Aufnahme, sagten, ich müsse, bedrohten mich. Ich gab leider nach. Schliesslich las ich den Namen. Jetzt bin ich wieder zuhause. Aber ich weiss, Abu Amr ist im Gefängnis, angeklagt, dass er zu einer Bande gehört und Geld aus Qatar genommen habe."
Die Briefschreiberin wollte von ihm wissen, wie seine Gefährten ihn nun aufnähmen. "Ich dachte, sie würden mich bestrafen. Doch sie gratulierten mir zu meiner Entlassung und feierten mich. Nur Abu Amr war nicht dabei..."
Flüchtlinge aus Homs
Joumana hört viel von den Flüchtlingen, manche aus Homs: "In unserem dreistöckigen Haus wurden neun Männer und Halbwüchsige geschlagen, gefangen genommen und abgeführt. Ich blieb allein mit meinen zwei kleinen Töchtern. Wir flohen in das benachbarte Viertel, weil wir nicht wussten was mit uns geschehen würde. Dorthin waren soviel Leute geflohen, dass die Frauen in den Hauseingängen schliefen, die Männer auf der Strasse.
Ich hielt es nur drei Tage lang aus. Gegen den Rat der anderen kehrte ich in unsere Wohnung zurück. Ich stand am Fenster, und meine kleine Tochter sagte zu mir: 'Geh weg vom Fenster, sonst erschiessen sie dich!' - Ich erklärte ihr, die Explosionen, die man hören konnte, kämen nicht von Gewehren, es seien Mörser und Artilleriegeschosse. ' Wenn uns solch eines trifft, kommt es nicht zum Fenster hinein, dann stürzt die Decke über uns ein'. Kaum gesagt, kracht es und das Haus hebt sich. Die Kleine schaut wie gebannt auf die Decke. Doch sie stürzte nicht ein. Das Nachbarhaus war getroffen. Es gelang uns daraufhin, bis nach Damaskus durchzukommen. Doch wir kannten niemanden. Wir verbrachten die ersten acht Tage und Nächte in einem Park. Schliesslich fanden wir eine Notunterkunft in diesem alten Haus. Leute aus dem Quartier haben uns hier ein Zimmer verschafft. Wir kochen alle im Innenhof. Von unseren Männern wissen wir nichts."
Die Verschwundenen
"Von meinem einen Sohn“, sagt eine alte Frau, „weiss ich, er wurde zum Märtyrer. Über ihn bin ich beruhigt. Doch ich weiss nichts von meinem anderen. Ist er tot oder lebt er noch? Das lässt mir keine Ruhe."
Im Alawitenquartier
In den alawitischen Vierteln von Homs geht das Leben ruhig weiter. Die Leute gehen zur Arbeit, die Kinder zur Schule, die Läden sind offen. Eine meiner Bekannten wohnte dort. Sie lebt allein und sorgt für drei kleine Kinder. Zur Arbeit fuhr sie jeden Morgen in einem Minibus der Fabrik. Doch der Bus wurde von einem Mörsergeschoss getroffen. Vielleicht war es ein Racheakt von Seiten der Widerstandskämpfer.
Alle Insassen waren tot, nur sie nicht. Sie war querschnittgelähmt und kam ins Spital. Sie hat einen Bruder, der aus dem Alawitenquartier ausgezogen war, nach Damaskus, weil er seine politische Meinung nicht mehr verstecken wollte. Er machte mit bei den Demonstrationen. Doch nun ist er nach Homs zurückgekehrt, um sich der drei Kinder anzunehmen. Er muss sich verstellen, aber er weiss nicht, ob ihn nicht doch jemand denunziert. Seine Schwester kämpft im Spital um ihr Leben.
Rühmliche Ausnahmen
Ein anderer Alawit aus dem Flecken Haffa bei Homs erzählt. Die Schabiha Milizen umstellten den überwiegend sunnitischen Flecken, nachdem die Armee die Männer fortgeschleppt hatte. Sie wollten die Frauen und Kinder nicht abziehen lassen. Er selbst und einige seiner Freunde hätten Wege gesucht, um sie an den Schabiha vorbei zu schmuggeln. Um dies tun zu können,habe er seine eigene Frau gebeten, von jetzt an bei ihren Eltern zu wohnen. Denn er sei nicht sicher gewesen, ob sie ihn und seine Helfer nicht denunzieren würde.
Er habe drei Frauen mit Kindern in ein leer stehendes Haus begleitet, wo sie die Nacht verbringen sollten, bis die Gelegenheit kam, sie hinauszubringen. Im Augenblick, als er einer der Frauen den Hausschlüssel übergab, habe sie ihn gefragt: "Bist du Alawite?": er sagte "Ja!". Da habe sie sich vor ihm auf die Erde geworfen und ihn angefleht, ihr nichts anzutun. Sie sei unschuldig. Sie habe geweint, und ihm seien auch die Tränen gekommen.
Jeder zieht in sein Viertel
Die Briefstellerin schildert wiederholt, wie der Graben zwischen den Religionsgemeinschaften wächst. Sie selbst ist gezwungen, ihre Wohnung an der Grenzlinie zwischen Sunniten und Alawiten aufzugeben. Sie wird zu gefährlich. All ihre Kollegen ziehen auseinander, die Alawiten zusammen, die Sunniten zusammen. Nur so können sie hoffen zu überleben. Dennoch kommt der Tag, an dem ihr eigener Mann verhaftet wird. Man wirft ihm vor, er habe Demonstranten in seinem Automobil in Sicherheit gebracht. Er verschwindet für acht Tage. Dann lässt man ihn frei.
Bomben, woher?
Bomben explodieren in Damaskus. Die Briefschreiberin hat den Eindruck, bei jeder Nachricht von neuen Bomben schauten die Freunde des Regimes einander befriedigt an. Als ob sie dächten, dies sei die Rache für das Verhalten der Demonstranten.Doch sie weiss nicht: "Ist das wirklich so, oder bilde ich es mir ein?".
Für die Toten von Houleh
Wie die Nachricht des Massakers von Houleh Damaskus erreicht, getragen von Mund zu Mund, mit Berichten über die Frauen und Kinder die in ihren Betten ermordet wurden, steht die Briefstellerin früh auf, um nach ihren schlafenden Kindern zu sehen. Sie legt sich dann wieder hin und hofft, die Nachricht sei unwahr. Doch später geht sie mit anderen Frauen auf einen der Hauptplätze im Inneren von Damaskus, um öffentlich für die Opfer von Houleh die Fatiha zu sprechen (das islamische Vaterunser, das zum Gebet und auch auch zu einem jeden Begräbnis gehört)
Die Polizei steht mit Knüppeln und Tränengas bereit. Kaum haben sie das Gebet beendet, geht sie auf die Demonstranten und Demonstrantinnen los. Die Frauen können einen jungen Mann, den die Polizei wegschleppen will, den Polizisten entreissen. Die Briefschreiberin erhält einen Schlag auf die Schultern, der sie noch lange Zeit schmerzen wird. Sie ziehen mit dem jungen Mann durch den Souk Hamidiye, den Hauptbasar von Damaskus, und er schreit den Händlern auf beiden Seiten der Basarstrasse zu: "Schämt Euch, Bürger von Syrien; es geht um Syrer, Euer eigenes Fleisch und Blut ! Ihr fürchtet für Eure Geschäfte? Ich spucke auf Euer Geld!" Am nächsten Tag sind die Geschäfte geschlossen. - Haben sie sich wirklich geschämt?
Die Händler von Salihiye
In Salihiye, einem Volksviertel am Rande das Qassioun Bergs, gibt es viele Demonstrationen. Die Händler helfen den Demonstranten, zum Beispiel indem sie den Polizisten sagen, die Leute, die in ihren Läden Zuflucht nehmen, wenn die Polizei die Demonstrationen versprengt, oft sind es Frauen, seien Kunden und Kundinnen. Doch wenige Tage darauf sind alle Gehsteige vor den Läden von Wanderhändlern besetzt, die dort billigen Ramsch anbieten. Es sind keine Wanderhändler sondern Schabiha Milizen. Sie tragen Waffen und Schläger in ihren Mänteln versteckt. Sie sind bereit, damit auf entstehende Demonstrationen loszuschlagen. Die Bewohner meiden die Hauptstrasse, und die Händler beklagen sich, dass niemand mehr ihre Läden betritt.
Neutralität ?
Maan gilt als ein hervorragender Lehrer in seinem technischen Fachgebiet. Er arbeitet in dem Regierungsviertel. Lange Zeit weigert er sich, für oder gegen die Regierung Stellung zu nehmen. Die Briefschreiberin hat mit ihm über seine Haltung gestritten. Doch wie der russische Aussenminister Lavrov Damaskus besucht, erhalten die Schüler und ihre Lehrer Befehl, mit Fähnchen an der Strasse zu stehen, um Lavrov willkommen zu heissen. Viele der Lehrer und Lehrerinnen gehen nicht hin. Am nächsten Tag verteilt der Schuldirektor weisse Blätter an Alle die, die fern blieben und fordert sie auf, den Grund niederzuschreiben, warum sie nicht gekommen sind. Maan schreibt, Familiengründe hätten ihn an der Anwesenheit gehindert. Doch wenn Lavorov abreise, verspreche er hinzugehn, um ihm gute Reise zu wünschen.
Von jenem Tag an beginnen seine Probleme. Er wird in eine andere Schule ausserhalb des Eliteviertels versetzt. Der Verantwortliche im Ministerium erklärt ihm, professionelle Gründe für seine Versetzung lägen nicht vor, es müssten daher Sicherheitsgründe sein. Für diese ist er natürlich nicht zuständig.
Maan beginnt in Daraya zu unterrichten, der grossen südlichen Vorstadt, die seither in Schutt gelegt worden ist und wo eines der grossen Massaker der männlichen Jugend stattfand. Er erfährt, was dort auf den Strassen passiert. Daraya war lange Zeit vor Damaskus schon eine Hochburg der Proteste. Die Privatschule, an der Maan dort unterrichtet, kann ihn nicht mehr bezahlen. Doch er fährt mit dem Unterricht fort und unterstützt gleichzeitig Familien, deren Männer im Gefängnis verschwunden sind. Über sein weiteres Schicksal nach der Wiederbesetzung der zerstörten Vorstadt durch die Armee weiss die Briefschreiberin nichts mehr.
Schlimmer von Tag zu Tag
So geht es fort, über gut hundert Seiten hin. Man weiss nicht ob noch weitere Briefe ankommen werden. Was man daraus ablesen kann ist, über die Schicksale der Einzelnen hinaus, dass die Gemeinschaften sich immer weiter trennen und einander immer tiefer misstrauen. Dass die Methoden der Regierung aber auch jene des Widerstands immer mehr aus reiner Gewaltanwendung bestehen. Dass die Zivilbevölkerung am meisten zu leiden hat, mehr noch als die Kämpfer, die für sich selbst stehen und von vornherein beschlossen haben, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Ihr Umfeld von Mitkämpfern trägt sie, möglicherweise bis in den Tod. Die nicht kämpfenden Zivilisten, in erster Linie die Frauen, müssen ihr ganzes Umfeld, Nachbarn, Kinder, Familien, Bekannte, Kollegen, Flüchtlinge, mitschleppen. Ihr Leben von Tag zu Tag spielt sich in diesem leidvollen Umfeld ab. Die Regierungstruppen und besonders die verhassten und allgegenwärtigen Schabiha Milizen sind dafür da, ihnen das tägliche Leben so unerträglich wie möglich zu machen.
Wie lange hält es die Bevölkerung aus?
Wenn es eine Schwachstelle im Widerstand gegenüber dem Regime gibt, liegt sie wahrscheinlich dort. Assad und seine Schergen versuchen mit allen Mitteln, die sie sich ausmalen können, den widerspenstigen Hauptmassen der syrischen Bevölkerung das Leben dermassen schwer zu machen, dass sie aufgeben und sich über kurz oder lange, ausgemergelt und gebrochenen Willens, ihrem Druck fügen.- Ob ihnen das das über Monate und vielleicht über Jahre hinweg doch noch gelingen kann?