Sprechen wir von der Natur, meinen wir in der Regel einen Zustand der Fülle und Vielfalt. Aber dazu gehört das Komplement: der Zustand der Leere und Einöde, der Wüste. Wüsten gab es vor dem Menschen, und es wird sie auch nach der planetarischen Dominanz des Menschen geben – diese Ära kommt ziemlich sicher.
Die Desertifikation der Erde
Der Geograf Alexander Erlewein schreibt über die Desertifikation unseres Planeten: «Die Schädigung von Boden ist eine globale Herausforderung; am stärksten betroffen sind Trockengebiete in Zentralasien sowie südlich der Sahara, aber zum Teil auch im Mittelmeerraum. Auf knapp einem Viertel der Landoberfläche der Erde hat in den vergangenen 25 Jahren – in unterschiedlichem Masse – Landverödung stattgefunden. Die Lebensgrundlage von mehr als 1,5 Milliarden Menschen ist dadurch gefährdet. Und die Lage verschärft sich weiter: Jährlich gehen rund zwölf Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche durch Erosion verloren – etwa ein Drittel der Fläche Deutschlands. Schätzungen gehen davon aus, dass über 70 Prozent aller Trockengebiete von Desertifikation betroffen sind.»[1]
«Wüst»: unordentlich und überordentlich
Wüste ist nicht einfach ein natürlicher Zustand. Wüste ist das, was wir verwüsten und als verwüstet hinterlassen. Also tendeziell alles. Man könnte Wüsten als Regionen bezeichnen, um die sich die instrumentelle Rationalität des Menschen nicht mehr kümmert: Industriebrachen, Mülldeponien, Schuttmassive, ruderales Gelände - nutzlos, verödet, vergiftet. Zivilisationswüsten. Man spricht auch von Wüstungen: von verlassenen, zerfallenen Ortschaften und Landstrichen. Wikipedia führt eine Liste von Wüstungen in der Schweiz.[2]
«Wüst» hat die Bedeutung des Unordentlichen. Wüst kann jedoch auch das Überordentliche sein. Verwüsten durch Vereinheitlichen, Normieren, Uniformisieren. Wüste als Gegenpol zu Vielfalt, in einem anderen als dem bereits angesprochenen Sinn. Betrachten wir den Wald. Ein komplexes ökologisches Gefüge aus Flora und Fauna. Im 18. Jahrhundert begann eine Forstwirtschaft des «Normalbaums» oder des Einartenwaldes. Um die Holznutzung zu optimieren, schlug man die Mischwälder kahl, und pflanzte an ihrer statt Standardgehölz, eine einzige Spezies in Reih und Glied, die sich leicht inspizieren und kontrollieren liess. Aber Schädlinge machten sich breit, Insekten, Pilzbefall, Schuppen, Trockenfäule. Der Wald als System aus lauter gleichen Bäumen wurde sehr viel sturmanfälliger. Die Verminderung der Baumdiversität, die «Mechanisierung» des Waldes führte zum Verschwinden anderer Arten, die das Ökosystem im Gleichgewicht hielten: Insekten, Vögel und Säugetiere, Flechten, Moose und Pilze. Die Waldvereinheitlicher schufen eine «grüne» Wüste.[3]
Oikumene und Eremos
Früher war die Erde grösstenteils wüst und leer. Die alten Griechen nannten die bewohnten Gebiete «Oikumene». Diese Gebiete waren geprägt von den Erzeugnissen des Menschen – der «techne» – und geregelt durch soziale Normen: «nomoi». Sie bildeten kleine Enkaven in der grossen unbewohnten Welt, im «eremos»: Wüsten, Meere, Berge, Urwald – wilde Orte, wo Eremiten Zuflucht suchten, generell Menschen, die die Naturgewalt der Ordnungsgewalt der Oikumene vorzogen. Das waren auch Banditen, Fahnenflüchtige, Verstossene.
Man spricht heute von der planetarischen Dominanz des Menschen, dem Zeitalter des Anthropozäns. Die Oikumene expandiert und verdrängt den Eremos. Das Wilde wird gezähmt, zivilisiert. Aber die Pandemie hat uns eines Besseren belehrt. Mit der Abschaffung der Grenze zum Wilden schaffen wir die besten Bedingungen für die Viren in der Wildnis, nun die zivilisierten Habitate zu erobern. Vielleicht ist das die Rache der Wüste. Die Griechen sprachen vom Eisernen Zeitalter. In ihm würde der Mensch so verkommen, dass sich die Götter von ihm abwenden, ausser Nemesis, die Göttin der Rache.
Eine «desertierende» Mentalität gegenüber der Erde
Man könnte auch von der Rache einer bestimmten Geisteshaltung sprechen. Wir meinen, unsere Intelligenz sei einzigartig und «entlasse» uns aus der Evolution. Wüste ist nicht nur ein geologisch-geografischer Zustand der Erde. Die Etymologie, die das Verlassen der militärischen Pflicht – die Desertion – mit der Wüste verknüpft, sagt in dieser Hinsicht einiges. Wüste ist eine «desertierende» Mentalität. Wir entsagen der «planetarischen Pflicht», die anderen Erdlinge zu schätzen und uns um sie zu kümmern.
Und wir sorgen gerade dadurch nicht nur für die Ausbreitung der materiellen Wüsten. Wir verwüsten uns selbst. Wer anders als Nietzsche sprach es mit unnachahmlicher lyrischer Wucht aus:
«Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!
Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt.
Der ungeheure Tod blickt glühend braun
und kaut –, sein Leben ist sein Kaun» …
Die Seinswüste
Die Wüste wächst im Kopf: ein lebensverneinder, an uns «kauender» Nihilismus, der sich als Fortschrittsglaube ausgibt. Im 20. Jahrhundert begründete Martin Heidegger seine Technikkritik mit dieser Diagnose. Und er tischt sie als Fundamentalthese auf: Die Verwüstung des Planeten ist eine Rache des Seins. So liest man in den «Feldweg-Gesprächen»[4]: «Verwüstung (ist) keineswegs eine Folge der Weltkriege, sondern die Weltkriege sind schon und nur die Folge der Verwüstung, die seit Jahrhunderten die Erde angeht» (3. Dialog, 211). Sie ist angelegt im technisch-wissenschaftlichen «Angriff auf die Natur». Er hat «in dieser eine geheimnisvolle Gegenwehr ausgelöst, die auf die Vernichtung des Menschenwesens abzielt» (1. Dialog, 33). «Das Bösartige, als welches die Verwüstung sich ereignet, möchte wohl ein Grundzug des Seins selbst bleiben» (3. Dialog, 215).
Der zweite Weltkrieg hatte eine verwüstete Welt zurückgelassen. Geistigen Zunder fand er in einer der wüstesten Ideologien des 20. Jahrhunderts. Das sieht Heidegger radikal anders. Seine verrenkte Argumentation kehrt Ursache und Folge perfid um. Nicht die Nazis sind am Weltkrieg schuld. Das bösartige Sein wollte es so. «Das Sein eines Zeitalters der Verwüstung bestünde dann gerade in der Seinsverlassenheit» (3. Dialog, 213). Ein Schulbeispiel dafür, wie alle guten Geister einen Philosophen verlassen können.
Die Wüste als kolonialistische Metapher
Die Metapher der Wüste spielt eine düstere und unrühmliche Rolle in der kolonialen Geschichte. Das Gebiet, in dem Indigene wohnen, wurde oft als «Wüste» bezeichnet und damit freigegeben zur zivilisierenden Eroberung. Und das bedeutete, dass man die Urbevölkerung der Wüste – die «Wilden» - verjagte, einhegte oder ausrottete. US-Präsident Theodore Roosevelt, überzeugt von der Überlegenheit der weissen Rasse, rechtfertigte dieses Vorgehen so: Siedler und Pioniere hätten das Recht auf ihrer Seite; denn dieser grossartige Kontinent wäre sonst ein «Jagdrevier von verkommenen Wilden» geblieben – also eigentlich eine Wüste.
Der junge Staat Argentinien führte um 1880 einen «Wüstenfeldzug» gegen die Ureinwohner von Patagonien durch. Der Kommandierende dieser Aktion, General Julio Argentino Roca, äusserte sich dazu: «Wir befinden uns als Nation verstrickt in einen Rassenstreit, in dem der Eingeborene den im Namen der Zivilisation geschriebenen fürchterlichen Fluch seines Verschwindens auf sich trägt. Zerstören wir also guten Gewissens diese Rasse, vernichten wir ihre Ressourcen und politische Organisation, damit ihre Stammesordnung verschwinde und nötigenfalls ihre Familien aufgelöst werden. Diese bankrotte und verstreute Rasse wird sich schliesslich der Sache der Zivilisation anschliessen.» Genozid als zivilisationsstiftender Akt, sagen heute nicht wenige.
Die Wüste grünt
Wüsten sind keineswegs von allen Lebensformen verlassene Regionen. Die Sonora-Wüste ist eines der vielfältigsten Ökosysteme des Planeten. Im Übrigen tragen Wüsten wie die Sahara viel zum globalen Ökogleichgewicht bei. Der Sand enthält Eisen, Phosphor und andere nährende Substanzen. Die vorherrschenden Winde wehen sie über den Atlantik ins Amazonasgebiet, wo sie den Regenwald erhalten helfen, einen wichtigen Kohlenstofffresser – bis 5 Milliarden Tonnen pro Jahr. Dadurch wirkt sich der Sandtransport Sahara-Amazonas als indirekter abkühlender Effekt aus. Nun beginnt allerdings die Sahara wieder zu grünen. Durch diese Störung des Transports wird also das Szenario durchaus wahrscheinlicher, dass die Düngemittelzufuhr zum Amazonas sich vermindert und der Regenwald allmählich als Kohlendioxidsenke dahinwelkt. Man spricht bereits von einem Kipp-Punkt, wo dieses ökologische Gleichgewicht irreduzibel aus dem Gleichgewicht gebracht würde. [5]
Wie gesagt, es handelt sich um ein Szenario. Szenarien zeigen uns das Mögliche. Und wie Dürrenmatt sagte: Das Mögliche ist das Ungeheure. Die Atmosphäre wird wärmer, die Wüste grünt. Weh uns …
[1] https://www.geo.de/magazine/geo-kompakt/17962-rtkl-desertifikation-warum-die-verwuestung-weltweit-zunimmt
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%BCstung
[3] Siehe dazu etwa James. C. Scott: Seeing Like a State. Yale University Press, 2020, Kapitel 1.
[4] http://www.thlz.com/artikel/1360/
[5] https://medium.com/predict/scientists-discover-a-climate-tipping-point-could-be-far-worse-than-we-thought-da769d9fab25